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Biologische Transformation für die Industrie

Biologische Transformation
Biologische Transformation braucht Zeit – fangen wir also jetzt an

Biologische Transformation braucht Zeit – fangen wir also jetzt an
Dr. Oliver Schwarz leitet die Gruppe Bionik und Medizintechnik am Stuttgarter Fraunhofer IPA und hat sich im Rahmen der Biotrain-Voruntersuchung in der Industrie umgehört Bild: Fraunhofer IPA
Wie die Biologische Transformation die Industrie und die Gesellschaft verändern könnte, fasst Dr. Oliver Schwarz vom Fraunhofer IPA zusammen. Er hat Experten und Querdenker im Rahmen der Biotrain-Voruntersuchung befragt und in seiner Gruppe bionische Lösungen entwickelt.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Dr. Schwarz, was war der Anlass für die Voruntersuchung Biotrain zur Biologischen Transformation?

Das Thema biologische Transformation erfährt seit einiger Zeit politische Aufmerksamkeit und ist auch im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung erwähnt. So initiierte das Bundesforschungsministerium im Jahr 2017 eine Voruntersuchung unter dem Namen Biotrain. Diese hat das Fraunhofer IPA in Stuttgart federführend durchgeführt, zusammen mit fünf anderen Fraunhofer-Instituten. Über 320 Fachleute wurden zu ihren Einschätzungen befragt. Das Ziel war, den Forschungsbedarf bei diesem Thema genauer zu definieren. Im Sommer 2018 haben wir die Ergebnisse in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Welche Erkenntnisse hat die Biotrain-Untersuchung geliefert?

Etwa 200 Forschungsthemen wurden identifiziert, darüber hinaus etwa 150 Gestaltungspläne. Dazu gehören die Integration der grünen Technologie in Bildungspläne oder das Einrichten von Plattformen für den gesellschaftlichen Dialog.

Was genau verstehen Sie unter dem Begriff biologische Transformation?

Für mich schließt die biologische Transformation eine enge Verknüpfung von Technik, Informationstechnologie und Biologie auf allen Ebenen ein. Seitens der IT geht es darum, das, was wir heute als Industrie 4.0 entwickeln, auch auf Systeme mit biologischen Anteilen anzuwenden. Das, was die Biologie beitragen kann, teilt sich in drei Bereiche auf: Erstens lernen wir von Prinzipien, die es in der Natur gibt. Zweitens nutzen wir Organismen oder ihre Bestandteile, um Stoffe auf-, um- oder abzubauen. Drittens können wir die biokybernetischen Regulationsmechanismen – also Steuerungsmöglichkeiten, die in Organismen und Ökosystemen wirken – untersuchen und das Gelernte für unsere Zwecke einsetzen. Wir müssen auch feststellen, dass das Prinzip von Industrie 4.0 an sich noch nicht nachhaltig ist: Wir wollen und müssen sehr viele Sensoren nutzen, um Daten zu erheben. Das alles verbraucht aber zunächst einmal Energie. Daher wäre der nächste Schritt, weniger, aber geschickt ausgewählte Daten zu erheben – oder zu lernen, komplexe Daten auszuwerten. Das ist die Lösung, für die wir in der Natur Vorbilder finden. Der Benefit wird sein, dass weniger Ausschuss produziert werden wird, weil die Probleme, die in der Produktion zu Ausschuss führen, früher erkannt werden können. Das spart dann wieder Energie und Material.

Was funktioniert in biologischen Systemen so anders als wir es heute aus der Industrie kennen?

Unsere heutigen Systeme entwickeln wir in etwa so, wie es unsere Vorfahren als Jäger und Sammler schon getan haben. Bislang betrachten wir vor allem kurzfristige Erfolge. Jäger beispielsweise sahen sich und ihre Gruppe mit Hunger konfrontiert, erlegten also ein Mammut. Ob es vielleicht das letzte seiner Art war, hat man sich nicht gefragt, sondern sich notfalls später nach einer neuen Lösung für die nächste Hunger-Situation umgeschaut. In der Natur finden wir solche auf kurzfristigen Erfolg ausgerichteten Lösungen nicht mehr. Hier setzte sich durch, was längerfristig funktionierte. Auch ist es in der Biologie kein Erfolgsrezept, einen Faktor allein zu optimieren. Nur wenn dieser nicht von starken Nachteilen begleitet war, konnte er stärker ausgeprägt werden. Wobei man bedenken muss, dass die natürlichen Auswahlvorgänge in viel größeren Zeiträumen abliefen. Die industriellen Systeme entstanden ja vor vergleichsweise kurzer Zeit, und wir beginnen gerade erst zu erfassen, welches Ausmaß ihre Auswirkungen annehmen. Viel Zeit haben wir also nicht, sondern sollten versuchen, von der Natur etwas abzuschauen.

Was lässt sich aus dieser Erkenntnis ableiten?

Wir müssen lernen, komplexer zu denken, nicht versuchen, ein einzelnes Maximum auf Kosten aller anderen Faktoren zu erreichen. Wenn wir einen maximalen Output in der Produktion oder einen maximalen Gewinn nur mit immensem Energieaufwand erreichen oder dabei erhebliche Mengen von Abfall generieren, wird das auf lange Sicht nicht gut gehen. Im Moment funktioniert dieses Vorgehen für ein Unternehmen noch, weil zum Beispiel die Kosten für die Entsorgung nach dem Produktlebensende von der Allgemeinheit getragen werden. So tauchen sie bei der Betrachtung der Wirtschaftlichkeit nicht auf. Das würde sich ändern, sobald es neue politische Vorgaben gibt: Dann müsste schon bei der Entwicklung ein Konzept mitgeliefert werden, was aus den Überresten eines Produkts wird. Oder wie man es schafft, dass gar keine Abfälle entstehen: Die Natur kennt interessanterweise keine Abfälle in unserem Sinne, sondern alles wird wiederverwertet. Unsere Systeme stecken in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen.

Wie könnte eine Verbesserung konkret aussehen?

Betrachten wir den privaten 3D-Druck. Die Geräte und die geeigneten Kunststoff-Materialien werden in großen Zahlen an private Nutzer verkauft. Diese experimentieren mit den neuen Möglichkeiten, wobei naturgemäß viel Ausschuss entsteht, den man im Grunde nur noch verbrennen kann. Es könnte sich lohnen, anstelle erdölbasierter Materialien hierfür auf holzbasierte Werkstoffe umzusteigen, die zum Beispiel aus Sägemehl hergestellt werden. Dann wäre der Abfall kompostierbar. Im Umfeld der biologischen Transformation wäre es darüber hinaus ideal, solche Fragen von Anfang an zu stellen, von Anfang an über den Moment des Verkaufs von Drucker und Werkstoff hinaus zu denken. Globale Transportwege sind ein anderer konkreter Ansatzpunkt. Für einen Hersteller ist es möglicherweise derzeit finanziell vorteilhaft, seine Produkte am anderen Ende der Welt herstellen zu lassen. Vielleicht werden diese für die Kunden so durch einen niedrigen Preis attraktiv. Auf lange Sicht zahlt die Menschheit insgesamt aber dafür, dass allein für den Transport sehr viel Rohöl verbraucht wird. Eine biointelligente Lösung würde eher auf die entlegene Werkbank verzichten – was auch unter dem Begriff der Wertschöpfungszellularität zusammengefasst wird.

Wie lässt sich so eine Denkweise verankern?

Zum einen brauchen wir gesetzliche Vorgaben, die es für die Wirtschaft interessant machen, so weit zu denken – weil ihr ansonsten finanzielle Nachteile entstünden. Das wäre eine Aufgabe für die Politik. Zum anderen müssen wir schon im Kindergarten anfangen, das Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir in einem System leben, in dem es viele komplexe Zusammenhänge gibt und eine Handlung gegebenenfalls an ganz anderer Stelle gravierende Folgen hat. Das lernen wir bisher spät oder gar nicht und sind geneigt, uns das Denken einfach zu machen.

Was für gravierende Folgen wären das zum Beispiel?

In der Medizin haben wir heute Probleme mit multiresistenten Keimen, die sich in dieser Form erst entwickelt haben, seit Antibiotika in der Breite eingesetzt wurden. Dahinter steckt ein komplexes System von Wechselwirkungen und auch wieder das lineare menschliche Denken, das diese nicht bedacht hat. Auch weiß man, dass Brustkrebs oder Prostatakrebs durch kleinste Mengen von hormonähnlichen Substanzen gefördert wird, was zu einem starken Anstieg bei diesen Erkrankungen weltweit führt. Die Entscheidung fällt bei der Materialauswahl für Produkte, die diese Substanzen freisetzen. Wobei das eine ist, dass man solche Gedankengänge überhaupt anstellen möchte – das andere wiederum ist die Möglichkeit, sinnvolle Schlussfolgerungen zu komplexen Zusammenhängen zu ziehen. Dabei wird uns die Entwicklung der KI in Zukunft sehr viel helfen.

Wer wäre ausreichend ausgebildet, um in solch komplexen Situationen die richtigen Fragen zu stellen?

 Wir brauchen Fachleute, die sich gut genug mit der Biologie auskennen, um ihre technischen Systeme zu beschreiben und zum Beispiel in Modellen nachzubilden und besser zu verstehen. Dafür werden auch neue Studiengänge gebraucht. Ein Beispiel dafür ist der noch junge Master-Studiengang Medizintechnik an der Universität Stuttgart, der eine Schwerpunktbildung in Bionik und Biomechanik anbietet. Auf jeden Fall wird die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen gefordert sein, mit Informationstechnik, mit Ingenieurwissenschaften oder dem Maschinenbau. Dafür braucht man in gewisser Weise Generalisten, mit deren Ausbildung wir früh beginnen müssen. Auch die Digitalisierung wurde ja durch den Mangel an Experten gebremst. China beispielsweise ist auf diesem Gebiet schon sehr weit vorangekommen.

Wie sehr müssen wir alle umdenken?

Ohne Umdenken wird sich nichts verändern. Es hat mich allerdings sehr erstaunt, wie weit manche Führungskräfte, die wir im Rahmen der Biotrain-Voruntersuchung interviewt haben, zum Teil schon denken. Allerdings gibt es noch viel zu wenig konkrete Lösungen, mit denen man Prozesschritte in der Wertschöpfung biologisch transformieren könnte. Dafür ist noch eine Menge Forschung erforderlich. Und es wird Mut gebraucht. Denn wenn der fehlt, bleibt man beim Bewährten, selbst wenn es Alternativen gäbe.


Weitere Informationen

Vom BMBF zur
Vorstudie Biotrain

http://hier.pro/C2Bju

Vom BMWi zu Biotechnologie und Bioökonomie

http://hier.pro/kgxsZ

BMBF und BMWi – über die Arbeiten an der Bio-Agenda, deren Eckpunkte im Sommer 2019 vom Kabinett verabschiedet werden sollen

http://hier.pro/TMGIw

Bionik und Medizintechnik am Fraunhofer IPA
(Dr. Oliver Schwarz)

http://hier.pro/6mX8p

Fraunhofer IPA zu biointelligenter Wertschöpfung:

http://hier.pro/K4iSG


Über Biotrain

Biotrain war eine breit angelegte Voruntersuchung zur „biologischen Transformation der industriellen Wertschöpfung“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) begleitet wurde. Mitglieder des Projektkonsortiums waren die Fraunhofer-Institute IGB, IML, IWM, IPA, IPT und IWU.

Die Autoren der Voruntersuchung fassen den Begriff der biologischen Transformation weit. Dazu zählen sie Mensch-Maschinen-Schnittstellen und der Einsatz von Exoskeletten in der Fabrik. Auch die Bionik, also die Inspiration durch natürliche Phänomene, ist Teil der grünen Transformation, etwa der Nachbau des Lotuseffekts oder ein Robotergreifarm, der einem Elefantenrüssel nachempfunden ist.

Daneben können klug designte Mikroorganismen vielfältige Aufgaben übernehmen, die bislang nur mit aufwendigen chemischen Prozessen zu lösen waren, etwa Metalle aus Mahlgut extrahieren oder Biokunststoff aus Abgasen gewinnen. Ziel der biologischen Transformation ist letztlich das „biointelligente System“, das regenerativ, kostengünstig und hochflexibel arbeitet.

www.produktion-dienstleistung-arbeit.de/de/abschlussveranstaltung-zur-voruntersuchung-biotrain-2141.html


 

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