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Fabrik der Zukunft: Wie die Medizintechnik Daten nutzt

Cyberphysische Systeme (CPS)
Fabrik der Zukunft: Wie die Medizintechnik Daten nutzt

Fabrik der Zukunft: Wie die Medizintechnik Daten nutzt
Digitalisierungsexperte Dr. Sebastian Grundstein ist Vice President bei der Münchner ROI-Efeso Management Consulting AG und übernimmt ab Sommer 2024 das Lehrgebiet Cyperphysical Production Systems an der TH Deggendorf (Bild: Sebastian Grundstein)
Daten sind vorhanden, aber manche Unternehmen fangen damit noch nichts an. Welche Potenziale für mehr Produktivität in der Medizintechnik, aber auch für neue Geschäftsmodelle ungenutzt bleiben, erläutert Dr. Sebastian Grundstein. Derzeit berät er Unternehmen zu Fragen der Digitalisierung. Ab 2024 übernimmt er eine Professur zu CPS an der TH Deggendorf.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Dr. Grundstein, worin unterscheidet sich die Fabrik der Zukunft vor allem von der heutigen Produktion?

Die Zukunft gehört der datengetriebenen Fabrik – das schließt den Begriff der klassischen Automatisierung übrigens mit ein. So etwas sehen wir heute schon an manchen Stellen, als Kernstück von Industrie 4.0. Zahlreiche Sensoren erfassen Daten, wir analysieren sie, gegebenenfalls auch mit Hilfe einer KI. Und die Entwicklung geht wirklich schnell voran. Vor zehn Jahren war es noch etwas sehr Innovatives, alle Maschinendaten verfügbar zu haben. Heute ist das fast Standard. Allerdings nutzen längst noch nicht alle Unternehmen die Daten, die ihnen zur Verfügung stehen. Da liegt noch viel Potenzial brach.

Woran liegt das Ihrer Erfahrung nach?

Das eine ist, dass man eine Systeminfrastruktur braucht, um die Datenströme im Unternehmen verfügbar zu machen. Es gibt immer noch einige Entscheider, die diese Investition in Frage stellen und sich nicht dazu entschließen können, ohne eine vollständige Berechnung des Return on Invest vorliegen zu haben. Das ist schade. Natürlich muss man vorher überlegen, was man mit einem digitalisierten System später anfangen will. Aber oft ergeben sich viel mehr Ideen und Ansätze, wie sich das System nutzen lässt, wenn es einmal vorhanden ist – die Aussichten, dass sich die Investition lohnen wird, sind also gut. Und meiner Meinung nach haben Unternehmen keine guten Zukunftsperspektiven, wenn sie diesen Schritt nicht gehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil junge Mitarbeiter sich kaum dazu bewegen lassen werden, mit Papier und Stift oder über eine Excel-Tabelle Dinge zu tun, die sich mit moderner Technik eleganter erledigen lassen.

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Können kleine und mittlere Unternehmen so eine Umstellung stemmen?

Auf jeden Fall. Die Größe des Unternehmens sollte heute kein Argument mehr sein. Wir haben schon bei Betrieben mit 200 Mitarbeitern die komplette Produktion digitalisiert.

Warum ist das wirtschaftlich möglich?

Erstens sind die verfügbaren Lösungen heute wirtschaftlich interessanter. Eine Bildverarbeitung plus KI zum Beispiel, die Ausschuss schneller erkennt, ist heute als günstige Lösung verfügbar. Zweitens wird uns auch der demographische Wandel zu Veränderungen zwingen. Wir hatten ein Projekt an einem neuen Produktionsstandort für Wärmepumpen, da ging es um Massenfertigung. Dort haben wir 400 Fahrerlose Transportsysteme installiert. Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit hat sich hier gar nicht gestellt: Es hätte ohnehin nicht genug Fachkräfte gegeben, die die Aufgaben hätten erledigen können.

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Lässt sich das auf die Medizintechnik-Branche übertragen?

In der Medizintechnik geht es meist nicht um so große Stückzahlen. Aber der Personalmangel spielt auch hier eine Rolle – und darüber hinaus die Rückverfolgbarkeit und Prozessstabilität. Fragen der Qualitätssicherung lassen sich ebenfalls mit einem automatisierten und digitalisierten System oft besser lösen. Und gerade in der Medizintechnik-Branche erfassen und speichern Unternehmen häufig schon Daten, allein aus regulatorischen Gründen. Aber sie nutzen diese nicht.

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Was ließe sich mit den Daten denn erreichen?

Diese Frage wird in Deutschland oft anders beantwortet als zum Beispiel in den USA. Hier bei uns steht meist im Vordergrund die gesteigerte Produktivität , die man sich durch die Digitalisierung erhofft. Dabei ist das nur der kleinere Hebel. Man kann natürlich Fertigungsprozesse und die Qualitätssicherung optimieren, den Ausschuss oder den Materialverbrauch senken, Predictive Maintenance einführen. Das wäre die unternehmensinterne Nutzung der digitalisierten Technologien. Das ist alles gut und richtig, und dieses Potenzial sehen auch Entscheider in den USA und nutzen es. Diese gehen aber oft noch einen Schritt weiter und denken externe Einsatzmöglichkeiten oder gleich neue Geschäftsmodelle mit, die sich aus einem datengetriebenen Ansatz ergeben könnten. Stellen Sie sich vor, Sie können smarte Produkte – mit ergänzenden Apps – auf den Markt bringen und dann Nutzungsdaten aus dem Feld in die Entwicklung neuer Produkte einfließen lassen.

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Sehen Sie in der Medizintechnik Chancen für solche Ansätze?

Ja, unbedingt. Die gesetzlichen Vorgaben lassen sich auch bei Projekten für regulierte Märkte einhalten. Wobei man sich darüber im Klaren sein muss, dass ein Unternehmen, das bisher sozusagen Hardware entwickelt, produziert und auf den Markt gebracht hat, dazu übergehen kann, intern zu digitalisieren. Es wird aber nicht über Nacht zum Softwareanbieter werden. Das ist schon ein anderes Business, das sollte man bedenken. Trotzdem gibt es Beispiele, wie so etwas funktionieren könnte. Für den Bereich Podologie etwa könnte man mit Geräten Daten erfassen, mit denen auch ein Orthopäde etwas anfangen kann.

Wie lassen sich dann die Daten von Patienten rechtskonform schützen?

Es gibt heute schon Technologien wie das Federated Machine Learning. Dabei bleiben die Daten anonym und auch dort, wo sie sind. Die Maschine lernt hierbei, ohne Daten preiszugeben. So etwas haben wir für Industriepumpen schon umgesetzt, auch wenn dabei Nutzungsdaten von Stadtwerken oder Energieversorgern wie Kernkraftwerken eingeflossen sind – also durchaus sensible Bereiche betroffen waren. Das Prinzip lässt sich auf Medizingeräte übertragen. Die Technologien sind also da. Die Frage ist heute, wer der Erste sein wird, der sie auch nutzt.

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Wie lange dauern solche Projekte üblicherweise?

Ich würde da nicht von Projekten mit einem Anfang und einem Ende sprechen. Es geht eher um die grundlegende Entscheidung, Technologien für die Digitalisierung anzuwenden. Wenn man das möchte, muss man das Feld dauerhaft im Blick behalten, sehen, was neu dazukommt und überlegen, was davon man zum bisher genutzten Spektrum dazunehmen möchte. Es ist also ein Prozess, der sich über viele Jahre entwickelt – und eine moderne Systemlandschaft im Unternehmen zu installieren, ist die Basis für all diese Entwicklungen.

Wie arbeiten Menschen und Maschinen in solchen Systemen zusammen?

Im Umfeld der Industrie 4.0 ist der Mensch der Dirigent der Wertschöpfung. Er steuert also mehr, als dass er Tätigkeiten ausführt. Bisher haben wir über Automatisierung diskutiert, zum Beispiel darüber, ob durch Roboter die Arbeitsplätze von Fachkräften entfallen. Wenn wir jetzt über künstliche Intelligenz reden, sind in ähnlicher Weise die Arbeitsgebiete der Ingenieure und der Betriebswirte betroffen. Ich denke aber, dass wir uns vor der Nutzung der Technologien nicht fürchten sollten, sondern dass wir ohne sie angesichts des demographischen Wandels die Wertschöpfung gar nicht aufrecht erhalten können.

Was sind die wichtigsten Fähigkeiten, die klassische Ingenieure beitragen können – und wo besteht Bedarf für Wissenserweiterungen?

Fachleute wie Ingenieure werden sich auf eher kreative Aufgaben konzentrieren. Eine KI kann sehr schnell sehr viele Daten analysieren und zeigen, wo ein Problem besteht. Die Lösung dafür zu liefern, ist nicht unbedingt die Stärke solcher Systeme. Da muss oft der Mensch entscheiden, was in einem bestimmten Fall zu tun ist. Aber es wird auch erforderlich sein, sich offen mit den vielen neuen Technologien zu befassen und sie nutzen zu wollen, wo es sinnvoll erscheint. Das fällt jüngeren Leuten erfahrungsgemäß leichter, die manche digitale Unterstützung aus ihrem Alltag als selbstverständlich erleben und dann eine Art positiver Faulheit an den Tag legen und fragen: Warum muss ich diese oder jene Aufgabe jetzt händisch erledigen? Kann man das nicht automatisieren?

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Sie werden ab 2024 Studierende zum Thema Cyberphysical Production Systems ausbilden. Was verstehen Sie unter CPS?

CPS ist im Prinzip ein akademischer Begriff: Ein CPS erfasst und speichert Daten, analysiert diese und ist mit einer Cloud verbunden. Das trifft schon auf ein Smartphone zu. Überträgt man
die Technologie auf die Industrie, sind wir bei Industrie 4.0. CPS sind also die technologische Voraussetzung für Industrie 4.0.

Welche für die Industrie und damit auch für die Medizintechnik-Branche relevanten technischen Themen sehen Sie noch auf uns zukommen?

Ich denke, wir werden in den kommenden Jahren die Idee des Digitalen Zwillings stark weiterentwickeln. Bisher wird das digitale Abbild meist in Teilbereichen genutzt. Durchgängig damit zu arbeiten, von der Entwicklung bis zur Nutzung, wird richtig spannend – denn dann haben wir ein Riesenpotenzial an Erfahrungen, mit denen wir die Produkte weiterentwickeln können. Und auch für das digitale Abbild der Welt inklusive Avataren, wie sie das Metaverse verspricht, gibt es schon Entsprechungen für die Industrie. Diese kommen heute schon in Kinoqualität daher. Auch solche Möglichkeiten zu nutzen, wird in den kommenden fünf bis zehn Jahren sicher sehr spannend.


Weitere Informationen

Über 40 Projekte zu Produktionsstrategie, Digitalisierung, Industrie 4.0 und Operational Excellence in mehr als 20 Ländern: Das ist der Erfahrungsschatz, den Dr. Sebastian Grundstein ab Sommer 2024 an die Technische Hochschule Deggendorf mitbringt. Nicht wenige der Projekte waren im Umfeld Medizintechnik und Life Sciences angesiedelt.


Zahlreiche Sensoren liefern die Daten, mit denen sich gemäß des Konzeptes von Industrie 4.0 das Gesamtsystem optimieren lässt
(Bild: xiaolangge/stock.adobe.com)

Cyberphysische Systeme

In Cyberphysischen Systemen (engl. „cyber-physical systems“) sind informations- und softwaretechnische Komponenten mit mechanischen Komponenten verbunden. Sie können über ein Netzwerk Daten übertragen und untereinander austauschen. Auch eine Kontrolle ist möglich – ebenso wie eine Steuerung via Internet in Echtzeit. Geräte und Maschinen können zu so einem Netzwerk gehören, aber auch eingebettete Systeme. Messwerte von Sensoren liefern Daten, Aktoren können dafür sorgen, dass zum Beispiel Prozesse in der Produktion angestoßen oder beendet werden.

Solche Systeme sind so komplex, dass Standardisierung sinnvoll ist. Nur so lässt sich die Komplexität senken – während das System gleichzeitig sicherer wird. Für die Idee von Industrie 4.0 sind cyberphysische Systeme die Basis, unabhängig davon, ob es um Produktion, Logistik, Mobilität, Energie oder Umwelt geht.

Cyberphysische Systeme und damit auch das Konzept von Industrie 4.0 versprechen Vorteile, weil die Systeme flexibel sind und sich einfacher an veränderte Rahmenbedingungen anpassen lassen als die bisherigen Lösungen.

Es gibt allerdings auch Nachteile. Die Systeme sind nicht nur komplex, sondern auch anfällig. Schon ein Stromausfall kann ein größeres Problem sein. Wer die Systeme nutzt, ist letztlich auf sie und ihr dauerhaftes Funktionieren angewiesen. Und man darf nicht außer acht lassen, dass sich ein System auch falsch entscheiden kann.

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