Herr Professor Fussenegger, Sie lösen im Labor mit Licht die Produktion von Insulin in gentechnisch veränderten Zellen aus. Welche Vision steht dahinter?
Patienten, die an Diabetes erkrankt sind, messen heute in der Regel die Glukosekonzentration im Blut und spritzen sich eine entsprechende Menge Insulin. Die Krankheit selbst bleibt dabei bestehen und wird von außen behandelt. Was wir erreichen wollen, ist, dass der Körper selbst wieder das fehlende Hormon produziert. Dafür nutzen wir gentechnisch veränderte Zellen. Sie reagieren auf Licht: Grünes Licht, wie es zum Beispiel eine moderne Smartwatch aussendet, regt in diesen Zellen die Produktion von Insulin an. Fehlt das Licht, wird das Hormon auch nicht mehr gebildet. Mit einer entsprechenden App, die die Lichtaussendung steuert, lässt sich also prinzipiell die verlorene Funktion der Bauspeicheldrüse ersetzen und kontrollieren. Man kann sagen, der Patient lässt sich so heilen.
Neue Diabetes Therapie kombiniert Elektronik und Gentechnik
Was macht den Ansatz so besonders?
Wir sind an einem Punkt, an dem Elektronik und Gentechnik zu einer neuen Form der Medizin verschmelzen. Nun muss im Prinzip nicht einmal ein neues Gerät entwickelt werden, um die Therapie zu steuern. Eine herkömmliche Smartwatch reicht aus. Das grüne Licht, das sie aussenden kann, wird auch bisher schon für Apps genutzt, die mit der Gesundheit zu tun haben, um zum Beispiel die Pulsfrequenz beim Laufen zu erfassen. Für eine medizinische Nutzung bei Diabetes müsste natürlich klar sein, dass das grüne Licht ausschließlich für die Steuerung der Insulinproduktion eingesetzt wird. Aber das lässt sich über eine App regeln.
Woher bekommt die App die Informationen zum Zuckergehalt im Blut?
Es gibt Forschergruppen, die ebenfalls über Licht und damit nicht-invasiv den Zuckergehalt messen wollen. Wenn wir unser auf Gentechnik plus Licht basierendes Verfahren mit der lichtbasierten Messtechnik kombinieren, kommen wir zu einem Closed-Loop-Verfahren, das ohne Zutun des Patienten oder eines Arztes die erforderlichen Insulinmengen generiert.
Closed-Loop-Verfahren, aber ohne Nadeln und Schläuche
Worin liegt der Unterschied zur Therapie mit einer Insulinpumpe?
Auch die Insulinpumpe ist als automatisiert arbeitendes System gedacht, das mit einem geschlossenen Regelkreis arbeitet. Insulinpumpen sind bereits auf dem Markt. Dennoch gibt es bei diesen Produkten noch mehrere Nachteile. Das Insulin liegt zunächst außerhalb des Körpers vor. Es muss bevorratet und gekühlt werden, es darf nicht kontaminiert werden, es braucht den Schlauch und immer wieder neu angebrachte Nadeln, um in den Körper zu gelangen. Die Nadeln können verstopfen, es können sich Entzündungen bilden. Diese Aspekte ließen sich vermeiden, wenn gentechnische und elektronische Komponenten die Insulinproduktion im Körper ermöglichen.
Wo im Körper wären die Zellen, die für so ein Lichtsignal empfänglich sind?
Die Zellen, die auf einen Lichtreiz hin das Insulin produzieren, werden an der Stelle in den Körper eingebracht, wo der Patient die Smartwatch trägt. Sie können in Alginatkügelchen verkapselt sein, um zu verhindern, dass sie sich im Körper verteilen.
Wie störanfällig wäre das System?
Der Grünanteil im Tageslicht ist zu gering, um die Messungen und die Stimulation der Insulinproduktion zu beeinflussen. Um ganz sicher zu gehen, könnte man die Stelle, an der die auf Licht reagierenden Zellen implantiert sind, aber auch mit einem lichtundurchlässigen Pflaster abdecken, solange der Patient die Smartwatch gerade nicht trägt.
Patienten sind sehr interessiert an neuen Therapien zu Diabetes
Wie stehen Ärzte und Patienten zu solchen Ideen für die Diabetes-Therapie?
Mediziner sind grundsätzlich offen für neue Ideen, aber auch konservativ, wenn es darum geht, heute eine Therapie auszuwählen. Was sich lange bewährt hat, ziehen sie in der Regel vor. Bei den Patienten haben wir eine größere Offenheit beobachtet. Sie erleben in ihrem Alltag jeden Nachteil einer Therapieform sehr intensiv und sind interessiert an Lösungen, die ohne Nadeln auskommen, einen nächtlichen Unterzucker ausschließen oder bei denen man sich nicht um die sichere Lagerung des Insulins kümmern muss. Noch allerdings sind wir mit unserem Ansatz nicht so weit, dass er im medizinischen Alltag eingesetzt werden kann. Das wird sicher noch etwa zehn Jahre dauern.
Diabetes: Wie Insulin gegen die Zuckerkrankheit eingesetzt werden kann
Welche Krankheiten außer Diabetes kommen für eine Behandlung mit gentechnischen plus elektronischen Verfahren in Frage?
Insulin ist ein Eiweiß, das im Körper als Hormon bestimmte Prozesse steuert. Im Prinzip lassen sich nach unserem Ansatz alle Krankheiten heilen, bei denen heute Proteintherapeutika eingesetzt werden. Mittel für Antikörpertherapien oder die Behandlung von Krebs müsste man nicht mehr spritzen, sondern könnte sie vom Körper selbst herstellen lassen. Künstlich erzeugte chemische Wirkstoffe allerdings können die Zellen nicht produzieren. Ich gehe aber davon aus, dass wir immer mehr über die Biologie dazulernen und sich eine Reihe chemisch hergestellter Arzneimittel durch Proteintherapeutika ersetzen lassen – und damit steigt die Zahl der Fälle, in denen unser Ansatz nützlich wäre.
Ingenieure und Life-Science-Spezialisten müssen zusammenarbeiten
Welche Rolle spielt die Medizintechnik-Industrie bei diesen Entwicklungen?
Die Kombination von Gentechnik und Elektronik ist aus meiner Sicht die Zukunft der Medizin. Das heißt aber auch, dass wir Expertise aus beiden Bereichen brauchen werden. Fachleute werden sich besser im jeweils anderen Bereich auskennen müssen. Auch wenn Apple bisher keinen Schritt in Richtung Biologie geht, sehen wird das bei Sony und Samsung sehr wohl: Dort entstehen Forschungsgruppen, die sich mit Zellen und Geweben befassen. Die Medizintechnik wird also ihren ingenieurwissenschaftlichen Teil weiter beitragen. Auf lange Sicht könnte ein Patient mit seinen Geräten dann sogar Teil des Internets der Dinge werden: Eine automatisierte Therapie würde bedeuten, dass wir Stoffwechselerkrankungen heilen und damit genauso ausrotten können, wie es mit Infektionskrankheiten schon gelungen ist.
Weitere Informationen
Über ihre Arbeiten haben die Forscher in Nature Communications berichtet.
www.nature.com/articles/
s41467-021-23572-4
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