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Evolution für die Produktion: So werden Prozesse flexibler

Flexible Produktionstechnik
Wie in der Natur: Evolution für die Produktionstechnik

Wie in der Natur: Evolution für die Produktionstechnik
Was kann die Produktionstechnik von der Natur lernen? Ein Forschungsteam hat im Fraunhofer-Leitprojekt Evolopro Elemente der Flexibilität und Selbstanpassung analysiert und auf die Fertigung komplexer Bauteile übertragen (Bild: Fraunhofer IPT)
Biological Manufacturing Systems – so soll eine neue Generation von Produktionssystemen heißen. Sie orientieren sich an den Mechanismen der natürlichen Evolution. Fraunhofer-Forscher haben dafür eine Grundlage geschaffen.

Wie vollzieht die Natur evolutionäre Anpassungen, und was kann die Produktionstechnik von der Natur lernen, um flexiblere Prozesse zu entwickeln? Forscherinnen und Forscher aus sieben Fraunhofer-Instituten haben im Fraunhofer-Leitprojekt Evolopro verschiedene Elemente der Flexibilität und Selbstanpassung analysiert und auf die Fertigung komplexer Bauteile übertragen. Das Forschungsteam legte damit den Grundstein für eine neue Generation von Produktionssystemen im Sinne eines Biological Manufacturing Systems.

Die Natur baut stets auf Bestehendem, also auf vorhandenen Datensätzen, auf und vollzieht auf deren Basis evolutionäre Veränderungen. Sie nutzt darüber hinaus alle Anpassungen, ob erfolgreich oder nicht, um aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen. Diese bezieht sie bei weiteren Entwicklungen ein.

Biologische Evolution als Vorbild für Produktionssysteme

In der Wirtschaft hingegen gibt es zwar vielfältige Gründe für neue Produktanforderungen, wie technische Innovationen oder gesetzliche Änderungen oder auch unternehmerische Entscheidungen. Üblicherweise führen die Veränderungen zu Neuauslegungen von Produkten und Produktionsprozessen.

Die Planung startet im Grunde bei Null. Informationen und Daten über frühere Produktvarianten und Produktionsprozesse können, nicht zuletzt aufgrund fehlender technischer Infrastruktur, nicht umfänglich genutzt werden. Und: Dieses Vorgehen ist zeitaufwendig und oft nicht zielführend. Das gilt vor allem bei sich rasch ändernden Anforderungen.

Biologische Transformation ist mehr als Bionik – und der Trend, der auf die Digitalisierung folgt

Verschiedene Mechanismen der natürlichen Evolution von Organismen unter sich verändernden Umweltbedingungen haben nun mehr als 50 Forscherinnen und Forscher aus sieben Fraunhofer-Instituten untersucht. Ihre Erkenntnisse haben sie auf moderne Fertigungsprozesse übertragen. Das Fraunhofer-Leitprojekt Evolopro– Evolutionäre Selbstanpassung komplexer Produktionsprozesse und Produkte lief über einen Zeitraum von vier Jahren und wurde kürzlich erfolgreich abgeschlossen.

Neben der allgemeinen Evolutionstheorie von Charles Darwin schenkten die Beteiligten der Theorie der Erleichterten Variation besonderes Augenmerk. Diese unterteilt die Fähigkeit zur raschen Anpassung in verschiedene Elemente der Flexibilität, zu denen etwa Modularität und Hierarchie gehören.

Die evolutionsbiologischen Elemente und Mechanismen nutzten die Forscherinnen und Forscher, um eine neue Generation von Biological Manufacturing Systems (BMS) zu konzipieren. Biological Manufacturing Systems sind fähig, sich wie biologische Organismen selbstständig an neue Anforderungen und Umgebungsbedingungen anzupassen.

Industrie 4.0 ermöglicht schnellere Evolution

Sie benötigen dafür allerdings nicht, wie die Natur, mehrere Jahrhunderte. Dank aktueller Errungenschaften der Industrie 4.0, so die These des Teams, können Anpassungen innerhalb kürzester Zeit vollzogen werden. „Das große Feld der Digitalisierung schafft beste Voraussetzungen für die angestrebte produktionstechnische Evolution“, sagt Projektleiter Dr.-Ing. Tim Grunwald vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen.

Biologische Transformation braucht Zeit – fangen wir also jetzt an

Digitaler Zwilling und Digitale Umwelt als Motor für produktionstechnische Evolution

Für die Umsetzung der Biological Manufacturing Systems setzten die Projektpartner zum einen auf neue, der Biologie nachempfundene Algorithmen, zum anderen auf datenbasierte Digitale Zwillinge, die mit einer Digitalen Umwelt interagieren.

Digitaler Zwilling verspricht Vorteile – aber es gibt ungeklärte Rechtsfragen

Der Digitale Zwilling ist das digitale Abbild eines Bauteilindividuums und ermöglicht die digitale Verarbeitung aller bauteilbezogenen Informationen. Die Digitale Umwelt bildet die wichtigsten Anforderungen, die die reale Umwelt an das Bauteil stellt, digital nach. Das Projektteam entwickelte ein Konzept für einen mehrstufigen Digitalen Zwilling, das – in abgewandelter Form – auch auf eine mehrstufige Digitale Umwelt übertragen wurde. Beide Konzepte können flexibel in bestehende Softwareumgebungen wie etwa CAM-Systeme integriert werden.

Prototyp für digitalen Patienten-Zwilling

Die biologisch inspirierten Algorithmen der Erleichterten Variation sind teils bestehende, teils im Rahmen des Evolopro-Projekts neu geschaffene mathematische Hilfsmittel, die dem Digitalen Zwilling den Weg der Evolution ermöglichen. Sie operieren im Hintergrund auf einer digitalen Hilfsebene und laufen permanent parallel zum realen Produktionsprozess, um einen kontinuierlichen, datenbasierten Lernprozess zu ermöglichen.

Luftfahrt, Optik und Automotive als Pilot für die Prozessketten

Die Wirksamkeit der Konzepte und Algorithmen wurde an drei Produkt- und Prozessketten erprobt: der Pilotkette Aviation , der Pilotkette Optics und der Pilotkette Automotive. Alle drei Testreihen schlossen mit Erfolgen und neuen Erkenntnissen ab.

In der Pilotkette Aviation konnte das Projektteam auf Basis der biologisierten Algorithmen und Konzepte eine Simulationsumgebung zur modellbasierten Prozessplanung und -auslegung fertigstellen. Mithilfe dieser so genannten Testbench konnte das Team den Aufwand für die Prozessplanung und den Einfahrprozess für die Fräsbearbeitung einer Blade Integrated Disk (Blisk) – einer hochkomplexen Turbomaschinenkomponente – sowie einer Variation des Blisk-Designs deutlich senken.

In der Pilotkette Optics gelang es, die Digitalisierung in der Fertigung komplexer Glasoptiken deutlich zu verbessern. So konnte das Team die simulierten Ergebnisse direkt zurück ins Optikdesign und in die Optikmontage einfließen lassen.

So wurde der Optik-Prozess flexibler

Indem Planung und Umsetzung deutlich näher aneinandergerückt wurden, steigerte das Team Schritt für Schritt die Flexibilität des Gesamtprozesses. Darüber hinaus entwickelten die Forscherinnen und Forscher ein selbstlernendes Verfahren für die automatisierte Montage optischer Komponenten, das deutlich weniger Arbeitsschritte erfordert als alle bisherigen Montage-Algorithmen.

In der Pilotkette Automotive wurde eine vollständig modellbasiert geregelte Karosseriefertigung errichtet, die das komplette Potenzial einer automatisierten, selbstlernenden Industrie 4.0-Karosseriebau-Anwendung ausschöpft. „Die Pilotketten hatten grundlegend unterschiedliche Anforderungen und Charakteristika. Die erreichten Ergebnisse sprechen demnach für die Universalität des verfolgten Projektansatzes“, zeigt sich Projektleiter Tim Grunwald zufrieden.

Data-Lake-Architektur zur standortübergreifenden Datenbearbeitung

Um die große Menge der gesammelten Prozessdaten aus den drei Evolopro-Pilotketten zentral zu speichern und den Datenaustausch zwischen den Fraunhofer-Instituten zu erleichtern, baute das Projektteam eine so genannte Data-Lake-Architektu auf. Dabei handelt es sich um eine cloudbasierte Anwendung. Sie arbeitet mit einheitlichen Datenschnittstellen und ermöglicht für jede Domäne spezifische Beschreibungsmodelle – so genannte Ontologien. So lassen sich die hochgeladenen Daten eindeutigen zuordnen.

Die neue Cloud-Architektur ermöglichte den Teams einen standortübergreifenden, automatisierten Datenaustausch. Projektleiter Tim Grunwald sieht hier ein besonders großes Potenzial: „In der Produktion sind eindeutig gekennzeichnete Daten oft rar und teuer zu erstellen.“ Zudem sei es sehr aufwendig, eine Datenbasis auf Grundlage von Simulationen zu erschaffen. „Genau hier können unsere technologischen Entwicklungen aus dem Evolopro-Projekt einer direkten wirtschaftlichen Verwertung zufließen«, so Tim Grunwald.

In auf Evolopro aufbauenden Forschungsprojekten sollen nun die Konzepte des Digitalen Zwillings und der Digitalen Umwelt noch weiter ausgearbeitet werden. Die erarbeiteten Maßnahmen aus den Pilotketten wollen die Forschungsteams gezielt in Richtung Marktreife und Industrialisierbarkeit weiterentwickeln.

Evolopro-Projektpartner waren:

  • Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT, Aachen
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, Sankt Augustin
  • Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik IOF, Jena
  • Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, Freiburg
  • Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS, Dresden
  • Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU, Chemnitz
  • Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI, Sankt Augustin

Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr.-Ing. Tim Grunwald
Abteilungsleiter Feinbearbeitung und Optik
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT
Steinbachstr. 17
52074 Aachen
E-Mail: tim.grunwald@ipt.fraunhofer.de
URL www.ipt.fraunhofer.de

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