Frau Dr. Schorscher, wie entstand die Idee, am Universitätsklinikum Würzburg eine eigene Lösung für telemedizinische Visiten in der Intensivmedizin zu entwickeln?
Wir hatten im Verlauf der Coronavirus-Pandemie sehr viele Fälle, für die wir nur am Telefon mit dem behandelnden Team vor Ort besprechen konnten, ob bestimmte Patienten eine Maximalversorgung bei uns brauchen oder auch im wohnortnahen Krankenhaus sehr gut versorgt werden können. Eine telemedizinische Lösung hätte uns dabei sehr geholfen. Dieses Thema hatten wir auch vor der Pandemie diskutiert und sogar schon Fördergelder beantragt. Aber alle Systeme, die dazu vorgestellt wurden, haben aus unserer Sicht Nachteile. Sie brauchen spezielle Ausrüstung an jedem einzelnen Patientenbett, sind komplex oder schlicht zu teuer. Angesichts der angespannten Lage in der Pandemie haben wir dann im November 2021 entschieden, dass wir es mit einer eigenen Lösung versuchen.
Welche Ziele wollten Sie damit erreichen?
Wir wollten ein System, das in jedem peripheren Krankenhaus einsetzbar ist – unabhängig davon, wie weit die Digitalisierung dort vorangeschritten ist. Es sollte einfach zu bedienen sein, robust und kostengünstig. Uns war auch klar, dass es ein mobiles System sein muss, das an jedem Bett verwendet werden kann, an dem es gerade gebraucht wird. Und wir mussten dafür sorgen, die Vorgaben des Datenschutzes einzuhalten. Das haben wir mit unseren Fachleuten aus dem Servicezentrum Medizininformatik diskutiert – und diese kamen zu dem Schluss, dass wir das selbst umsetzen und, unabhängig von Herstellern, die Komponenten selbst auswählen und kombinieren können.
In zehn Jahren muss eine Klinik voll digitalisiert, zum Smart Hospital geworden sein
Welche Möglichkeiten bietet Ihnen der Teleintensivwagen heute?
Wir haben bisher einen Prototypen entwickelt, ihn zusammen mit dem ersten peripheren Krankenhaus getestet und gleich einige Dinge verbessert. Die aktuelle Version umfasst nun einen Wagen mit Bildschirm, mehreren Kameras, Mikrofon, einem Headset und einer Augmented-Reality-Brille. Wenn Intensivmediziner in einem Krankenhaus einen Fall mit den Kollegen hier im Universitätsklinikum Würzburg diskutieren möchten, steht der Wagen am Bett des Patienten. Die gemeinsame Visite ist dann im Prinzip ein Video-Call über Zoom. Wir sehen den Patienten, wir sehen die behandelnden Mediziner und können miteinander sprechen. Alle Daten zum Patienten können wir einsehen, indem die Ärzte vor Ort zum Beispiel Bilddaten auf einem Laptop anzeigen und diesen Bildschirminhalt teilen. Die Daten verlassen also nicht das Krankenhaus, in dem der Patient behandelt wird.
Nutzen Sie dafür spezielle Software?
Nein, alles läuft über die noch relativ neue Funktion Zoom on premise, die unser Partner Zoom Deutschland zur Verfügung stellt. Und für die garantiert ist, dass alle Daten in Würzburg gehostet werden.
Wozu sind Headset und AR-Brille am Visitewagen erforderlich?
Die AR-Brille nutzen wir, damit der Wagen nicht in ein Patientenzimmer gebracht werden muss, wenn dort eine hochinfektiöse Erkrankung diskutiert werden soll. Das Headset war eine der Erweiterungen, die wir nach ersten Praxistests ergänzt haben – um die Visite auch bei eventuellen Nebengeräuschen ungestört durchzuführen.
Sie haben ausschließlich handelsübliche Elemente verwendet. Warum?
Wir wollen unabhängig bleiben, selbst entscheiden, welche Kamera oder welcher Laptop unseren Anforderungen am besten entspricht. Wenn Lieferengpässe auftreten oder sich der Markt verändert, können wir zu einem anderen, besseren oder günstigeren System wechseln oder etwas austauschen.
Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen Ergebnis und was planen Sie?
Wir wollten, in Abstimmung mit allen Universitätskliniken in Bayern, das Konzept umsetzen und zeigen, dass es so funktioniert. Dieses Ziel haben wir erreicht und sind mit den Resultaten sehr zufrieden. Derzeit nutzen wir den Teleintensivwagen mit insgesamt drei peripheren Krankenhäusern, mit denen wir zusammenarbeiten. Dabei werden sich sicherlich weitere Veränderungen oder Erweiterungen ergeben. Unsere Lösung haben die anderen Unikliniken sehr positiv aufgenommen – der nächste Plan wäre, unsere Wägen bayernweit in einer Testphase zur Verfügung zu stellen.
Mussten Sie zugunsten des einfachen und robusten Systems bei Ihren Anforderungen auf etwas verzichten?
Der einzige Punkt, bei dem wir an Grenzen kamen, war die Akkuleistung. Für Krankenhäuser, die noch nicht mit digitalisierten Patientenakten arbeiten, brauchten wir einen Dokumentenscanner am Wagen. Zusätzlich dazu können wir höchstens drei Kameras am Wagen einsetzen, auch wenn eine vierte vielleicht wünschenswert gewesen wäre.
Was würden Sie an dem bei Ihnen entwickelten System gern noch ausbauen?
Wenn wir den Teleintensivwagen in ganz Bayern nutzen wollen, brauchen wir eine Plattform, auf der wir Patientendaten sicher speichern können. Die Ergebnisse jeder gemeinsamen Visite müssen ja bei uns dokumentiert und auch an die peripheren Krankenhäuser sicher weitergegeben werden können. An einer entsprechenden Lösung arbeiten wir schon. Ein weiterer Punkt ist die Anmeldung. Bisher finden die telemedizinischen Visiten zu vereinbarten Terminen statt. Langfristig sollte der Rat von Experten natürlich auch im Notfall verfügbar sein – das ist für die Arbeit auf der Intensivstation wichtig.
Welche Möglichkeiten würde ein Einsatz der Lösung in Bayern bringen?
Wenn wir das Projekt erfolgreich fortsetzen, wäre es denkbar, dass dann alle Universitätskliniken darüber mit anderen Krankenhäusern kommunizieren können. Der Gedanke lässt sich sogar dahin weiterentwickeln, dass ein bayernweites Netzwerk entsteht, in dem zu jeder Zeit ein Facharzt für eine telemedizinische Visite ansprechbar ist. In welchem Uniklinikum dieser sitzt, wäre dann unerheblich, so dass wir den Dienst rotierend organisieren könnten. Bis dahin ist aber noch einiges zu tun, und wir bräuchten dafür eine gemeinsame Plattform.
Ist ein Einsatz auch in anderen Bundesländern denkbar?
Für Anfragen dieser Art sind wir auf jeden Fall offen.
Ist geplant, auch Medizingeräte an Ihre Lösung anzubinden?
Nein. Wir wollen das System so einfach wie möglich halten, so wenige Schnittstellen wie möglich einsetzen. Daten aus den Medizingeräten müssen daher nur bis ins Krankenhausinformationssystem oder in die elektronische Patientenakte der Einrichtung gelangen, in der der Patient behandelt wird. Dann können wir damit arbeiten. Da es so viele unterschiedliche IT-Lösungen gibt, wäre eine direkte Anbindung zu komplex und würde auch neue Fragen zum Datenschutz aufwerfen, da dann Daten das Krankenhaus verlassen würden.
Entspricht Ihr System den Telemedizin-Vorgaben des G-BA?
Laut G-BA kann eine Zertifizierung als Teleintensivmedizinzentrum nur bei gleichzeitiger Anerkennung als Herz- oder Lungenzentrum erfolgen. So ein Zentrum gibt es in Würzburg nicht. Wir sind aber der Meinung, dass gute Telemedizin in vielen Kliniken funktionieren kann, auch wenn diese nicht Herz-Lungenzentrum sind. Um Telemedizin zu finanzieren, ist die G-BA-Zertifizierung aber erforderlich. Es gibt daher eine politische Diskussion darüber, ob die Vorgaben angepasst werden können, um die Telemedizin auszubauen.
Würden Sie es empfehlen, technische Lösungen in der Klinik zu entwickeln?
Rückblickend kann ich nur sagen, dass es für uns sehr gut funktioniert und Spaß gemacht hat. Das wird auch an den beteiligten Personen liegen: Die Jungs in unserer IT sind wirklich gut, das muss ich sagen, und daher würde ich so ein Projekt auf jeden Fall nochmal angehen.
(Bild: Yurii Maslak/stock.adobe.com)
Über Teleintensivmedizin
Über das, was Telemedizin für die Intensivmedizin bieten kann, wird seit einigen Jahren geforscht. Abgesehen von den hier genannten Beispielen gibt es weitere Aktivitäten in den Bundesländern und an Universitätskliniken.
- Die S1 Leitlinie der DGAI (001–034) „Telemedizin in der Intensivmedizin“ fasst die Möglichkeiten und Voraussetzungen zusammen, die für den Einsatz der IT- und Telekommunikation in diesem Bereich erforderlich sind. Sie wurde im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DG Telemed) 2015 erstellt und 2020 überarbeitet.
http://hier.pro/JO1Dp
- Wie sich Telemedizin in der Intensivmedizin anwenden lässt, sollte auch das sektorenübergreifende, digitale Gesundheitsnetzwerk Telnet@NRW zeigen. Unter Leitung der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Universitätsklinikums Aachen standen dort wie auch an den Universitätskliniken Aachen und Münster Teams aus Fachärzten und Oberärzten sowie Intensivpflegekräften kontinuierlich bereit, um bei Fragen aus anderen Krankenhäusern zu unterstützen. Das Projekt wurde im Rahmen des Innovationsfonds durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) von Januar 2017 bis März 2020 gefördert.
www.telnet.nrw
- Der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA hat im März 2022 beschlossen, dass das in bestimmten Zentren vorhandene Expertenwissen mit den Mitteln der Telemedizin auch anderen Krankenhäusern bei der Behandlung zur Verfügung stehen soll. Der Beschluss geht auf positive Erfahrungen zurück, die mit diesem Vorgehen während der Pandemie gemacht wurden, bezieht sich aber auch auf die Ergebnisse aus Telnet@NRW. Mit dem Beschluss sind Mindeststandards definiert worden, die Zentren generell bei telemedizinischen Leistungen erfüllen müssen.
http://hier.pro/I6VwC
- In Baden-Württemberg entstand in einem 2020 ausgelaufenen Projekt die Teleintensivmedizin-Plattform Baden-Württemberg (TIP-BW). Sie soll ein standortübergreifendes und damit wohnortnahes Angebot intensivmedizinischer Kompetenzen ermöglichen. Mehr dazu im Video:
http://hier.pro/iqAJq
- Das teleintensivmedizinische Netzwerk in Mecklenburg-Vorpommern (Twin-Move) entsteht in einem Projekt, das das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit MV, über den Zeitraum von drei Jahren fördert. Die Projektgruppe der Universitätsmedizin Rostock führt in Kooperation mit Partnerkrankenhäusern teleintensivmedizinsche Visiten durch.
www.teleintensivmedizin-mv.de