Die Hand auf der Schulter, ein Streicheln am Arm, eine Umarmung: Solche Berührungen beruhigen, trösten, vermitteln Sicherheit, Geborgenheit und Nähe. Geben die Nervenzellen der Haut solche Reize weiter, werden blitzschnell viele Hirnbereiche aktiv und fachen die körpereigene Biochemie an. Hormone und andere Botenstoffe werden ausgeschüttet, darunter Oxytocin, das Wohlgefühl und Bindung entstehen lässt. Aber was, wenn solche Nähe wichtig ist, aber die Kinder schwer krank sind und die Eltern nicht zu ihnen können? Wenn zum Beispiel Körperkontakt aufgrund eines geschwächten Immunsystems nicht sein darf?
Damit Kinder in Isolierstationen die Körpernähe ihrer Eltern bei virtuellen Besuchen spüren können, arbeiten nun Forschende verschiedener Universitäten über Fachgrenzen hinweg zusammen. Sie kommen von der Universität des Saarlandes, der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW Saar), vom Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) und vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). An der Schnittstelle von Ingenieurwissenschaft, Neurotechnologie, Medizin und Informatik entwickeln sie im Projekt Multi-Immerse eine virtuelle Begegnung, die alle Sinne ansprechen soll. Der Begriff Immerse steht dabei für das Eintauchen, für eine intensive Sinneswahrnehmung.
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Folie als Schnittstelle zur virtuellen Welt
Für das Fühlen und die taktile Wahrnehmung zuständig ist dabei die Forschungsgruppe der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zema. Sie sind Spezialisten darin, Oberflächen mithilfe leichter Silikonfolien neuartige Fähigkeiten zu verleihen.
Die Ingenieure machen gerade einmal 50 µm dünne Folien zu einer zweiten Haut. So wie die Haut Schnittstelle des menschlichen Körpers zu seiner realen Außenwelt ist, so soll die Folie eine Schnittstelle zur virtuellen Welt werden. Damit soll eine neue Körperwahrnehmung in der fiktiven Realität entstehen.
In einem Textil eingearbeitet, könnten die Folien Berührungen auf die Haut des Kindes übertragen. Berührungen, die entstehen, wenn Mutter oder Vater andernorts über ein zweites smartes Textil streichen. „Wir nutzen dabei die Folien, so genannte dielektrische Elastomere, als Sensoren, um die Berührungsbewegungen zu erfassen. Zugleich nutzen wir sie auch als Aktoren, also Antriebe, um diese Bewegungen weiterzugeben“, erklärt Stefan Seelecke, Professor für intelligente Materialsysteme. Die Folie erkennt als Sensor, wie Hand und Finger beim Darüberstreichen die Folie eindrücken, eindellen und dehnen. Exakt diese Deformation, die durch die Berührungsbewegungen entsteht, imitiert die Folie in einem zweiten Textil auf der Haut des Kindes, um so etwa auf dem Arm den Eindruck eines Darüberstreichens zu vermitteln.
Folie ist eigener dehnbarer Sensor
Bei jeder kleinsten Bewegung ändert sich die elektrische Kapazität der Folie: eine physikalische Größe, die gemessen werden kann. Streicht also ein Finger über die Folie, verformt er diese. Jeder einzelnen Stellung lässt sich ein exakter Messwert der elektrischen Kapazität zuordnen: Eine bestimmte Zahl beschreibt eine ganz bestimmte Stellung der Folie. Eine Abfolge dieser einzelnen Messwerte setzt einen Bewegungsablauf in Gang. Die Folie ist damit ihr eigener dehnbarer Sensor, der selbst erkennt, wie sie verformt wird.
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„Die Ober- und Unterseite der Folie sind mit einer leitfähigen, hochdehnbaren Elektrodenschicht bedruckt. Wenn wir hieran eine elektrische Spannung anlegen, ziehen sich die Elektroden durch die elektrostatische Anziehung an und stauchen die Folie, die zur Seite ausweicht und dabei ihre Fläche vergrößert“, erklärt Prof. Paul Motzki die Technologie. Motzki hat die Brückenprofessur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion zwischen der Universität des Saarlandes und dem Zema inne.
Folie lässt sich gezielt ansteuern
Die Folie können die Forscher auch gezielt ansteuern. Durch intelligente Algorithmen lassen sich in einer Regelungseinheit Bewegungsabläufe vorausberechnen und programmieren. „Wir können die Folie stufenlos Hubbewegungen vollführen lassen, so dass es sich wie ansteigender Druck anfühlt, oder auch eine bestimmte Position halten“, erklärt Doktorandin Sipontina Croce, die im Projekt forscht. Aber auch Klopfbewegungen sind möglich. Frequenz und Schwingungen können die Forscher beliebig verändern.
Günstiges und energieeffizientes Verfahren
Das Verfahren sei günstig, leicht, geräuschlos und energieeffizient, heißt es. Die Folientechnologie kann auch bei Computerspielen das Spielerlebnis durch eine realistische Körperwahrnehmung intensiver machen. In anderen Projekten kleiden die Ingenieure mit ihren Folien Arbeitshandschuhe für die Industrie 4.0 aus oder lassen den Eindruck von Knopfkanten entstehen. Dadurch spüren die Probanden aus dem Nichts heraus Tasten oder Schieberegler, was wiederum Bedienoberflächen nutzerfreundlicher macht.
Das Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki von der Universität des Saarlandes stellt die Technologie hinter den smarten Textilien vom 22. bis 26. April auf der Hannover Messe vor, in Halle 2, an Stand B10.
Kontakt:
Universität des Saarlandes
Professor Stefan Seelecke
Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme
E-Mail: stefan.seelecke@imsl.uni-saarland.de
Professor Paul Motzki
Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion
E-Mail: paul.motzki@uni-saarland.de
https://zema.de/projekt/immersive-mixed-reality/