Frau Gladkov, welche Rolle spielt die Digitalisierung bisher im Gesundheitswesen – und wie schnell schreitet Sie voran?
Es gibt bereits eine immense Bandbreite an Produkten, die zur Digitalisierung im Gesundheitswesen beitragen. Das umfasst sowohl kleine als auch große Geräte, Apps und natürlich alles, was zur Telematikinfrastruktur gehört. Derzeit erleben wir in all diesen Bereichen eine starke Beschleunigung in der Entwicklung. Dazu tragen auch die Impulse bei, die jüngst durch die Gesetzesinitiativen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gesetzt wurden. Viele etablierte Hersteller prüfen, ob und wie sie in diesem Bereich zusätzlich aktiv werden können.
Welche Position haben Deutschland oder auch Europa im globalen Wettbewerb bei digitalen Lösungen für die Gesundheitssysteme?
Ein Vergleich ist schwierig, da die Gesundheitssysteme in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sind. Oft ist zu hören, in Europa sei Estland auf diesem Weg besonders weit vorangekommen. Aber das dortige System ist anders als das hiesige, und auch die Kultur ist unterschiedlich. Es gibt auch immer wieder Höhen und Tiefen, was sich beim Gesundheitssystem in den USA gezeigt hat. Was man aber sagen kann ist, dass wir in Deutschland Potenziale haben, die wir jetzt nutzen sollten. Das jüngst verabschiedete Digitale-Versorgung-Gesetz, das DVG, ist meiner Meinung nach ein Meilenstein auf diesem Weg. Wir haben zahlreiche Mitgliedsunternehmen – auch au dem Ausland –, die das, was sich gerade in Deutschland tut, sehr aufmerksam beobachten und positiv bewerten.
Was beschleunigt diese Entwicklung – und was bremst sie?
Technisch würde ich da nichts hervorheben wollen, da befinden wir uns in einer kontinuierlichen Entwicklung. Es gibt natürlich besonders viele junge Unternehmen, die ihre Ideen ein bringen. Wenn es uns gelingt, den Dialog zwischen ihnen und den etablierten Medizinprodukteherstellern zu fördern, könnte das zu interessanten Synergien führen. Ein sehr wichtiges Thema, dass die Digitalisierung hemmt, ist allerdings der Investitionsstau in den deutschen Krankenhäusern. Wir sollten uns sehr schnell Gedanken darüber machen, welche Gesetze oder Investitionen erforderlich wären, um bei diesem Thema voranzukommen.
Besetzen die digitalen Angebote neue Nischen, erweitern sie vorhandene Produkte oder ersetzen sie bisherige Angebote?
Es gibt alle drei Varianten. Software kann eine Erweiterung eines bestehenden Produktes sein, wenn ich zum Beispiel an ein Implantat mit Sensor denke, der Belastungsdaten erfasst. Diese könnten mit einer App ausgewertet werden, um dem Patienten Hinweise zu geben: Vermeide diese Belastung oder führe jetzt am besten jene Übung aus. Wir bekommen auch neue Zielgruppen für digitale Medizinprodukte: Bisher spielte sich Medizintechnik eher auf einem B2B-Markt ab, aber für den digitalen Bereich kommt der Consumer als Kunde hinzu. Und der Einsatz künstlicher Intelligenz ermöglicht ganz neue Typen von Produkten, auch wenn die Technik den Arzt nie ersetzen können wird.
Sie sind beim BVMed Referentin Digitale Medizinprodukte. Was fällt unter diesen Begriff?
Wir verstehen darunter alle Medizinprodukte, die eine digitale Komponente haben. Das können die schon erwähnten Implantate mit Sensor plus App sein, die wir als Kombinationsprodukte bezeichnen. Aber wir zählen dazu auch Software-Komponenten innerhalb eines Krankenhausinformationssystems, das Verordnungen erstellt. Damit fassen wir den Begriff weiter als das, was im Sinne des Digitale-Versorgung-Gesetzes als digitale Gesundheitsanwendung, kurz Diga, bezeichnet wird. Laut Definition kann eine Diga nur ein Produkt sein, dass ein Medizinprodukt der Klasse I oder IIa gemäß MDR ist und einen positiven Versorgungseffekt aufweist.
Wie wird aus einem Medizinprodukt künftig eine Digitale Gesundheitsanwendung, eine Diga?
Für digitale Medizinprodukte der Klasse I oder IIa kann der Hersteller beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, dem BfArM, die Aufnahme in das Diga-Verzeichnis beantragen. Genauer beschrieben ist das in der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (Digav). Diese führt aus, wie die Vorgaben des DVG umgesetzt werden sollen. Der derzeit vorliegende Referentenentwurf sieht vor, dass das BfArM die digitalen Gesundheitsanwendungen nicht mehr auf die Eigenschaften prüfen muss, die im Rahmen der CE-Kennzeichnung begutachtet wurden. Das begrüßen wir, denn das beschleunigt den Prozess und vermeidet doppelten Aufwand. Unklar ist derzeit noch, wie konkret der geforderte Nachweis von positiven Versorgungseffekten erfolgen soll. Die Details wird das BfArM in einem Leitfaden beschreiben, mit dem wir in den nächsten Wochen rechnen.
Wie viele digitale Medizinprodukte gemäß Ihrer Definition gibt es derzeit?
Dazu gibt es keine konkrete Zahl, das Portfolio ist schon recht groß, auch wenn wir uns mit diesem Segment sicher noch am Anfang der Entwicklung befinden. Es kursieren Zahlen, denen zufolge wir über 150 000 Gesundheits-Apps haben. Davon sind aber nur wenige zertifizierte Medizinprodukte. Wie viele davon letztlich als digitale Gesundheitsanwendung gemäß DVG beim BfArM gelistet und damit durch die Krankenkassen erstattet werden können, lässt sich derzeit nicht sagen.
Welche Vorgaben macht die MDR, die Medical Device Regulation, im Hinblick auf Digitale Medizinprodukte?
Für ein Medizinprodukt egal welchen Typs gelten in vollem Umfang die Vorgaben der europäischen Medizinprodukteverordnung, der MDR. Für digitale Produkte heißt das, dass sie in den Klassen höher gestuft werden und der Dokumentationsaufwand sich im Vergleich zu den bisherigen Vorgaben um ein Vielfaches erhöht.
Wie unterstützen Sie seitens des BVMed die Anbieter im Bereich der digitalen Medizinprodukte und des DVG?
Wir sind als Verband sehr gut aufgestellt und haben viele Experten im Bereich MDR und Nutzenbewertung, die bei Bedarf unseren Mitgliedsunternehmen Fragen beantworten. Die etablierten Hersteller sind mit den Vorgaben rund um die klassischen Medizinprodukte schon sehr gut vertraut. Wir sehen allerdings, dass es zur MDR bei den jungen Unternehmen, die im digitalen Thema zu Hause sind, noch sehr viele Unsicherheiten zum Medizinprodukterecht gibt. Erste Interessensbekundungen zu einer Mitgliedschaft im BVMed liegen uns von solchen Akteuren bereits vor – und es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie man diese bei ihrem bisherigen Kenntnisstand abholt und am besten unterstützt.
Welche Entwicklungen bei digitalen Medizinprodukten finden Sie derzeit besonders spannend?
Die künstliche Intelligenz bietet so viele Möglichkeiten für digitale Medizinprodukte, dass ich davon ausgehe, dass sich die Gesundheitsberufe dadurch deutlich verändern werden. Das kann ein Radiologe sein, der seine Zeit nicht mehr mit dem Durchsehen zahlreicher befundfreier Aufnahmen verbringt, sondern sich genauer mit von der KI vorausgewählten Datensätzen befasst. Aber es gibt sicher noch mehr Ansatzpunkte für neue Aufgabenfelder. Ein weiteres Feld ist die Robotik. So stünde zum Beispiel der körperlich mitunter sehr anstrengende und kraftaufwendige Beruf des Chirurgen mehr Interessenten und Interessentinnen offen. Vorher gilt es allerdings noch, die Berührungsängste bei den Patienten abzubauen. Aber spannend sind diese neuen Möglichkeiten allemal.
Das Digitale-Versorgungsgesetz (DVG)
Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat der Bundestag am 7. November 2019 verabschiedet. Es soll digitalen Lösungen einen schnelleren Weg in die Regelversorgung öffnen und damit eine hochwertige und wirtschaftliche Gesundheitsversorgung ermöglichen.
Mit zwei Regelungen, die in § 33a und § 139e SGB V beschrieben sind, soll ein „Fast-Track-Verfahren“ entstehen, mit dem digitale Gesundheitsanwendungen (Diga) in die Regelversorgung Eingang finden. Nachdem das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die digitale Gesundheitsanwendung geprüft hat, wird sie in das Verzeichnis nach § 139e SGB V aufgenommen. Die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (Digav) soll festlegen, was im einzelnen erforderlich ist, bis eine Diga ins BfArM-Verzeichnis aufgenommen wird.
Digitale Gesundheitsanwendungen sind Medizinprodukte, die gemäß MDR sowie im Rahmen einer Übergangsfrist nach der bisher gültigen Medical Device Directive (MDD) einer niedrigen Risikoklasse – also Klasse I oder IIa – zuzuordnen sind. Neu ist dabei, dass hier Medizinprodukterecht für die digitalen Gesundheitsanwendungen einbezogen wird und die digitale Gesundheitsanwendung ausdrücklich ein zertifiziertes, digitales Medizinprodukt sein muss.
Kontakt zum BVMed:
BVMed e.V.
Reinhardtstr. 29 b
10117 Berlin
Natalie Gladkov
Referentin Digitale Medizinprodukte
Tel. +49-(0)30-246255-30
www.bvmed.de