Wer denkt, dass Nähen ein etwas antiquiertes Handwerk ist, der hat die neue Produktionsstätte von Artivion in Hechingen noch nicht gesehen. Die 2022 in Betrieb genommene Unternehmenserweiterung strahlt auf fast 6000 m2 Modernität aus. Herzstück der Produktion ist eine 1500 m2 große Reinraumanlage. Dort werden Stentprothesen für die minimal-invasive Gefäßchirurgie in einer Mischung aus Hightech und traditioneller Handwerkskunst produziert. Die Implantate bestehen aus Textilschläuchen, auf die aussteifende Drähte genäht werden – und zwar von Hand. Die Stentprothesen werden später minimal-invasiv in die Aorten von Patienten eingesetzt, die unter Aneurysmen leiden. Passgenau implantiert verhindern sie eine lebensgefährliche Ruptur der Arterien. Am Standort in Hechingen können nun bis zu 190 Näherinnen im Schichtbetrieb diese Implantate nach einem auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Prothesenplan herstellen.
Florian Tyrs, einer der beiden Geschäftsführer in Hechingen, war schon bei der Entwicklung dieser besonderen Implantate dabei: „Wir stellen seit zehn Jahren diese patientenspezifischen Lösungen her, die von Hand genäht werden. Das schafft noch keine Maschine. Natürlich ist das mit enormem Personalaufwand verbunden, aber dadurch können wir ein hochfunktionales Produkt liefern, das in der Gefäßchirurgie ohne Anpassungen und Komplikationen eingesetzt werden kann. Das ist wirklich einzigartig auf dem Markt.“ Um eine Verunreinigung der Produkte und eine damit verbundene Gefährdung der Patienten völlig auszuschließen, produziert und verpackt Artivion die Implantate unter Reinraumbedingungen.
Stent-Produktion unter Reinraumbedingungen
Der neue Reinraum ist das wichtigste Element der Produktion und im wörtlich doppelten Sinn eine Herzensangelegenheit für den jungen Geschäftsführer: „Wir sind in unserer alten Produktionsstätte völlig an unsere Kapazitätsgrenzen gestoßen und wollten mit dem Neubau unseren Standort stärken und unsere Expertise in der Medizintechnik weiterführen und ausbauen. Da haben wir wirklich groß gedacht und in die Zukunft geplant.“
Bei der neuen Reinraumanlage legt Artivion großen Wert auf funktionale Abläufe und neueste Technik. Für die Planung und Installation der gesamten Reinraumtechnik wurde die ebenfalls in Baden-Württemberg ansässige Schilling Engineering GmbH beauftragt, die darauf spezialisiert ist, Reinräume genau nach den Anforderungen der Prozesse und Begebenheiten zu liefern. Für den Mittelständler ist der Auftrag von Artivion der bisher größte Auftrag ihrer Geschichte.
Freitragende Konstruktion mit begehbarer Decke
Ute Schilling, Geschäftsführerin des Familienunternehmens, erinnert sich: „Der Auftrag von Artivion war etwas ganz besonderes. Das Layout wurde nach dem Produkt- und Prozessfluss von Artivion optimiert und vorgegeben. Somit hat sich der Reinraum an den Anforderungen und Abhängigkeiten der 22 Räume mit den örtlichen Voraussetzungen ausgerichtet.“ Die Produktionsfläche sollte komplett erhalten werden und gleichzeitig durfte an der Gebäudestruktur der Halle keine Veränderung vorgenommen werden.
In einem Engineering wurde die technische Umsetzung geprüft, die Klimatechnik ausgelegt sowie der Einbauplatz der Technik mit Wartungszugänglichkeit geplant. So entstand eine begehbare Technikebene oberhalb der Schleusen, die ohne Stahlbau auskommt und die Produktionsflächen versorgt. Die Reinraumanlage ist komplett freitragend konstruiert. Die 22 Räume sind in zwölf Arbeitsbereiche, zwei Büros, Personal- und Materialschleusen und je einen Technik- und Reinigungsraum aufgeteilt. Der gesamte Bereich ist auf die Reinraumklasse ISO 8 ausgelegt. 126 Filter-Fan-Units reinigen die Luft in einem Umluftverfahren, um schädliche Partikel von den sensiblen Prozessen fernhalten.
Einschleusung in den Reinraum ohne Wartezeiten
Eine besondere planerische Herausforderung stellte die Einschleusung der Mitarbeitenden dar: Mehr als 250 Personen sind in Schichten für die verschiedenen Arbeiten innerhalb des Reinraums angestellt. Das Personal soll sich ohne Wartezeiten, in einem Zeitfenster von nur 20 Minuten, an seinen Arbeitsplatz einfinden. Die finale Lösung enthält drei große Personalschleusen. Diese führen auf einen gemeinsamen Zwischenflur, der zwischen den Personalschleusen und den Arbeitsbereichen liegt. Über 16 Rolltore und zwölf Schiebetüren erfolgt der sichere Zutritt über berührungslose Winkschalter in die einzelnen Bereiche.
Neben den funktionalen Abläufen wurde auch auf eine gute Arbeitsatmosphäre innerhalb der Reinräume geachtet, wie Tyrs erläutert. „Die Produktion unserer Stentgrafts und der dazugehörigen minimal-invasiven Einführsysteme verlangen einzelne Arbeitsschritte, die miteinander koordiniert werden müssen. Deswegen haben wir verschiedene Räume in der Reinraumanlage geplant. Dort arbeiten einzelne Teams. Die Räume sind hell und laufen leise und mit wenig fühlbaren Luftzug. Die Arbeitsbedingungen haben sich im Vergleich zu unserem alten Reinraum deutlich verbessert.“
Der eigentliche Zweck einer Reinraumanlage ist aber natürlich die Sicherheit des Endproduktes. Die gesamte Luft wird 20-mal pro Stunde in den Reinräumen ausgetauscht und die störenden Partikel mit einer laminaren Strömung aus dem Raum transportiert. Eine Einhaltung der Reinraumklassifizierung wird damit zu jeder Zeit gewährleistet. Zudem ermöglicht es das zertifizierte Verfahren, das für die Herstellung von medizintechnischen Produkten erforderlich ist.
Reinheit und Klimatisierung im Reinraum kontrollieren
Neben der Reinheit muss auch die Klimatisierung mit Temperatur- und Feuchteregelung gewährleistet werden. Der größte Teil der Reinräume, in denen bis zu 95 Nähplätze untergebracht werden können, wird mit einer Temperatur von 21 °C und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 55 % betrieben. Daneben erfordert ein spezieller Arbeitsbereich „Beschichtung“ eine besonders hohe Entfeuchtung, da die dort eingesetzte Beschichtungslösung auf Feuchtigkeit reagiert. Dieser Bereich wird mit einer relativen Luftfeuchtigkeit von maximal 35 % mit einem eigenen Lüftungsgerät betrieben. In einem weiteren Arbeitsbereich werden die fertiggestellten Implantate in minimal-invasive Einweg-Einführsysteme geladen. Um die Funktion zu gewährleisten, müssen diese mechanischen Teile im Reinraum geölt und doppelt steril verpackt werden. Für diese Anforderungen lieferte Schilling Engineering spezielle Abzugshauben und auf die Größe der Instrumente zugeschnittene Materialschleusen.
Zeitgerechte Lieferung der Bauteile in fünf Etappen
Ute Schilling beschreibt die Anforderungen, die ihr Team bei der Planung der Reinraumanlage hatte, als sehr komplex. „Zeitweise haben zehn unserer Ingenieure gleichzeitig an dem Projekt gearbeitet, um die Anforderungen in die Detailkonstruktion umzusetzen und den sportlichen Zeitplan von zehn Monaten zwischen Bestellung und Qualifizierung einzuhalten.“ Lieferung und Aufbau wurde von der Reinraumfirma in fünf Etappen geplant. So konnte Schilling Engineering während der Installation einer Etappe die Bauteile für die nächste Etappe als fertige Bausätze vorproduzieren.
Die gesamte Reinraumanlage ist nach GMP-Vorgaben qualifiziert, mit einer Fernwartung sowie einem Monitoring von Briem ausgestattet. Der Reinraum zur Produktion der Produkte wurde anschließend von der Dekra auditiert freigegeben. Geschäftsführerin Schilling resümiert: „Wir sind sehr stolz, dass wir das Projekt mit der Qualifizierung im gewünschten Zeitrahmen umsetzen konnten. Trotz erschwerter Bedingungen der pandemischen Situation mit Lieferengpässen und Personalausfällen.“
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