OP-Plätze für experimentelle Entwicklungsprojekte und Schulungen bietet das Institut für Klinische Anatomie in Tübingen an – immer dann, wenn keine Kurse für Studierende laufen. Von der modernen Ausstattung und der Kompetenz profitieren Ärzte und Medtech-Unternehmen.
Wie modern kann das Fach Anatomie sein? Sehr modern, würde PD Dr. Bernhard Hirt vom Institut für Klinische Anatomie in Tübingen sagen. Sie kann sogar zum medizinischen und medizintechnischen Fortschritt beitragen: durch Entwicklungsprojekte – auf Wunsch mit medizinischer Beratung – und durch Schulungen. Nach diesem Konzept hat der Leiter der Tübinger Anatomie sein Institut auf- und ausgebaut, unterstützt von Medtech-Unternehmen, die einen Teil der modernen Ausrüstung des neuen Gebäudes bereitgestellt haben.
Das kommt nicht nur der studentischen Ausbildung zu Gute. In den kursfreien Zeiten – und das ist der größte Teil des Jahres – steht das Equipment für die medizinische und medizintechnische Forschung zur Verfügung. Stellt dann zum Beispiel ein Chirurg eine Operationsmethode in Frage oder hat eine Idee, wie man besser an das erkrankte Gewebe herankommen könnte, kann er sein Verfahren in Tübingen an Präparaten menschlicher Körper testen. Gleiches gilt für Hersteller von Medizinprodukten, die bei der Entwicklung eines Instruments beraten werden wollen. Sie können Prototypen testen oder auch die vorgeschriebenen Usability-Tests an neuen Produkten durchführen.
„Wir bekommen inzwischen viele solcher Anfragen, von Ärzten wie auch aus der Industrie“, berichtet Hirt. Von Mitte Oktober bis Mitte Dezember stehen zwar jedes Jahr rund 400 Studierende an den elf Operationstischen im OP-Saal und lernen die Grundlagen der Anatomie kennen. In der verbleibenden Zeit aber bearbeiten die Tübinger mehrere Projekte pro Woche, ob Schulung, Test oder Entwicklung. Wenn Unternehmen den OP-Saal nutzen wollen, müssen sie mittlerweile eine Vorlaufzeit von rund sechs Monaten einkalkulieren.
Von diesen Testmöglichkeiten machen sowohl große als auch kleine Unternehmen Gebrauch. „Wir sind als akademische Einrichtung offen für die Kooperation mit allen Unternehmen und haben auch Interesse daran, die neuen Produkte aus der Industrie kennenzulernen“, sagt Hirt. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist jeweils ein Vertrag mit der Uni, in dem die Nutzungsbedingungen, die Rechte und Pflichten der Industriepartner und der Hochschule festgelegt sind. Eine der Vorgaben dabei ist, dass alle Projekte ihren wissenschaftlichen oder Fortbildungscharakter nachweisen können. „Darauf legen wir großen Wert, da wir mit Präparaten von Körperspendern arbeiten.“ Werbliche Elemente dürfen bei den Veranstaltungen nicht in der Vordergrund treten. Was damit gemeint ist, erläutert der Institutsleiter am Beispiel der Schulungen. Solche Veranstaltungen für Ärzte werden aus den Gebühren finanziert, die die Teilnehmer entrichten, sowie aus Sponsoring-Geldern der Industrie. Die Fortbildungen konzentrierten sich zumeist auf ein spezielles medizinisches Thema. „Natürlich spielt dabei auch die aktuelle Medizintechnik mit den relevanten Produkten eine Rolle“, sagt Hirt. „Es steht aber nicht ein bestimmter Hersteller im Vordergrund.“
Alle Einnahmen fließen in die Erhaltung und den Ausbau der Infrastruktur des Instituts – wovon dann wieder die Ausbildung und die Forschung profitieren. Da weder die Uni noch die Mitarbeiter von den Veranstaltungen finanzielle Vorteile haben, bleiben die Kosten laut Hirt trotz der besonderen Ausstattung mit denen anderer Fortbildungsanbieter vergleichbar.
Schulungen für Mitarbeiter aus der Industrie sind eine weitere Säule des Institutskonzepts. Dabei reicht das Spektrum von Grundlagen der Anatomie über das richtige Verhalten im Operationssaal bis hin zu spezielleren Fragestellungen. Was sinnvoll und möglich ist, sei im Einzelfall mit den Referenten zu klären, sagt Hirt. Und auch außerhalb der Schulungen ist das medizinische Fachwissen der Tübinger gefragt. „Inzwischen nehmen immer mehr Unternehmen das Angebot an, bei der Planung und Entwicklung ihrer Produkte auf die medizinische Kompetenz bei uns sowie unsere Kontakte zu Fachleuten zurückzugreifen.“
Ihr Know-how und ihre technischen Möglichkeiten wollen die Mitarbeiter in der Anatomie demnächst weiter ausweiten. „In fast allen Disziplinen tut sich viel bei der 3D-Visualisierung“, sagt Hirt. „Da wollen wir dabei sein, die Technologie mit weiterentwickeln.“ Daher laufen die Planungen für entsprechende Umbauten in Operations- und Hörsaal. Eine weitere Perspektive bietet sich nach Auskunft des Institutsleiters im Bereich telemedialer Unterrichtsformen. Schon jetzt können alle Bilder aus dem OP der Anatomie aufgenommen, am intergrierten HD-fähigen Regieplatz geschnitten und als Live-Stream ins Internet übertragen werden, wie das bei der Sectio chirurgica im Herbst wieder der Fall sein wird. Diese Technik ermögliche sogar eine Fortbildung für Teilnehmer in Bangkok, wenn der Chirurg in Tübingen operiert.
Und was macht die Tübinger Anatomie für die Tests an Medizinprodukten besonders interessant? Dr. Hirt: „Wir haben nicht nur eine Ausrüstung auf dem Stand der Technik, wir können sie auch direkt am menschlichen Körper einsetzen und müssen nicht auf Tiermodelle oder Simulatoren ausweichen. Und wir sind nicht auf eine Fachrichtung spezialisiert, sondern haben alle chirurgischen Disziplinen vor Ort.“
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über das Institut für Klinische Anatomie in Tübingen: www.anatom.uni-tuebingen.de/klinanatom Über Inhalte, Ziele und Hintergründe der Sectio chirurgica hat Dr. Hirt im Interview mit medizin&technik berichtet (Ausgabe 3/2012).
Perspektiven bei 3D-Visualisierung und telemedialen Angeboten
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