Wearables im eigentlichen Sinne sind sie: Aktive Implantate. Sie werden aber – anders als Fitness-Tracker oder Smartwatches – nicht am, sondern im Körper getragen. Im Grunde handelt es sich um vernetzte Minicomputer, die mit Sensorik, Elektroden und Energieversorgung ausgestattet sind. Das bekannteste Wearable dieser Art ist der Herzschrittmacher, der über eine Elektrode einen Stromstoß in den Herzmuskel abgibt. Integriert ist ein Akzelerometer beziehungsweise Schüttelsensor. Er reagiert auf Bewegungen des Patienten und erhöht die Frequenz nach dem Motto: Werde ich geschüttelt, ist Aktivität und Anstrengung vorhanden, also rauf mit dem Puls. Elektroden gewährleisten die Verbindung vom Impulsgenerator zum Herzmuskel. Als Energiequelle werden heute Lithium-Iod-Batterien eingesetzt, die ohne flüssige Bestandteile auskommen und dank geringer Selbstentladung sehr langlebig sind.
Inhaltsverzeichnis
Aktive Implantate: In der Orthopädie noch Mangelware
Erstes smartes Knieimplantat in den USA mit FDA-Zulassung
Mymobility-Plattform: Mit Daten die Versorgung verbessern
Smartes Implantat sagt, ob orthopädische Endoprothese korrekt sitzt
Forscher planen Prototypen für neue Implantate-Klasse
Formgedächtnisdrähte im orthopädischen Implantat machen Meldung
Orthopädisches Implantat für Wirbelsäule nutzt piezoelektrische Effekte
Weitere Informationen zu den Forschern und Unternehmen
Aktive Implantate in Kürze
Aktive Implantate: In der Orthopädie noch Mangelware
Auch Cochlea-Implantate für Hörgeschädigte gehören zu den aktiven Implantaten, die weit verbreitet sind. Sie können teil- oder voll implantiert werden. Bei letzteren wird dem Patienten nicht nur das eigentliche Implantat unter der Haut eingesetzt, sondern auch alle anderen Komponenten einschließlich Sprachprozessor, Batterien und Mikrofon.
„Auch wenn es in der Forschung und Entwicklung immer wieder entsprechende Ansätze gab, muss man leider sagen, dass aktive Implantate für uns in Deutschland in der Orthopädie noch weit weg sind. Die Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen“, sagt Professor Dr. Andreas M. Halder, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). Er erinnert sich noch an klinische Experimente in den 1990er Jahren, bei denen mit den ersten Sensorprothesen die Kräfte gemessen wurden, die beispielsweise auf Hüft- oder Knieprothesen wirken. „Solche In-Vivo-Kräftemessungen haben Implantat-Herstellern natürlich wertvolle Informationen geliefert für die Weiterentwicklung ihrer Produkte“, so Halder. „Heute könnten aktive orthopädische Implantate auch Ärzten und Patienten wertvolle postoperative Informationen liefern.“
Erstes Knieimplantat in den USA mit FDA-Zulassung
Er schaut mit Interesse über den Atlantik, denn in den USA können die ersten Medizintechnik–Hersteller Erfolge mit aktiven orthopädischen Implantaten aufweisen: So erhielt Zimmer Biomet vor drei Jahren die erste so genannte De-Novo-Zulassung der FDA für ein aktives Knieimplantat. Dieses Verfahren der US-Regulierungsbehörde greift für Produkte, für die es kein vergleichbares Vorgängerprodukt gibt. Persona IQ, so der Name der Knietotalendoprothese, hat der US-Medizintechnikhersteller in Zusammenarbeit mit dem kanadischen Start-up Canary Medical entwickelt, das sich auf implantierbare Sensortechnologie in der Orthopädie spezialisiert hat.
Das Persona-IQ-Implantat sammelt für die postoperative Versorgung eines Patienten täglich dessen objektive kinematische Kniedaten (Mobilitätsdaten) einschließlich Bewegungsumfang, Schrittlänge, Gehgeschwindigkeit, Schrittfrequenz, Distanz sowie qualifizierte Schrittzahl. Die Daten werden sicher an eine HIPAA-konforme cloudbasierte Plattform übermittelt und können vom Patienten und medizinischem Fachpersonal abgerufen werden. HIPAA steht für Health Insurance Portability and Accountability Act, ein US-amerikanisches Gesetz zum Schutz von Patientendaten.
Mymobility-Plattform: Mit objektiven Daten die Versorgung verbessern
„Die Patienten können über unsere Care-Management-Plattform Mymobility auf ihre Daten zugreifen. Und medizinisches Fachpersonal kann die kinematischen Kniedaten über das Monitoring-Tool Quantiles Recovery Curves von Canary Medical einsehen“, erklärt Liane Teplitsky, President Global Robotics and Technology & Data Solutions bei Zimmer Biomet. Objektive Daten sollen somit subjektive Eindrücke von Patienten und Fachpersonal ersetzen. „Wir helfen unseren Kunden, objektive Daten zu nutzen, um den Standard der Versorgung in der Orthopädie zu verbessern. Wir wollen datengesteuerte Entscheidungen ermöglichen, die auf Erkenntnissen beruhen, die durch die Integration von prä-, intra- und postoperativen Daten gewonnen werden. Somit werden wir künftig ein viel besseres Verständnis dafür haben, wie ‚gute‘ Implantate aussehen und wie man dies erreichen kann – was letztlich die Ergebnisse, die Effizienz und die Kosten der Versorgung verbessern sollte. Intelligente Implantate sind Teil des Daten-Ökosystems.“
So ein digitales Ökosystem baut Zimmer Biomet derzeit auf – bis hin zu einem KI-Modell zur Vorhersage des postoperativen Genesungsprozesses eines Patienten etwa mit einer Persona-IQ-Prothese.
Einen ähnlichen Weg könnte Stryker, der große Wettbewerber von Zimmer Biomet, verfolgen. Das US-Unternehmen hat Anfang 2021 Orthosensor gekauft, den direkten Konkurrenten von Canary Medical. Damals sagte das Top-Management von Stryker, dass die nächste Stufe der Datennutzung in der Vorhersage der Patientenversorgung oder sogar der Ergebnisse von Operationen liegen wird. Seitdem ist es allerdings ruhig; Stryker hat bislang noch kein smartes Implantat angekündigt.
Smartes Implantat sagt, ob orthopädische Endoprothese korrekt sitzt
„Wir zählen aktuell in Deutschland jährlich mehr als 400 000 Endoprothesen an Hüfte und Knie. Für mich stellt sich dabei die Frage, wer alle diese Patientendaten ständig monitoren soll“, merkt Professor Halder an. „Um den Patientenfortschritt zu überwachen, bieten sich sicher auch einfachere Smartphone-basierte Lösungen an.“ Sinn machen für ihn smarte Implantate dann, wenn sie Orthopäden Informationen über die häufigsten Versagensgründe von Prothesen liefern können. Dazu gehört, ob ein Implantat fest sitzt oder gelockert ist. „Diese Informationen bekommen wir heute erst, wenn der Patient Schmerzen hat und wir ein Röntgenbild erstellt haben“, so Halder. Auch hält er ein Monitoring für sinnvoll, um etwaige Infektionen nach einer Operation frühzeitig zu entdecken.
Die Universitätsmedizin Rostock forscht derzeit an einer aktiven Hüftendoprothese. Ziel ist es, dass die künstliche Hüfte messen soll, wie es um die Qualität des umgebenden Knochens bestellt ist, und wie fest das Implantat noch im Knochen verankert ist. Das zu entwickelnde Diagnosesystem soll künftig auch Auskunft darüber geben können, wie aktiv der Patient tatsächlich ist. Dazu arbeiten im Sonderforschungsbereich Elaine Wissenschaftler aus den Bereichen Elektrotechnik, Informatik, Maschinenbau, Materialwissenschaften, Physik, Mathematik, Biologie und Medizin interdisziplinär zusammen – und zwar über mehrere Institute bundesweit hinweg.
Im ersten Schritt wollen die Forscher das Thema Energieversorgung – für Sensoren und elektrische Schaltungen im Implantat – angehen. Dafür wird die Hüftendoprothese mit einer Piezo-Keramik ausgestattet, um mechanische Energie, die beim Laufen oder Gehen entsteht, in elektrische Energie umzuwandeln. Energy Harvesting nennt sich dies.
Forscher wollen 2025 den Prototypen für eine neue Klasse von Implantaten vorlegen
Auch das Universitätsklinikum des Saarlandes erforscht smarte Implantate. Ähnlich wie bei Elaine soll es in zwei Richtungen gehen: Knochenbrüche schneller zu heilen, indem die Bruchstelle vorsichtig stimuliert wird, sowie Informationen darüber zu geben, wie gut oder schlecht ein Bruch verheilt, und vor Fehlbelastungen zu warnen. 2025 wollen die Forscher einen Prototypen vorlegen. „Wir wollen mit dieser neuen Klasse von Implantaten die Bruchsteifigkeit und Bruchverschiebung permanent direkt an der Bruchstelle überwachen. Zeigen sich hierbei Probleme, soll das Implantat selbst aktiv gegensteuern, indem es sich bewegt oder versteift“, erklärt Bergita Ganse, Inhaberin der Werner-Siemens-Stiftungsprofessur für innovative Implantatentwicklung an der Universität des Saarlandes.
Sie stellt fest, dass bisher zum Beispiel noch nicht definiert ist, welche Kräfte, Frequenzen, Kraftrichtungen, Zeitdauern und Zeitperioden oder andere Stimuli solche Implantate idealerweise liefern sollten, um das beste Heilungsergebnis zu erzielen. Die Forscher aus Saarbrücken widmen sich dabei auch der Materialtechnik: So wollen sie Drähte aus Nickel-Titan-Formgedächtnislegierungen für die Stimulans verwenden.
Formgedächtnisdrähte im orthopädischen Implantat melden kleinste Veränderungen
Die Formgedächtnisdrähte nehmen ihre ursprüngliche Form wieder an, wenn sie verformt oder gezogen werden, und können ähnlich wie Muskeln an- und wieder entspannen. Auf kleinem Raum erreichen sie hohe Zugkraft; sie haben die höchste Energiedichte aller bekannten Antriebsmechanismen. Jeder Länge der Drähte lässt sich ein exakter Messwert des elektrischen Widerstands zuordnen.
Wie steif Osteosyntheseplatten sind, lässt sich mit Nitinol beeinflussen
Sind die Drähte im Implantat eingebaut, lassen sich selbst kleinste Veränderungen im Frakturspalt in den Messwerten ablesen. Das macht diese künstlichen Muskeln zu Sensoren im Implantat. Zugleich entspricht eine Abfolge solcher Messwerte einem Bewegungsablauf. Mithilfe der Zahlenkolonnen und künstlicher Intelligenz lassen sich Bewegungsabläufe vorausberechnen, programmieren und die Drähte automatisiert ansteuern.
Auch Elaine betreibt Grundlagenforschung daran, inwiefern aktive Implantate für Therapiezwecke bei Arthrose eingesetzt werden können: Durch Einbringen eines Knorpelersatzmaterials anstelle des defekten Gewebes, das bei einer OP entfernt wird, sollen die einwachsenden Zellen durch eine elektrisch-mechanische Stimulation des Implantats dazu angeregt werden, hochwertiges hyalines Knorpelgewebe zu bilden. Ein solches Implantat wird nach erfolgter Regeneration des Knorpels entfernt.
In den USA gibt es mit Directsync Surgical ein weiteres Start-up-Unternehmen, das smarte Implantate entwickelt, die sowohl therapeutischen Aspekten mittels Elektrostimulation als auch als Diagnoseinstrument dienen. Im Mai wurde sein Implantat für die Wirbelsäulenfusion von der FDA in das Programm für Breakthrough Devices aufgenommen, das schwerstkranken Patienten einen schnelleren Zugang zu neuartigen Medizinprodukten ermöglichen soll.
Orthopädisches Implantat für die Wirbelsäule nutzt piezoelektrische Effekte
Auch Directsync setzt dabei auf piezoelektrische Materialien. Die Idee: Bei der Wirbelsäulenfusion ist die Belastung des Implantats am höchsten, wenn das Gerät erstmals implantiert wird und keine knöcherne Fusionsmasse um das Implantat herum und in diesem Bereich vorhanden ist. Mit fortschreitender Fusion verringert sich die Belastung des Implantats entsprechend dem erreichten Fusionsgrad aufgrund der Oberfläche und Steifigkeit der wachsenden Knochenstruktur.
Directsync will nachweisen, dass ein in ein Wirbelsäulenfusionsimplantat eingebetteter Piezogenerator mit der zugehörigen Schaltungshardware und Datenerfassungssoftware Änderungen der Belastung im Zwischenkörperraum erfassen, speichern und drahtlos übertragen kann. Diese Veränderungen können dann mit dem Fortschreiten der Fusion und anderen postoperativen Ergebnissen in Verbindung gebracht werden.
Die Integration von Piezo-Keramik, Sensorik und Elektronik in ein Implantat ist allerdings auch kein Selbstläufer. Das Design einer Hüftendoprothese wird dafür von den Experten des Sonderforschungsbereichs Elaine verändert werden. „Wir verfügen heute über mechanisch sehr stabile Implantate. Die Herausforderung besteht darin, alle Zusatzkomponenten so zu integrieren, dass dies auch künftig der Fall ist“, sagt Halder.
Zimmer Biomet und Canary Medical wollen laut Zimmer-Biomet-Managerin Teplitsky in Zukunft ihr Portfolio an intelligenten Implantaten für verschiedene orthopädische Anwendungen erweitern. Allerdings lässt sie offen, ob die beiden Unternehmen auch eine Zulassung von Persona IQ in der EU anstreben.
Professor Halder setzt stark darauf, dass dies eintrifft: „Ich hoffe, dass diese Entwicklungen aus den USA irgendwann in ferner Zukunft auch nach Europa kommen werden. Denn angesichts des Kostendrucks in unseren Gesundheitssystemen kann ich mir nicht vorstellen, dass europäische Medizinproduktehersteller solche smarten Implantate entwickeln und die Zulassung dafür anstreben werden. Das ist kostentechnisch völlig uninteressant für die Hersteller.“
Weitere Informationen zu den Forschern und Unternehmen
Zum Implantat von Zimmer Biomet:
http://hier.pro/N1NbJ
Zu Elaine:
www.elaine.uni-rostock.de
Zu den Arbeiten am Universitätsklinikum des Saarlandes:
http://hier.pro/2kQgl
Aktive Implantate in Kürze
Nach der Medical Device Regulation (MDR) bezeichnet ein aktives implantierbares medizinisches Produkt ein Produkt,
- dessen Betrieb von einer Energiequelle, mit Ausnahme der für diesen Zweck durch den menschlichen Körper oder durch die Schwerkraft erzeugten Energie, abhängig ist und das mittels Änderung der Dichte oder Umwandlung dieser Energie wirkt,
- das dazu bestimmt ist, ganz in den menschlichen Körper eingeführt zu werden oder eine Epitheloberfläche oder die Oberfläche des Auges zu ersetzen und
- das dazu bestimmt ist, nach dem Eingriff dort zu verbleiben.
Dazu zählen auch aktive medizinische Produkte, die durch einen klinischen Eingriff teilweise in den menschlichen Körper eingeführt werden. Und die nach dem Eingriff mindestens 30 Tage dort verbleiben.