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Methode verbessert Entwicklung von Medizinprodukten

Entwicklung von Medizinprodukten
Methode zeigt beim Entwickeln, was der Mediziner vom Medizinprodukt wirklich will

Methode zeigt beim Entwickeln, was der Mediziner vom Medizinprodukt wirklich will
Was Mediziner von Geräten erwarten, ist manchmal nicht leicht zu formulieren. Die Acta-Methode soll diese Wünsche erkennbar machen (Bild: auremar/stock.adobe.com)
Gezielte Interviews mit wenigen Experten reichen aus, um Verbesserungspotenziale für Medizinprodukte zu erkennen. Nach der so genannten Acta-Methode setzt die österreichische Vocationeers GmbH diese Erkenntnis in die Praxis um.

Prof. Werner Korb
Vocationeers, Hallein/Österreich

Beim Verbessern von Medizingeräten spielen nicht nur technische Aspekte eine Rolle, sondern auch viele ergonomische und anwendungsspezifische. Doch leider kann oft nicht einmal der Mediziner selbst genau in Worte fassen, was er möchte und wie ein Medizingerät gestaltet sein könnte, damit er damit besser arbeiten kann. Gewohnheiten, Erfahrungen und das Unbewusste oder Nicht-mehr-Bewusste spielen hierbei eine Rolle. Erkennen lassen sich solche schwer fassbaren Einflussfaktoren aber mit dem so genannten kognitiven Modell. Produktverantwortliche wie auch Entwickler können dieses Modell entweder selbst oder unterstützt durch unabhängige Berater für ihre Produkte nutzen.

Der Einsatz der Robotik in der Chirurgie ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wo das Problem liegt und wie das Modell weiterhilft. Seit Ende der 90iger Jahre hatten es automatisierte Lösungen schwer, Fuß zu fassen, da oft das Verbesserungspotenzial gegenüber manuellen Eingriffen nicht hoch genug war. Vor allem zu Beginn der Entwicklungen wurden auch die Risiken überschätzt. Die Hürden, die hier eine Rolle spielten, lassen sich am besten aus psychologischer Sicht erklären.

Die Hürde der Automation erkennen – und ihr entgegenwirken

Eine solche Hürde ist die „Ironie der Automation“: So sollte der Roboter die Operationen zumindest in Teilschritten sicherer machen. Dafür übernahm er wichtige Schritte wie das Fräsen oder Bohren. Der Chirurg schaute dabei mehr oder weniger zu, um die Schritte überwachen. „Dies führt jedoch dazu, dass der Chirurg ein geringeres Situationsbewusstsein für den aktuellen Operationsbereich hat“, sagt Dr. Norman Geissler, ausgebildeter Psychologe und langjähriger Forscher im Forschungszentrum “Innovative Surgical Training Technologies“ (ISTT) der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig. Das ISTT ist eines der wenigen Zentren, das über viele Jahre in diesem Bereich geforscht hat. „Wenn es dann Komplikationen gibt, deretwegen der Chirurg die folgenden Schritte der Operation wieder selbst übernehmen soll, ist er, der vorher eher unbeteiligt war, eigentlich unsicherer, als wenn er selbst operiert hätte – zumindest aus systemischer Sicht.“

Kognitive Modelle berücksichtigen solche Effekte, wenn sie herangezogen werden, um die Gestaltung und Benutzung von Medizingeräten zu verbessern – wie zum Beispiel beim chirurgischen Fräsen durch Roboter.

Viele kognitive Modelle sind verfügbar – eines eignet sich gut für die Entwicklung

Inzwischen gibt es mehr als einhundert kognitive Modelle, die sich in Details unterscheiden. Eines, das vergleichsweise einfach anzuwenden ist, wurde 1998 als so genannte Angewandte Cognitive Task Analysis (Acta) vorgestellt und von den Forschern Laura Militello und Robert Hutton in Dayton, Ohio, USA, entwickelt.

Im Unterschied zu den meisten in der Industrie und auch Medizintechnik bekannten Methoden werden bei der Acta „qualitative“ Forschungsansätze genutzt. Dabei führt man keine Umfragen oder Kurzinterviews durch, sondern macht Beobachtungen oder halb-standardisierte Tiefeninterviews. Die Beobachtungs- und Interviewprotokolle werden dann Wort-für-Wort transkribiert und als Text ausgewertet – und eben nicht wie sonst üblich statistisch. Durch diese Methodik bekommt man tiefere Einblicke in die Psychologie der Mensch-Maschine-Interaktion, sowie in die Expertise des anwendenden Arztes oder des medizinischen Personals.

Um die Acta selbst oder mit Beratern durchzuführen, sind mehrere Schritte erforderlich:

  •  Erstellen einer üblichen Task- oder Workflow-Analyse
  •  Wissens-Auditierung mittels Beobachtungsprotokollen oder halb-standardisierten Interviews. Dabei werden die Prozesse mit den Experten analysiert und nach Verbesserungspotenzialen abgeklopft. Die so genannten „Aspekte der Expertise“ wie beispielsweise „Job Smarts“, oder das „große Ganze“ (Big Picture) oder die „Selbstbeobachtung“ (Self-Monitoring) und viele Weitere sind dabei in jedem Fall zu beachten.
  •  Simulations-Interviews, bei denen Kunststoffmodelle, virtuelle Modelle oder mathematische Simulationen eingesetzt werden.
  •  Auswertung der vorhergehenden Schritte und Erstellen eine Tabelle der so genannten „Cognitive Demands“ – dabei hilft eine QDA-Software für die qualitative Daten-Analyse, die die Erkenntnisse aus der Wissens-Auditierung und den Simulations-Interviews auswertet.

Diese Methode soll Intuition und Erfahrung mehrerer Experten durch gezieltes Nachfragen und Vergleichen systematisch erfassen. Sie geht also über die Abfrage einzelner Expertenmeinungen hinaus und führt auch weiter als ein Optimieren, dass sich ausschließlich an quantitativen Marketing- oder Marktdaten orientiert. Die qualitative Methodik ist ein wissenschaftliches Verfahren, das durch das Acta-Prinzip praktisch anwendbar wird.

Erfahrungen mit der Acta-Methode in der Chirurgie

Erfahrungen damit hat die österreichische Vocationeers GmbH in Hallein. Ihre Mitarbeiter nutzen die Acta-Methode seit zehn Jahren in der Chirurgie – vor allem für die Entwicklung von Trainingsprodukten für die Medizin. Dabei hat sich gezeigt, dass in der Medizintechnik – insbesondere in der Chirurgie – bereits mit sechs bis zehn befragten Experten sinnvolle Ergebnisse möglich sind, wenn gute Task- und/oder Workflowanalysen als Basis vorliegen. Das resultierende Datenmaterial aus mindestens 300 bis 500 codierten Segmenten lässt sich kategorisieren und nutzen, um Trainingsprogramme oder Medizinprodukte zu verbessern.

Die Analysen ergeben ganz unterschiedliche Ergebnisse, je nach Produkt und Anwendungsfall. Bei einem Trainings-Produkt für die Wirbelsäulenchirurgie konnte so beispielsweise erkannt werden, dass simulierte Blutungen für das Training ein wesentlicher Bestandteil sind. Die Entwickler wollten dies zwar von Anfang an in das Produkt einbauen – durch die Acta konnte allerdings der „Beweis“ erbracht werden, dass dies auch aus chirurgischer Sicht großen Sinn ergibt. Ohne die kognitive Task-Analyse hätten die klinischen Berater den Entwicklungszweig mit den Blutungen „gekippt“.

Entwicklung: Erkennen, was im Kopf des Zahnarztes vor sich geht

Auch Bernhard Eder, Produktportfolio Manager bei W&H Dentalwerk Bürmoos GmbH, Österreich, hat die Acta-Methode erfolgreich in Kooperation mit Vocationeers eingesetzt. Das erste Projekt bzw. die Befragung von implantologisch tätigen Zahnärzten lief von Januar bis März 2020. Laut Eder ließen sich damit wichtige Detailerkenntnisse für das geplante Education Produkt gewinnen, die er in einer solchen Tiefe nicht erwartet hätte. „Wir konnten sozusagen in die Köpfe der Zahnärzte eintauchen und unsere Schlüsse ziehen. Die gewonnenen Erkenntnisse sind oft auf den ersten Blick nur Kleinigkeiten, jedoch im Gesamtkontext macht es genau den Unterschied in der Differenzierung zu bestehenden Angeboten.“ Dies will er nutzen: In Zusammenarbeit mit der „DTMD University for Digital Technologies in Medicine and Dentistry Luxembourg“ sollen die Ergebnisse der Analyse noch in diesem Jahr in einem Folgeprojekt umgesetzt werden.

Geeignet ist der methodische Ansatz auch für die Analyse von Interaktionen zwischen Personal und Maschinen oder auch Geräten.

www.vocationeers.at


Weitere Informationen

Ein Buch mit wissenschaftlichen Hitergründen zur Methode:
Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung,
Uwe Flick,
Rowohlt Taschenbuch;
9. Auflage, 2007


Acta verbessert Trainings

Die Acta-Methode hilft auch, Produkte zu verbessern, die von Medizinern und Herstellern für das digitale Training eingesetzt werden sollen. Die Frage, die Vocationeers dabei beschäftigt, ist: Wie müsste eine Webplattform aussehen, die handwerkliche Fähigkeiten mittels e-Learning vermitteln soll? Dazu hat Vocationeers mit acht Experten nach dem Acta-Konzept eine Analyse durchgeführt.

Fazit der Studie:

  • · Experten haben keine Zeit für Training
  • · Bisherige Online-Tools bringen in der Lehre nicht viel.

Aus der Studie hat sich daher ein Paradigmenwechsel für chirurgische Trainings-Tools der Zukunft ergeben: Bisher stand der Lernende im Fokus. Um aber für die Chirurgie zu gutem Content für digitales Training zu kommen, muss vielmehr der Experte in den Mittelpunkt gerückt werden, damit das Expertenwissen den Lernenden für besseres Lernen zur Verfügung steht.

Welche digitalen Mentoring- und Hospitationswerkzeuge dafür genutzt werden können, ist noch zu erforschen. In einem Projekt der Österr. Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) wird das derzeit in dem Projekt „Sebastian“ untersucht. Ziel ist das Erstellen einer Online-Plattform.

www.mysebastian.at


Kontakt zu Vocationeers:

Vocationeers GmbH
Gänsbichlstraße 10
5400 Hallein
Österreich
Tel +43 6607 602103
E-Mail: info@vocationeers.at
www.vocationeers.at

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