Herr Professor Münzel, Daten einer Smartwatch haben die Behandlung einer 80-Jährigen verbessert. Wie kam es dazu – und hat Sie das überrascht?
Die Seniorin kam mit Brustschmerzen, unregelmäßigen Puls und dem Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, zu uns in die Kardiologie. Das alles sind Symptome einer Koronaren Herzkrankheit, kurz KHK, und Vorboten eines Herzinfarkts. Doch EKG und Blutuntersuchung waren erstmal unauffällig. Den entscheidenden Hinweis lieferten EKG-Aufzeichnungen, die die Patientin selbst vorab mit ihrer Smartwatch gemacht hatte. Darin waren deutliche Hinweise auf eine schwere akute Herzdurchblutungsstörung erkennbar – obwohl die App dafür gar nicht ausgelegt ist.
Die Untersuchung mit dem Herzkatheter hat die schwere KHK bestätigt, sodass wir dann die Herzkranzgefäße der Patientin gedehnt und mit Stents versorgt haben. Dass die EKG-App auch Hinweise auf Durchblutungsstörungen liefern kann, war überraschend, und das haben wir daher bereits im European Heart Journal publiziert.
Wird die EKG-App künftig auch auf Durchblutungsstörungen hinweisen?
Apple wird sicher versuchen, einen solchen Algorithmus zu erstellen: Dieser sollte den Patienten darauf hinweisen, dass es im EKG Anzeichen dafür gibt, dass weitere ärztliche Untersuchungen erforderlich sind.
Wie häufig fließen bereits Smartwatch-Daten in die alltägliche medizinische Behandlung ein?
Wir haben heute etwa fünf Prozent der Patienten, die mit einem EKG-Ausdruck zu uns kommen, dessen Daten aus einer Smartwatch stammen. Das ist ein kleiner, aber signifikanter Anteil – und dieser Trend ist erfreulich, denn gerade eine Herzrhythmusstörung wie das Vorhofflimmern ist trotz der Gefährdung, die damit verbunden ist, unterdiagnostiziert. Daher begrüße ich es ausdrücklich, wenn Patienten solche Daten mitbringen. Und dass das Alter dafür kein Hinderungsgrund sein muss, zeigt das erwähnte Beispiel der 80-jährigen Patienten.
Wie zuverlässig sind Daten, die eine Smartwatch zur Herzgesundheit liefert?
Im Grunde sehr zuverlässig: Voruntersuchungen haben gezeigt, dass es eine 95-prozentige Übereinstimmung gibt zwischen dem Vorhofflimmern, das von einer Smartwatch detektiert wurde, und dem klinisch dokumentierten Vorhofflimmern. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn unklar ist, unter welchen Bedingungen etwas aufgezeichnet wurde. Wer sein EKG beim Sport schreibt, bekommt keine verwertbaren Daten. Und bei Aussetzern sind Mediziner vorsichtig. Da könnte sowohl ein Problem der Datenübertragung vorliegen als auch eine echte Pause des Herzschlages.
Machen mobile Technologien den Herstellern klassischer Medizinprodukte Konkurrenz?
Die Kombination aus App und Mobilgerät ist heute eine Ergänzung, deren Daten uns den entscheidenden Tipp geben kann, in welcher Richtung wir einen Patienten mit klassischen Medizinprodukten weiter untersuchen. Aber je zuverlässiger Apps werden und je verlässlicher sie sich in klinischen Studien zeigen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie bis zu einem gewissen Grad auch die klassischen Produkte ersetzen. Sie sind inzwischen so einfach zu bedienen, der Patient muss nicht extra einen Arzt aufsuchen – das kann gerade in Zeiten einer Pandemie ein wichtiges Argument sein, das zur Verbreitung dieser Technologie führt.
Wofür empfehlen Sie Patienten heute die Nutzung medizinischer Apps ?
Um Vorhofflimmern nachzuweisen, sind Apps und mobile Geräte sehr sinnvoll, da der Patient sie in dem Moment einsetzen kann, wo er körperliche Beschwerden und einen unregelmäßigen Herzschlag verspürt. Darüber hinaus halte ich Apps zur Prävention in vielen Bereichen für sinnvoll.
Welche weiteren medizinischen Einsatzmöglichkeiten sehen Sie für Apps auf mobilen Geräten?
Es ist sicher vorstellbar, mittels einer App und eines mobilen Geräts medizinische Kennzahlen zu erfassen und zu archivieren. Ich denke da an Puls, arterielle und intrakranielle Spannung, an Informationen zur Herzfunktion oder auch zum Schlaf. Bereits heute gibt es Apps, die die Einnahme von Medikamenten überwachen und damit die Behandlung unterstützen. Künftig werden medizinische Zentren oder Kliniken sicher vermehrt Apps nutzen, um mit Patienten zu interagieren. Und auch Fitness Apps oder solche, die Tipps für einen gesunden Lebensstil liefern, dienen der Gesundheit.
Welche Bedeutung werden Apps Ihrer Einschätzung nach in Zukunft haben?
Medical Apps können helfen, Krankheiten zu vermeiden oder zu mildern. Es gibt schon viele solcher Angebote in den Kategorien Medizin oder Gesundheit und Fitness. Darüber hinaus werden wir mit Apps künftig sicherlich medizinische oder pflegerische Leistungen zum Patienten bringen. Die Voraussetzungen sind gegeben: Mobilfunkgeräte sind sehr weit verbreitet, Menschen in ländlichen Regionen haben ohne sie oft keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und sind daher auch bereit, digitale Wege zu nutzen. Und angesichts einer alternden Bevölkerung, einem absehbar steigenden Mangel an Pflegepersonal und steigender Gesundheitskosten werden wir auf solche Möglichkeiten zurückgreifen müssen.
Die Smartwatch und das Herz
Die in Mainz untersuchte Seniorin trug eine Smartwatch von Apple. Das Gerät, die Apple Watch 4, ist technisch so ausgestattet, dass es einen unregelmäßigen Herzschlag erkennen kann. Auf der Rückseite der Uhr sind ein optischer Pulssensor sowie ein elektrischer Sensor angebracht, die von einer Elektrode in der Krone ergänzt werden. Hat der Nutzer die zugehörige EKG-App auf seinem Gerät installiert, kann er ein 1-Kanal-EKG aufzeichnen. Dafür reicht es, die App zu starten und einen Finger aufzulegen.
Die App wird von der American Heart Association (AHA) unterstützt: Sie kann dazu beitragen, einen unregelmäßigen Herzrhythmus möglichst früh zu erkennen. Die FDA hat die App als Medizinprodukt zum Monitoring gesundheitsrelevanter Informationen zugelassen. Im Device Approval Letter weist die Behörde allerdings ausdrücklich darauf hin, dass die Ergebnisse der App von einem Arzt abgeklärt werden müssen.
Medical Apps zur Herzgesundheit sind CE-zertifiziert und auch in Deutschland verfügbar. Eine Europäische Studie dazu, ob eine App zum Screening von Risikopatienten geeignet ist, läuft. Auch Apple betreibt Studien zu seinen Gesundheits-Apps: In der Apple Heart Study beispielsweise wird in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Stanford Medicine eine Strategie für die EKG-Diagnostik entwickelt, die auch ein Sieben-Tage-Langzeit-EKG umfasst.