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PFAS: Ansätze für eine Substitution in der Medizintechnik

Mögliches PFAS-Verbot in der EU
Medizintechnik ohne PFAS: Suche nach sinnvollem Ersatz

Ein mögliches Verbot der fluorhaltigen PFAS ist aktuell in der Diskussion. Manche Unternehmen aus der Medizintechnik-Branche haben sich bereits auf die Suche nach Alternativen begeben, erste Lösungsansätze sind erkennbar. Forschungsbedarf ist aber vorhanden – auch wenn Fachleute damit rechnen, dass unverzichtbare PFAS in Medizinprodukten weiter im Einsatz bleiben.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Ohne PFAS? Das geht gar nicht. Das ist zwar flapsig formuliert, aber so etwa lautet der Tenor zahlreicher Stellungnahmen und Positionspapiere aus Unternehmen und Verbänden. Diese haben sich bis zum Herbst 2023 zu einem möglichen generellen Verbot der rund 10 000 Chemikalien geäußert, die zu den per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen, den PFAS, gerechnet werden. Ob Maschinenbau, Medizintechnik, Gesundheitswesen – die sehr widerstandsfähigen Polymere betrachten viele als unverzichtbar.

Inhaltsverzeichnis
PFAS-Emissionen vermeiden – verzichten, wo immer es geht
PFAS: Vermutlich oft unverzichtbar für die Medizintechnik
Vier im Detail bewertete PFAS – alle sind bedenklich
Schon jetzt mit Medizintechnik-Zulieferern zu PFAS Kontakt knüpfen
Seit zehn Jahren Projekte zur PFAS-Substition in der Medizin
Siliziumorganische Schichten als Ersatz für PFAS werden weiter optimiert
Plaslon statt PFAS: sterilisierbar mit verschiedenen Methoden
Verbundprojekt: Wo wird PFAS-Ersatz gebraucht
Verfügbarkeit von PFAS nimmt schon jetzt ab
Jetzt Emissionen reduzieren, in Zukunft vielleicht recyceln
Festschmierstoffe plus PEEK als eine Alternative zu PFAS
Weitere Informationen und Ansprechpartner
Über PFAS und das mögliche Verbot

PFAS-Verbot bedroht die Hightech-Industrien

Mögliches Verbot von PFAS in der EU

Über das mögliche Verbot wird daher seit etwa einem Jahr lebhaft diskutiert. Denn die auch als „Ewigkeitschemikalien“ bezeichneten Verbindungen gelten als potenziell gefährlich, sammeln sich in der Umwelt an und sind in menschlichen Proben nachweisbar. „Ich bin als Toxikologe wirklich sehr besorgt darüber, wie wir bisher mit diesen bedenklichen Stoffen umgehen“, sagt Apl. Prof. Hubertus Brunn, der an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) Lebensmittel- und Umwelttoxikologie lehrt und lange Zeit als Direktor des Hessischen Landeslabors in Gießen tätig war. Er bezeichnet sich selbst ausdrücklich als nicht industriefeindlich, sieht die Industrie aber in der Verantwortung für die menschliche Gesundheit und eine intakte Umwelt. Über das Thema PFAS wünscht er sich eine sachliche und konstruktive Diskussion.

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Apl. Prof. Hubertus Brunn sorgt sich um den Umgang mit fluorhaltigen Substanzen. Er ist Chemiker und lehrt an der Gießener Universität Lebensmittel- und Umwelttoxikologie. Gemeinsam mit weiteren Autoren hat er Anfang 2023 ein Review zu PFAS verfasst
(Bild: Universität Gießen)

PFAS-Emissionen vermeiden – verzichten, wo immer es geht

Entscheidend ist aus seiner Sicht das Vermeiden von Emissionen insbesondere bei der Herstellung und der Entsorgung von Fluorpolymeren, wie sie auch in vielen Medizinprodukten verwendet werden. Veränderungen seien daher unumgänglich, auch der Umgang mit PFAS-haltigen Produkten nach Gebrauch müsse überdacht werden. Das Ziel: Je weniger PFAS freigesetzt werden, desto besser. Wobei ein Verzicht auf diese Substanzen natürlich einen Beitrag zu niedrigeren Emissionen leisten müsse – ein Verzicht an allen Stellen, wo sie nicht unabdingbar sind.

Divi kritisiert Vorgehen beim angedachten PFAS-Verbot

Derzeit liegt das Thema bei der European Chemical Agency (ECHA), Helsinki, die den Verbotsvorschlag an sich und tausende Kommentare dazu analysiert und bewertet. Brunn geht davon aus, dass die Fachleute pragmatisch vorgehen werden und Produkte, die bisher PFAS enthalten, zunächst drei Gruppen zuordnen:

  • den verzichtbaren Anwendungen,
  • den ersetzbaren Anwendungen sowie
  • den unverzichtbaren und nicht ersetzbaren Anwendungen.

PFAS: Vermutlich oft unverzichtbar für die Medizintechnik

„Zur ersten Gruppe, also zu verzichtbaren Anwendungen, würde ich auf jeden Fall eine PTFE-beschichtete Zahnseide zählen“, sagt Brunn. Als ersetzbar haben sich unter anderem viele Beschichtungen in Textilien erwiesen. Dass es unverzichtbare Anwendungen gibt, in denen sich die besonderen Eigenschaften von PFAS derzeit kaum durch eine technische Lösung ersetzen lassen, sei ebenfalls klar. Viele Medizinprodukte werden laut Brunn vermutlich in dieser Gruppe landen.

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Für Medizinprodukte für die Anästhesie werden bisher häufig PFAS eingesetzt. Ebenfalls auf der Liste der Produkte, die von einem möglichen Verbot betroffen wären, sind laut Medical Mountains unter anderem auch Katheterschläuche, Koronar-Führungsdrähte, Stents, Herzschrittmacher oder Dialysegeräte
(Bild: Sergey/stock.adobe.com)

Aber der Toxikologe mahnt auch zum Handeln. „Wir müssen bald zu Entscheidungen kommen, denn je länger wir weitermachen wie bisher, desto höher werden die PFAS-Konzentrationen in der Umwelt und auch in Lebewesen ansteigen.“ Selbst wenn sofort Verbote ausgesprochen würden, sei ja nur mit einem verzögerten Effekt zu rechnen.

Ein pauschales Verbot wurde in vielen an die ECHA gerichteten Stellungnahmen kritisiert und statt dessen eine individuelle Betrachtung für jedes PFAS gefordert. Erst auf der Basis solcher Untersuchungen solle über ein Verbot entschieden werden. Das hält Brunn für völlig unrealistisch. „Dafür würden wir hunderte von Jahren benötigen“, sagt der Toxikologe.

Vier im Detail bewertete PFAS – alle sind bedenklich

„Es sind in der EU bisher lediglich vier Substanzen aus der PFAS-Gruppe genauer untersucht und bewertet worden“, erläutert Brunn. Die European Food and Safety Agency (EFSA) habe viel Sorgfalt aufgewendet, um mehr über deren Eigenschaften zu erfahren. In allen Fällen wiesen die Resultate in die gleiche Richtung: Die Substanzen sind, wenn sie in die Umwelt gelangen, toxikologisch bedenklich, sie reichern sich im Körper an. Sie sind in Muttermilch nachweisbar und beeinträchtigen die Immunantwort zum Beispiel von Säuglingen, die ein Jahr lang gestillt wurden. Eine der untersuchten Substanzen, PFOA, schätzt die IARC, die International Research Agency for Cancer in Lyon, als sicher karzinogen ein.

Doch was sollen Unternehmen heute aus der Diskussion um PFAS ableiten? Aus dem Johner-Institut in Konstanz heißt es in einem Blog-Eintrag mit Blickrichtung Medizintechnik: „Sie müssen sofort handeln.“ Solange nicht klar ist, was genau in welchen Anwendungen und ab wann noch erlaubt oder schon verboten sein wird, wäre zunächst zu klären, wo im eigenen Produkt und im Herstellungsprozess überhaupt PFAS im Einsatz sind. Das geht nicht ohne Aufwand.

Schon jetzt mit Medizintechnik-Zulieferern zu PFAS Kontakt knüpfen

Auch die Tuttlinger Medical Mountains GmbH empfiehlt Unternehmen, in die Kommunikation mit Lieferanten einzusteigen: Das Bewusstsein, wo überall PFAS zum Einsatz kommen und welche Konsequenzen ein Verzicht hätte, sei noch nicht überall vorhanden. Eine Zusammenfassung dazu bietet der Verband als „Handout PFAS“ an. Ebensowichtig ist die Frage, welche Alternativen sich denn bieten, wenn PFAS nicht mehr erlaubt wären.

Medizintechnik-Branche: Unsicherheit durch mögliches Pfas-Verbot

Mit der Frage, wie eine PFAS-Substitution aussehen könnte, beschäftigen sich bereits Fachleute des Bereichs Oberflächentechnik am Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM in Bremen. Mit Unternehmen aus der Medizintechnik sind sie seit Jahren in engem Kontakt und suchen nach Möglichkeiten, wie sich bestimmte Eigenschaften auch ohne fluor-haltige Moleküle erzeugen lassen.

„Es kommt natürlich immer darauf an, welche Eigenschaften ein Produkt haben soll“, sagt Dr. Ralph Wilken, der am Fraunhofer IFAM den Bereich Oberflächentechnik leitet. „PFAS bieten eine einzigartige Kombination von Eigenschaften, die man nicht ohne weiteres mit einem anderen Verfahren nachbilden kann.“ Aber: Nicht in jeder Anwendung werden alle diese Eigenschaften gebraucht, sondern meist nur eine oder einige wenige.

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Mit der fluorfreien Plaslon-Technologie, die einige Eigenschaften von PFAS bietet, haben die Forscher vom Fraunhofer IFAM zum Beispiel Pfannenmuster beschichtet. Das Ergebnis hat die Antihaft-Eigenschaften von PTFE und ist auch temperaturbeständig genug für die Anwendung auf dem Herd
(Bild: Fraunhofer IFAM)

Seit zehn Jahren Projekte zur PFAS-Substition in der Medizin

Und manche, wie Gleitfähigkeit, Härte oder Abriebbeständigkeit, können die Fraunhofer-Experten mit einem von ihnen entwickelten plasmabasierten Verfahren hervorrufen. Das ist auch für die Medizintechnik interessant. „Seit etwa zehn Jahren arbeiten wir dazu mit Herstellern von Implantaten, Kathetern oder auch Instrumenten für die minimal-invasive Chirurgie zusammen“, sagt Wilken.

Technisch sind die Dinge zum Teil schon weit vorangekommen. „Aber bis so ein Medizinprodukt zertifiziert ist und auf den Markt kommt, kann es – je nach Klassifizierung des Produktes – leicht drei bis acht Jahre dauern“, sagt Wilken. Sein Kollege Dr. Kai Borcherding, Geschäftsfeldleiter Medizintechnik und Life Sciences am Fraunhofer IFAM, ergänzt: „Die Unternehmen, mit denen wir bisher zusammenarbeiten, haben diese langen Zeitspannen im Blick und deswegen frühzeitig begonnen, nach Alternativen zu fluorhaltigen Verbindungen zu suchen.“

Den Anstoß für entsprechende Projekte gab vor rund 20 Jahren die Erkenntnis, dass Reste fluorhaltiger Trennmittel aus Formen auf den darin hergestellten Produkten verblieben. Insbesondere dann, wenn die Produkte wie bei kohlefaserverstärkten Kunststoffbauteilen, kurz CFK, mithilfe von Reaktivharzen hergestellt werden. Sehr leistungsfähige Trennschichten stellen die IFAM-Mitarbeiter heute auf siliziumorganischer Basis her und haben diese weiter optimiert. Von Fluor ist hier nicht mehr die Rede.

Siliziumorganische Schichten als Ersatz für PFAS werden weiter optimiert

„Als erstes haben wir die trennenden und hydrophoben Eigenschaften erreicht“, sagt Wilken. „Dann haben wir auf die Festigkeit hin optimiert. Heute überstehen die Schichten 10 000 Durchläufe.“ Auch die Temperaturbeständigkeit, die zum Beispiel für die Anwendung in Pfannen erforderlich ist, wurde erreicht. „Wir können also eine PTFE-Beschichtung ersetzen.“ Aktuell sollen die Schichten noch abriebbeständiger werden und auch hydrophobe Eigenschaften bekommen.

Die Schichten erzeugen die Bremer mit einer Niederdruckplasmatechnologie, der Plasma Enhanced Chemical Vapour Deposition, kurz PECVD. Die Schichten sind interessant für die Luftfahrt- und Automobilindustrie, für die Hersteller von Haushaltsgeräten und Elektronik sowie für die Medizintechnik. „In diesem Bereich machen die Projekte aus der Medizintechnik schon jetzt etwa zwanzig Prozent aus“, sagt Wilken. Das Verfahren bezeichnen die IFAM-Ingenieure als Plaslon-Technologie und haben ihre Erfindung durch Patente geschützt. Nach Wilkens Einschätzung ist das Institut damit weit vorn beim Ersatz von PFAS.

Plaslon statt PFAS: sterilisierbar mit verschiedenen Methoden

Produkte mit Plaslon-Beschichtung besitzen gute Gleiteigenschaften, sie können chemisch resistent und antiadhäsiv sein, zum Teil auch sehr gut elektrisch isolieren. Sie sind härter als PFAS – und laut Wilken ist mit der siliziumorganischen Verbindung sogar die bei PFAS geschätzte oleophobe Eigenschaft teilweise erreichbar. Ähnliche Erkenntnisse liegen zur optischen Transparenz vor. „Bei der elektrischen Isolation wiederum müssen wir schauen, was sich zum Beispiel im Umfeld eines Gewebes erreichen lässt und welche Isolationseigenschaften vorgegeben sind“, sagt Wilken. Die Schicht ist durch verschiedene Verfahren sterilisierbar.

Auch die Frage nach der Entsorgung oder resultierenden Emissionen braucht niemanden zu schrecken. Kommt ein mit siliziumorganischen Verbindungen beschichtetes Produkt an sein Lebensende, lässt es sich verbrennen. Von der Beschichtung bleiben „toxikologisch unbedenkliche Silikate, also quasi Sand“. Alles in allem hat das Plaslon-Verfahren der Medizintechnik Wilkens Meinung nach eine Menge zu bieten. „Wir freuen uns natürlich, dass schon Hersteller auf uns aufmerksam geworden sind und uns kontaktiert haben.“

Wilken und seine Kollegen stellen ihr Wissen zu den Möglichkeiten der Plaslon-Beschichtungstechnologie inzwischen auch in einem weiteren Projekt zur Verfügung: Darin arbeiten Fachleute vom Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF in Darmstadt mit 21 Teilnehmern aus der Industrie zusammen.

Gasphasenfluorierung: Mögliches PFAS-Verbot könnte Fragen aufwerfen

Verbundprojekt: Wo wird PFAS-Ersatz gebraucht

Ihr Ende 2023 gestartetes Verbundprojekt zum Ersatz von PFAS in der Industrie bringt zunächst vor allem Recherchearbeit mit sich. Die Beteiligten stellen zusammen, welche Aufgaben bisher PFAS erfordern und unter welchen Bedingungen die Bauteile und Komponenten funktionieren müssen. Dann soll die Suche nach potenziellen Ersatzwerkstoffen starten; es werden den Teilnehmern Möglichkeiten, aber auch Grenzen heutiger Ersatzwerkstoffe aufgezeigt.

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Dr. Frank Schönberger leitet am Fraunhofer LBF die Abteilung Synthese und Formulierung und begleitet dort auch das Verbundprojekt zur PFAS-Substitution
(Bild: Banczerowski/Fraunhofer LBF)

„Mit diesem Wissen wollen wir es den Projektteilnehmern ermöglichen, ihre Situation besser einzuschätzen“, sagt Projektleiter Dr. Frank Schönberger, der am Fraunhofer LBF die Abteilung Synthese und Formulierung leitet. Das Interesse am Projekt war von Anfang an groß. Partner aus der Medizintechnik sind beteiligt, weitere Interessenten haben nach Projektstart Kontakt aufgenommen.

Verfügbarkeit von PFAS nimmt schon jetzt ab

Den Anstoß fürs Projekt gab zwar die Diskussion um das mögliche EU-weite Verbot von PFAS. Doch auch die Tatsache, dass PFAS-Hersteller ihre Produktion eingestellt haben oder das Unsicherheiten hinsichtlich künftiger Verfügbarkeit bestehen, bringt die Anwender in Zugzwang. Manche Werkstoffe seien bereits nicht mehr im gewohnten Maß verfügbar oder nicht mehr in den bisher verwendeten „Grades“. „Für die PFAS-Anwender ist auch das ein wichtiger Grund, sich mit Alternativen zu befassen“, so Schönberger.

Für ihre Recherchen und Auswertungen sind im Verbundprojekt neun Monate eingeplant. „Was in dieser Zeit im Projekt am Beispiel der ausgewählten Anforderungen zusammengetragen und ausgewertet wird, ist für die Teilnehmer verfügbar“, erläutert Schönberger. Er nennt das Wissen einen „Schatz“. „Wir werden das Thema PFAS-Substitution am Fraunhofer LBF sicherlich auch weiter verfolgen. Es laufen jetzt schon Einzelprojekte zu konkreten Entwicklungen, und weitere werden starten.“ Auch branchenspezifische Forschungsprojekte mit mehreren Partnern seien denkbar.

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In einem Verbundprojekt mit 21 industriellen Partnern aus der Kunststoffbranche untersuchen Mitarbeiter des Fraunhofer LBF, wo und wie sich PFAS substituieren lassen. So wollen sich die Beteiligten auf ein mögliches PFAS-Verbot vorbereiten
(Bild: Fraunhofer LBF)

Jetzt Emissionen reduzieren, in Zukunft vielleicht recyceln

Die Emissionen zu reduzieren, hält auch Schönberger angesichts der Risiken für Umwelt und Gesundheit „auf jeden Fall für richtig“. Konzepte für eine Kreislaufwirtschaft, ein Zerlegen oder ein Recyceln der gefährlichen Substanzen, böten ebenfalls Chancen. „Dazu muss ich allerdings klar sagen: Das ist noch Zukunftsmusik. Zunächst braucht es verlässliche Rahmenbedingungen.“

Auch damit sind die Überlegungen aber noch nicht am Ende. „Sollten PFAS generell verboten werden, wird wohl auch das Redesign von Produkten als Ansatz auf den Tisch kommen“, sagt Schönberger. Da das mit erheblichem Aufwand verbunden ist, sei das zum jetzigen Zeitpunkt nicht die bevorzugte Denkrichtung.

Wie eine Zukunft ohne PFAS aussehen könnte, ist auch beim Nufringer Kunststoffspezialisten Ensinger GmbH ein Thema. PTFE und PVDF, das Polyvinylidenfluorid, sind die Substanzen aus der PFAS-Gruppe, die das Unternehmen hauptsächlich für Halbzeuge, Profile und Compounds nutzt. Für die Medizintechnik relevant sind davon vor allem Modifikationen, die PTFE enthalten. Daraus werden zum Beispiel Instrumente und Instrumentengriffe oder auch Halterungen hergestellt, in denen Medizinprodukte während der Sterilisation fixiert sind. „Wir sind schon länger damit beschäftigt, nach PTFE-freien Hochleistungskunststoffen zu schauen“, berichtet Applikationsingenieur Sebastian Roller. Die Kunden fragten das auch gezielt an.

Festschmierstoffe plus PEEK als eine Alternative zu PFAS

Für Gleitanwendungen gebe es schon Alternativen – ausgehend von Additiven, „mit denen wir zu stabilen verschleißbeständigen Werkstoffen kommen können.“ Als Polymerbasis für Anwendungen mit den PFAS-freien Festschmierstoffen komme zum Beispiel PEEK in Frage. Für Medizinprodukte könnte das interessant sein, sofern diese nicht direkt mit dem menschlichen Körper in Kontakt kommen. Gleit- oder Schiebeelemente in Instrumenten seien denkbar. „Wenn ein generelles PFAS-Verbot kommt, würden solche Lösungen natürlich gebraucht“, sagt Roller.

PFAS-Substitution: Ensinger Plastics berät zu Alternativen

Welchen Einschnitt ein Verbot für Medizinprodukte-Hersteller bedeuten würde, fasst Dr. Helmut Scherer, Mitglied der Geschäftsleitung bei Erbe Elektromedizin in Tübingen, zusammen: „Alle unsere Instrumente wären davon betroffen – und damit rund eine Million Patienten, die damit behandelt werden.“ Sollten keine PFAS mehr verwendet werden dürfen, müssten alle Produkte grundlegend überarbeitet werden. „Wir haben das in einem Projekt sogar schon versucht. Das Ergebnis war ernüchternd“, sagt Scherer. Ohne PFAS sei entweder der medizinische Nutzen weg gewesen oder die Ärzte „fanden die Produkte inakzeptabel schlecht“. Daher habe man in Tübingen zunächst entschieden, PFAS weiter zu verwenden.

KI ersetzt keinen Entwickler – aber er muss KI nutzen können

Dass es nicht einfach sein wird, auf PFAS zu verzichten oder sie zu substituieren, ist auch für den Toxikologen Prof. Brunn klar. Aber hier gelte: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – was auch der Umgang mit anderen gefährlichen Substanzen gezeigt habe. „Wir haben es geschafft, auf DDT oder PCB zu verzichten.“ Verantwortlich zu handeln heiße heute, PFAS künftig so wenig wie irgend möglich zu verwenden. Das Schlagwort dazu laute: „Alara: as low as reasonably achievable“.

Details zum möglichen PFAS-Verbot oder Sonderregelungen für Medizinprodukte sind derzeit nur Spekulationen. Die angelaufenen Projekte geben aber Anlass zur Hoffnung, dass es Alternativen geben könnte. Und je eher diese entwickelt und getestet werden, desto mehr Vorteile haben alle Beteiligten zu erwarten.


Weitere Informationen und Ansprechpartner

Zur ECHA und zu Neuigkeiten zum möglichen PFAS-Verbot:
https://hier.pro/x4VfF

Fraunhofer IFAM (Plaslon):
https://hier.pro/XmcC7

Fraunhofer LBF, Verbundprojekt:
https://hier.pro/Dfgfq

Medical Mountains, Handout PFAS:
https://hier.pro/PgbA2

Review „PFAS: forever chemicals…“:
https://hier.pro/4qfUL


Über PFAS und das mögliche Verbot

Unter dem Begriff PFAS werden Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen zusammengefasst. Sie enthalten mit der Verbindung zwischen Kohlenstoff- und Fluor-Atomen die festeste Bindung, die es in einem Molekül überhaupt geben kann.

Rund 10 000 verschiedene PFAS sind bisher hergestellt worden. Sie bieten Eigenschaften wie Gleitfähigkeit oder Stabilität gegen Chemikalien, die die Industrie  schätzt. Sie sind extrem haltbar und auch als „Ewigkeitschemikalien“ bekannt. Verwendet werden sie in Zehntausenden von Produkten. Dazu gehören Lebensmittelverpackungen, Outdoortextilien, Schaumlöschmittel, Teppiche, Schmierstoffe, Skiwachse und Möbel sowie zahlreiche Medizinprodukte.

Während der Herstellung oder nach der Entsorgung von Produkten freigesetzte PFAS lassen sich nicht wieder einfangen und auch kaum zerstören. So bleiben sie Jahre bis Jahrzehnte in der Umwelt und den Nahrungsketten und reichern sich dort an. Die Fluor-Verbindungen kommen im Blutserum vom Menschen vor und können zu gesundheitlichen Effekten führen.

Um eine weitere Kontamination zu verhindern, haben fünf europäische Länder – Norwegen, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Deutschland – am 13. Januar 2023 bei der European Chemical Agency (ECHA) mit Sitz in Helsiniki einen Vorschlag zur Beschränkung der Herstellung, des Vertriebs und der Verwendung der PFAS eingereicht.

In der Konsultationsphase bis Herbst 2023 gingen dazu über 5600 Kommentare bei der ECHA ein. Die meisten kamen aus Schweden, Deutschland und Japan. Unter den rund 4400 Kommentierenden waren Unternehmen und Verbände mit knapp 69 % am häufigsten vertreten, gefolgt von Individuen mit gut 27 %.

Eine Entscheidung der Europäischen Kommission über den Vorschlag ist laut Umweltbundesamt voraussichtlich 2025 zu erwarten.



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