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Neuroengineering: So spricht die Prothese die Sprache des Gehirns

Neuroengineering
Neuroengineering: Prothesensignale, fürs Gehirn gemacht

Neuroengineering: Prothesensignale, fürs Gehirn gemacht
Die Wiederherstellung des natürlichen sensorischen Feedbacks führt zu funktionellen und kognitiven Vorteilen für Beinprothesenträger (Bild: Pietro Comaschi)
Prothesen mit Anschluss ans Nervensystem gibt es bereits. Aber wie gut kann das Nervensystem mit den gesendeten Signalen umgehen? Schweizer Neuroengineering-Experten wollen biomimetisch vorgehen, damit die Kommunikation mit dem Gehirn besser klappt.

Seit einigen Jahren gibt es Prothesen, die an das Nervensystem angeschlossen sind. Nun legen Forschende an der ETH Zürich nahe, dass solche Neuroprothesen besser funktionieren, wenn sie Signale verwenden, die der Natur nachempfunden sind.

Bereits vor einigen Jahren erregte das Forschungsteam um Prof. Stanisa Raspopovic vom Neuroengineering Lab der ETH Zürich weltweit Aufsehen. Damals berichteten die Forschenden vom Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie, dass ihre Beinprothesen es Amputierten erstmals erlaubten, den Ersatzkörperteil zu spüren. Denn im Unterschied zu aktuell erhältlichen Beinprothesen, die amputierte Personen einfach stützen, waren die Prothesen der ETH-​Forschenden mittels implantierten Elektroden mit dem Ischiasnerv im Oberschenkelstumpf verbunden.

Beinprothese mit Neurofeedback

Neuroengineering: Fühlen, was am Fuß der Prothese passiert

Dadurch konnten die Neuroprothesen dem Gehirn Informationen übermitteln, etwa über Druckbelastung an der Fußsohle der Prothese, die sich beim Gehen ständig ändert. Das führte dazu, dass die Probanden dem Ersatzkörperteil mehr vertrauten – und etwa auch auf schwierigem Untergrund rascher gehen konnten. „Im Unterschied zu unserer experimentellen Beinprothese sind aktuelle Neuroprothesen allerdings noch nicht in der Lage, ein natürliches Gefühl zu erzeugen“, sagt Raspopovic. „Oft führen sie stattdessen zu unangenehmen Empfindungen wie etwa einem Kribbeln auf der Haut.“

Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass aktuelle Neuroprothesen für das Stimulieren des Nervensystems elektrische Pulsationen verwenden, die sich regelmäßig wiederholen. „Das ist unnatürlich und ineffizient“, sagt Raspopovic. Wie er und sein Team in einer kürzlich veröffentlichten Publikation am Beispiel ihrer Beinprothesen nun zeigen, lohnt es sich, auf eine biomimetische Stimulation zu setzen. Bei der Entwicklung der nächsten Generation von Neuroprothesen könnten dann Signale gesendet werden, die der Natur nachempfunden sind.

Mechanorezpetoren: Modell simuliert Nervenaktivität in der Fußsohle

Um solche biomimetischen Signale erzeugen zu können, entwickelte Natalija Katic, eine Doktorandin aus Raspopovics Forschungsgruppe, ein Computermodell namens Footsim. Es stützt sich auf Daten von Forschenden aus Kanada, die die Aktivität von speziellen Sinneszellen in der Fußsohle aufzeichneten, von so genannten Mechanorezeptoren. Die Füße gesunder Probanden wurden dafür an verschiedenen Stellen mit einem vibrierenden Stab berührt.

Mit Neurofeedback fühlt sich die Prothese leichter an

Das Modell simuliert das dynamische Verhalten einer Vielzahl von Mechanorezeptoren in der Fußsohle und errechnet die Nervensignale, die sich vom Fuß blitzschnell beinaufwärts in Richtung Gehirn fortbewegen. Dies vom Moment an, da der Fuß mit der Ferse auf den Boden aufsetzt, dann das Gewicht des Körpers über die Fußaußenkante abrollt, bis die Zehen wieder für den nächsten Schritt hochgezogen werden. „Das Modell zeigt uns auf, wie sich die Sinneszellen in den Fußsohlen während dem Gehen oder Rennen verhalten, was experimentell unmöglich zu messen ist“, sagt Katic.

Wie gut diese vom Modell errechneten biomimetischen Signale mit echten Nervensignalen übereinstimmen, prüfte Giacomo Valle, ein Postdoc aus Raspopovics Forschungsgruppe, mit Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, Serbien und Russland in einem Experiment mit Katzen. Deren Nervensystem verarbeitet Bewegungen ähnlich wie das der Menschen.

Neuroengineering: Erkenntnisse aus Experimenten mit Katzen

Die Forschenden implantierten Elektroden. Einige waren an den Nerv im Bein und andere an das Rückenmark anschlossen. So war ablesbar, wie die Signale im Nervensystem übertragen werden. Dann übten die Forschenden von unten her Druck auf die Katzenpfote aus und riefen so die natürliche Nervenaktivität während eines Katzenschritts hervor. Die dabei im Rückenmark aufgezeichneten Aktivitätsmuster glichen tatsächlich den Mustern, die sich im Rückenmark zeigten, nachdem die Forschenden den Nerv im Bein mit biomimetischen Signalen stimuliert hatten.

Fühlen wie beim Original

Im Gegensatz dazu rief die herkömmliche starre Stimulation des Ischiasnervs im Oberschenkel der Katzen ein deutlich anderes Muster im Rückenmark hervor. „Die üblicherweise verwendeten Stimulationsmethoden führen offenbar dazu, dass die neuronalen Netze in der Wirbelsäule mit Informationen überflutet werden“, sagt Valle. „Diese Überlastung könnte der Grund sein für die unangenehmen Empfindungen oder Parästhesien, von denen einige Betroffene berichten, wenn sie Neuroprothesen tragen“, fügt Raspopovic hinzu.

Biomimetische Signale ermöglichen schnellere Bewegungen mit der Prothese

Dass die biomimetische der starren Stimulation überlegen ist, wiesen die Forschenden schließlich in der klinischen Studie mit Beinamputierten nach. Die der Natur nachempfundenen Signale führten zu eindeutig besseren Resultaten: Die Probanden konnten dadurch rascher Treppen steigen. Zudem machten sie weniger Fehler, wenn sie beim Treppensteigen versuchten, Wörter rückwärts zu buchstabieren. „Dank der biomimetischen Neurostimulation können sich die Probanden beim Gehen auch auf andere Dinge konzentrieren. Das zeigt uns, dass diese Art der Stimulation natürlicher verarbeitet wird und das Gehirn weniger belastet“, sagt Raspopovic.

Der ETH-​Professor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme meint, dass die neuen Erkenntnisse nicht nur für die Beinprothesen von Bedeutung sind, mit denen er und sein Team sich schon seit über fünf Jahren beschäftigen. Auch für eine Reihe von anderen Instrumenten und Apparaten gelte das. Dazu zählen etwa Wirbelsäulenimplantaten oder Elektroden für die Hirnstimulation. Hier sei es ebenfalls wichtig, von der bisher verwendeten unnatürlichen sich starr wiederholenden Stimulation abzukommen. „Wir müssen die Sprache des Nervensystems erlernen“, sagt Raspopovic. „Dann können wir so mit dem Gehirn kommunizieren, dass es uns gut versteht.“

Mehr zur Arbeit von Prof. Raspopovic

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