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Big Data und Medizin: Dänemark als Vorbild

Medizinische Informatik
Big Data für die Medizin: Nicht China als Vorbild, sondern Dänemark

Big Data für die Medizin: Nicht China als Vorbild, sondern Dänemark
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Felix Balzer ist Facharzt für Anästhesiologie und Informatiker. Der Direktor des Instituts für Medizinische Informatik an der Charité lehrt im Fach Medical Data Science. Seit Anfang 2021 vermittelt er als Chief Medical Information Officer (CMIO) zwischen den Anforderungen im medizinischen Bereich und der Informationstechnologie (Bild: Yuasa)
Die Technik, um Big Data für die Medizin zu nutzen, gibt es. Aber geeignete Daten müssen gesammelt werden, und die ärztliche Perspektive braucht mehr Gewicht. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Felix Balzer, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik an der Charité, erläutert, wo Data Science heute steht und warum man von China lernen kann, es aber bessere Vorbilder gibt.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Prof. Balzer, was bietet die Medizinische Informatik der Medizin?

Die Medizinische Informatik hat sich in den vergangenen Jahren sehr stark gewandelt. Lange Zeit war das Codieren von Daten für Krankenhausinformationssysteme die klassische Aufgabe des Fachs. Heute ist es viel breiter aufgestellt und wird der Medizin viel mehr zu bieten haben: Methodische Arbeiten, Big Data und Data Science fallen in diesen Bereich. Ein aus meiner Sicht sehr wichtiger Aspekt ist dabei aber, dass wir die Sache nicht zu sehr von der technischen Seite angehen dürfen. Was in der Industrie läuft, wird nicht einfach auch im Krankenhaus funktionieren. Wenn ein Tablet einen Zentimeter größer ist als die Tasche am Arztkittel, bleibt das Gerät auf dem Schreibtisch liegen, selbst wenn es eigentlich nützliche Funktionen bietet.

Was bedeutet das für die weitere Entwicklung der Medizininformatik?

Die Technik – und das gilt auch für die Informatik – ist nur gut, wenn sie genutzt wird. Wir müssen also Ärzte zu technischen Themen schulen und Mathematiker oder Statistiker und Informatiker zu medizinischen Fragen weiterbilden. Was genau im Krankenhaus oder in der Praxis gebraucht wird, muss gemeinsam erarbeitet werden. Das hat zwei Effekte: Zum einen sind die Nutzer dann eher bereit, eine neue Technik anzunehmen. Zum anderen wäre es gefährlich, wenn allein technische Experten große Datenmengen analysieren und daraus medizinische Schlüsse ziehen. Darüber hinaus müssen wir die Technik verbessern: Eine KI sollte sowohl für den Mediziner nachvollziehbare als auch reproduzierbare Ergebnisse liefern. Sonst gibt es für ein Clinical-Decision-Support-System, das den Arzt unterstützten soll, keine Zulassung. Und gerade die Reproduzierbarkeit ist mit einer KI nicht einfach zu erreichen.

Welche Daten braucht die medizinische Informatik für ihre Analysen?

Auch wenn der Begriff Big Data das nahelegt: Es geht nicht allein um die Menge. Für medizinische Analysen sind schon Basisdaten zu wenigen Parametern interessant, die aber kontinuierlich erfasst werden müssen. Blutdruck und Herzfrequenz sind gute Beispiele dafür.

Gibt es solche Daten schon?

Heute werden viele Daten gesammelt, aber in sehr unterschiedlicher Form. Im Operationssaal wird über einen langen Zeitraum jedes Detail erfasst. Auf der Station wird vielleicht ein Mal pro Stunde händisch gemessen. Das vermittelt kein durchgängiges Bild. Sobald der Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird, gibt es kaum noch Informationen zu seinem Zustand. Und selbst wenn der Patient selbst Daten über eine Smart Watch, einen Fitness Tracker oder sonstige Wearables sammelt, können Mediziner diese zwar anschauen, aber nicht ins Krankenhausinformationssystem übertragen. Es gibt auch keine riesigen Datenpools aus der Vergangenheit, die wir mit Algorithmen heute einfach analysieren könnten: Mediziner dürfen nur Daten erheben, die für eine bestimmte Behandlung erforderlich sind. Für die Analysen, die wir künftig machen wollen, muss der Patient vorab das Einverständnis zur Speicherung und Verwendung seiner Daten erteilen.

Welche Rolle könnten Medizingeräte beim Sammeln der Daten spielen?

Wir brauchen Medizingeräte, die relevante Daten kontinuierlich erfassen und speichern. Technisch ist das heute möglich. Es gibt aber auch Geräte, die statt der Originaldaten nur alle fünf Minuten einen Mittelwert abspeichern. Das reicht auf lange Sicht nicht. Ganz wichtig sind offene Schnittstellen: Wenn wir große Datenmengen verarbeiten wollen, müssen alle Geräte miteinander kompatibel und ans Informationssystem des Krankenhauses angebunden sein. Herstellerspezifische Insellösungen nützen uns dabei nichts. Wenn alle Geräte kompatibel sind, könnte die Branche hingegen profitieren und zu neuen Lösungen beitragen.

Welche Schnittstellen sind wichtig?

Ich denke da vor allem an den Fhir-Standard, eine Weiterentwicklung von HL7. Er ist eine wesentliche Grundlage für die Medizin, und die Industrie muss das mit tragen. Diskutiert wird darüber schon, aber es reicht eben nicht, wenn, wie bisher, nur ein Teil der Daten entsprechend übertragen wird.

Wie weit sind die Europäer mit der Analyse medizinischer Daten?

Dazu muss man nicht nur das Bereitstellen von Daten betrachten, sondern auch das Ausmaß der Digitalisierung in den Krankenhäusern. Beides ist in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. In Deutschland hat die Medizininformatik-Initiative gezeigt, dass es möglich und sinnvoll ist, Daten zu sammeln und Forschern in anderen Krankenhäusern zur Verfügung zu stellen, auch über die Grenzen von Bundesländern hinweg. Trotz Initiativen und Projekten dieser Art ist das Vorgehen bei uns in der Fläche noch nicht verbreitet. In Dänemark wiederum werden seit langem Patientendaten zu Diagnosen, Behandlungen und eingenommenen Medikamenten von der Geburt an gesammelt und auf nationaler Ebene gespeichert. Das sind nicht viele Daten pro Patient, aber sie werden durchgängig erhoben. Damit arbeiten dänische Spezialisten für Data Science und haben die Nase vorn. Es gibt also Unterschiede. Insgesamt gesehen steht Europa meiner Meinung nach bei diesem Thema gar nicht schlecht da.

Und welche Rolle spielt die Digitalisierung der Krankenhäuser?

Um Daten zu erfassen und zu speichern, muss ein Krankenhaus entsprechend digital ausgestattet sein. Den Reifegrad bewertet das von Himms Analytics entwickelte Electronic Medical Report Adoption Model, kurz Emram. Es nutzt eine Skala von 1 bis 7. Das Level 1 entspricht einer rudimentären Digitalisierung. Level 7 steht für ein papierloses Krankenhaus. Deutschland hat derzeit kein einziges Haus auf Level 7 und eines auf Level 6. Europa insgesamt bewegt sich in der unteren Mitte. Führend hingegen sind nach rasanten Entwicklungen der vergangenen Jahre die USA mit 2000 Häusern auf Level 6 und 150 auf Level 7. China kommt da noch nicht heran, dort werden 43 Krankenhäuser in Level 6 und sechs auf der höchsten Ebene eingestuft.

Woher kommen diese Unterschiede?

Solche Entwicklungen hängen oft von politischen Entscheidungen ab: Die türkische Regierung beispielsweise hat beim Bau neuer Krankenhäuser klare Vorgaben zur Digitalisierung gemacht. Daher hat das Land bereits einige Einrichtungen in den Levels 6 und 7 vorzuweisen.

Wo steht die Charité in dieser Skala?

Wir haben bei uns seit etwa 20 Jahren eine elektronische Krankenakte für die Intensivstationen und eine Health-Data-Plattform, die alle Daten aus Subsystemen zusammenführt und für die Forschung bereitstellt. Darüber hinaus laufen eine Reihe von Pilot- und Leuchtturmprojekten zur Digitalisierung und Erfassung von Patientendaten. Diese werden aber als Projekte nicht in der Bewertung berücksichtigt. Für die im medizinischen Alltag schon verfügbaren Strukturen sind wir auf Level 5,3 eingestuft.

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China arbeitet an Digital-Health-Themen und nutzt Big Data. Hat das Land damit einen riesigen Vorsprung?

In China wird tatsächlich intensiv daran gearbeitet, es gibt dazu auch Partnerschaften mit deutschen Einrichtungen. Einen riesigen Vorsprung sehe ich aber nicht. Für uns hier in Europa würde ich eher Dänemark als Vorbild sehen. Was dort bisher umgesetzt wurde, hat das Gesundheitssystem nicht revolutioniert. Aber die Daten helfen sehr, wenn Fragen auftauchen. Funktioniert eine bestimmte Behandlung im Krankenhaus genauso gut wie in einer Arztpraxis? Darauf geben die dänischen Daten Antworten. Und die passen auch zur klinischen Realität, denn da haben Patienten Vorerkrankungen, mehrere Erkrankungen oder sind unterschiedlich alt. In klassischen Studien wird die Patientengruppe sehr eng definiert, um eine Aussage zu einer Behandlung machen zu können. Aber im Alltag helfen eher Daten aus dem echten Leben weiter.

Was kann die Medizin von China in Sachen Big Data lernen?

Am Beispiel China finde ich interessant, wie Technik dort eingesetzt wird. Bei uns gibt es verbreitete Apps, aber keine, die so gut wie jeder nutzt. Das ist in China anders. Und wenn alle die gleiche App nutzen, schafft das eine Struktur, auf die man aufsetzen kann, wenn ein Health-Modul integriert werden soll.

Wie sinnvoll sind Big-Data-Analysen auf globaler Ebene?

Wir können nur dann medizinische Daten sinnvoll analysieren, wenn sie aus einem vergleichbaren Gesundheitssystem stammen. Innerhalb von Europa kann ich mir einen Datenaustausch gut vorstellen. Aber Informationen über die Verweildauer von Patienten auf Intensivstationen aus den USA oder China helfen mir wenig. Das System ist anders, daher sind auch die Zusammenhänge anders.

Welche gesetzlichen Regelungen stecken den Rahmen ab, in dem Analysen medizinischer Daten erlaubt sind?

Die Datenschutzgrundverordnung, die DSGVO, gibt vor, wie Daten gespeichert und erhoben werden dürfen. Die medizinischen Daten, von denen hier die Rede ist, liegen in Krankenhäusern. Wie diese damit umzugehen haben, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Wenn wir also in größerem Maß etwas analysieren und die Möglichkeiten der medizinischen Informatik nutzen wollen, muss die Politik neue Regelungen schaffen, die den nationalen oder europaweiten Austausch von Daten ermöglicht. Hierzu brauchen wir unbedingt Rechtssicherheit.

Welchen Vorteil hat der einzelne Patient durch Big-Data-Analysen?

Wir sind auf dem Weg zur Präzisionsmedizin, zur individuellen Anpassung von Therapien. Dafür werden Sammlungen an Daten gebraucht, sowohl zum einzelnen Menschen als auch zur Population. Das geht über Blutdruck und Herzfrequenz hinaus und schließt Eiweißanalysen – Proteomics – oder Informationen zu den Erbanlagen – Genomics – ein. Die großen Datenmengen zu analysieren, klappt technisch schon recht gut. Den nächsten Schritt müssen wir noch tun: die Ergebnisse in die medizinische Anwendung zu übertragen. Das kann zum Beispiel heißen, dass wir neue Kennzahlen einsetzen, um die Ergebnisse einer Behandlung zu bewerten. Wenn der Patient heute nach einer großen Operation schnell aus dem Krankenhaus entlassen wird und seine Erkrankung für lange Zeit überlebt, gilt das als Erfolg. Wir sollten aber genauer nachschauen können, wie es ihm im Detail geht. Wenn er sich nach einer frühen Entlassung nicht mehr aus dem Haus traut oder eine Depression entwickelt, wäre die Behandlung optimierbar. Langfristig werden die Datenanalysen also dazu führen, dass wir besser auf den Patienten eingehen können.


Digitalisierte Krankenhäuser und offene Standards

Eine Einschätzung dazu, wie weit die Digitalisierung von Krankenhäusern vorangeschritten ist, bietet die Übersicht von Himss Analytics. Das Unternehmen, hat sich auf Informationstechnik, Forschung und Standards spezialisiert und spricht das Gesundheitswesen wie auch die Medizintechnik an. Die Healthcare Information and Management Systems Society (Himss), zu der Himss Analytics gehört, hat das Electronic Medical Report Adoption Model (Emram) definiert, weiterentwickelt und auditiert. Krankenhäuser können damit ihre Digitalisierung gemäß sieben Leveln bewerten lassen. Der aktuelle Stand wird online auf einer Karte dargestellt. Demnach gab es zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses im März zum Beispiel in Australien ein Krankenhaus auf Level 7, für Saudi-Arabien waren vier Häuser auf dem höchsten Level.

www.himssanalytics.org/stage-6-7-achievement

Informationen über den Standard Fast Healthcare Interoperability Resources (Fhir), der eine Vernetzung von Medizingeräten untereinander und mit dem Krankenhausinformationssystem ermöglicht, bietet HL7 auf seiner Website:

http://hier.pro/asqDE

Für das Jahr 2021 sind Treffen des Interoperabilitätsforums vorgesehen. Das Forum wird gemeinsam von den Initiatoren HL7 Deutschland, IHE Deutschland sowie der AG Interoperabilität des Bvitg und dem Fachbereich Medizinische Informatik des DIN sowie weiteren Mitwirkenden veranstaltet. Hochschulen und Organisationen des E-Health-Sektors unterstützen das Forum.

Als Zeitraum für den Deutschen Interoperabilitätstag wird der Oktober anvisiert.

www.interop-tag.de/


Kontakt zum Experten:

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Felix Balzer
Direktor des Instituts für Medizinische Informatik
Chief Medical Information Officer (CMIO)
E-Mail: felix.balzer@charite.de

Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1
D-10117 Berlin
medinfo.charite.de

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