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Bauteil an Maschine: Bitte bearbeiten

Industrie 4.0: So kann die flexible Fabrik der Zukunft aussehen
Bauteil an Maschine: Bitte bearbeiten

Industrie 4.0 lautet das neue Schlagwort, dessen Entwicklung IT-, Automatisierungs- und Maschinenbau-Branche in Deutschland gemeinsam vorantreiben wollen. Es geht um neue Ansätze für eine effizientere, flexiblere Produktion – auch in der Medizintechnik.

„Zurzeit ist Industrie 4.0 stark aus dem Fabrik-Ausstatterbereich und weniger durch die Kunden getrieben“, stellt Prof. Dr. Thomas Bauernhansl klar, Leiter des Instituts für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) und des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart. Seit dem Frühjahr vergangenen Jahres macht das neue Hype-Thema die Runde. Vorgeprescht war zunächst die IT-Branche, später haben sich Maschinenbauer, Elektrotechniker und auch die akademische Forschung angeschlossen. Es wurde ein Arbeitskreis Industrie 4.0 gegründet, welcher der Bundesregierung auf der Hannover Messe 2013 Empfehlungen zur Umsetzung in Forschung und Entwicklung gegeben hat. Zudem haben die drei Branchenverbände Bitkom, VDMA und ZVEI im April dieses Jahres in Frankfurt eine gemeinsame Geschäftsstelle gegründet. Denn das Thema soll – anders als in den 80er und 90er Jahren beim Computer Integrated Manufacturing (CIM) – nicht wieder ergebnislos im Sande verlaufen. Deshalb haben sich alle Beteiligten auf die Fahnen geschrieben, den produzierenden Unternehmen im Land die Vorteile und Potenziale der Vision aufzeigen.

Und dies ist dringend notwendig, so befindet Prof. Dr. Joachim Berlak, Geschäftsführer des Softwarehauses Software4Production, München: „Kleine und mittelständische Betriebe können schon nichts mit Begriffen wie ERP, PPS oder MES anfangen – alles Abkürzungen der IT-Branche. Und nun kommen wir mit einem so hochtrabenden Begriff wie Industrie 4.0 daher – und jeder fragt: Was soll das eigentlich? Und brauche ich das in Zukunft für mein Unternehmen?“
Die Antwort darauf steht für ihn fest: „Ja, für die meisten Fertigungsunternehmen bringt Industrie 4.0 Vorteile. Denn sie alle – ganz gleich ob Sie Produkte für die Automobilindustrie oder die Medizintechnik fertigen – stehen vor der Herausforderung, dass sie ihre Produktion flexibler gestalten wollen oder müssen. Eine Vernetzung aller Maschinen in der Fertigung, und um nichts anderes geht es bei Industrie 4.0, wird da erhebliche Vorteile bringen.“ Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) geht davon aus, dass die neuen Fertigungsverfahren zu einer Produktivitätssteigerung der Industrie von 30 % führen werden.
Doch was genau ist neu an diesem Konzept? Wesentliches Element von Industrie 4.0 ist die intelligente Fabrik oder Smart Factory. Hier kommunizieren Menschen, Maschinen und Ressourcen so selbstverständlich wie in einem sozialen Netzwerk. Intelligente Produkte, Smart Products genannt, verfügen dabei über das Wissen ihres Herstellungsprozesses und künftigen Einsatzes: Wann wurde ich gefertigt? Mit welchen Parametern muss ich bearbeitet werden? Wohin soll ich ausgeliefert werden? Sie unterstützen damit aktiv den Fertigungsprozess. Sämtliche am Fertigungsprozess beteiligten Maschinen – das können Werkzeugmaschinen, Handhabungsgeräte oder auch Logistiksysteme sein – und mit elektronischen Etiketten versehene Smart Products werden von den Experten als Cyber Physische Systeme (CPS) bezeichnet, die ständig in Echtzeit miteinander kommunizieren. Das Internet der Dinge gewissermaßen.
Anders als in der heutigen Fertigung, wo die Informationen und Daten mehr oder weniger zentral in monolithischen IT-Systemen gespeichert sind, ist die Smart Factory von morgen dezentral und selbstorganisierend angelegt. Die Wertschöpfungskette soll sich dabei nach unterschiedlichen Kriterien wie etwa Kosten, Verfügbarkeit oder Ressourcenverbrauch flexibel optimieren lassen.
Der Vorteil dieser sich quasi selbst organisierenden Produktion: Individuelle kunden- und produktspezifische Kriterien können wesentlich stärker und auch später im Prozess berücksichtigt werden. Selbst kurzfristige Änderungswünsche sollen sich noch kurz vor oder während der Produktion und eventuell auch noch während des laufenden Betriebs umsetzen lassen. Die Produktion von Einzelstücken und kleinen Losgrößen kann dadurch rentabel werden – ein Punkt, der vielen Herstellern in der Medizintechnik entgegenkommt.
Wie das funktionieren kann, zeigt die Smart Factory, die das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) zusammen mit 20 Partnern aus Industrie und Forschung, darunter auch Siemens, in Kaiserslautern aufgebaut hat. Die Pilotanlage demonstriert anhand von Seifenflaschen, wie Produkt und Produktionsanlage kommunizieren: Die leere Seifenflasche ist mit einem RFID-Tag – einem intelligenten Funketikett – versehen, das der Maschine das Kommando gibt, ob sie einen weißen oder einen schwarzen Verschluss benötigt. Das heißt, das gerade entstehende Produkt trägt sein digitales Produktgedächtnis von Anfang an mit sich, meist auf dem Rohling, und kann via Funk mit seiner Umwelt kommunizieren. So wird das Produkt zu einem Cyberphysischen System. Dabei greifen viele Daten ineinander: Das Gesamtsystem muss wissen, wie viele Flaschen mit weißen und wie viele mit schwarzen Deckeln bestellt sind. Ob genug Deckel vorrätig sind oder wann diese geliefert werden. Und ob es im Lager genügend Personal gibt, um die Lieferungen entgegenzunehmen.
Und noch einen weiteren Vorteil hat die Verwendung Cyber Physischer Systeme für die Medizintechnik: Die Bauteile lassen sich anhand der Elektronik – etwa wie im Beispiel der Pilotanlage in Form von RFID-Tags – zu jedem Zeitpunkt lokalisieren. Die Informationen darüber stehen zur Verfügung und werden gespeichert, so dass die Rückverfolgbarkeit gewährleistet ist. „Die Themen Traceability, Dokumentation und Compliance treiben viele Medizintechnikhersteller derzeit um“, weiß Dr. Sebastian Schlund, Leiter des Competence Centers Produktionsmanagement am Fraunhofer IAO in Stuttgart. „Heute ist es für die Hersteller mit hohem manuellen Aufwand verbunden, genau zu dokumentieren, welche Charge sich an welchem Punkt innerhalb der Wertschöpfungskette befindet. Dies betrifft somit nicht nur die eigentliche Produktion, sondern auch die Zuliefererprozesse sowie die nachgelagerten Prozesse in der Logistik. Intelligente Objekte, die sich selbständig steuern, können hier helfen.“
Wie eine selbstorganisierende adaptive Logistik in Zukunft funktionieren könnte, zeigt ein Beispiel von Daimler aus dem Abschlussbericht des Arbeitskreises 4.0: Im komplexen Produktionssystem des Automobilherstellers durchlaufen Zuliefer- und Unfertigerzeugnisse mehrere Transport-, Fertigungs- und Montageschritte. Insbesondere zur Steuerung von Montageprozessen ist die Kenntnis des Aufenthaltsorts von Material, Baugruppen, Aggregaten oder endmontierten Produkten entscheidend. Durch CPS werden die momentanen Aufenthaltsorte der Objekte erfasst und Prognosen des weiteren Verlaufs durch den Transport abgeleitet. Durch die Traceability der Bauteile wird der Montageprozess inklusive der vor- und nachgelagerten Produktionslogistikprozesse vollständig transparent. Zudem entfallen durch CPS administrative Bestandsführungs-, Buchungs- und Inventurprozesse. Die papierlose Produktion kann somit für den Logistikbereich in bestehenden Produktionssystemen nachgerüstet werden. Die Einführung von CPS ergänzt die statischen Kanban-Prozesse der Produktionsablaufsteuerung um dynamische Methoden, mit denen sich Bestände, Transportmengen, Zyklen und Transportziele zum Beispiel beim Auftreten eines Fehlerfalls, eines Versorgungsengpasses oder alternativer Belieferungsszenarios kurzfristig anpassen lassen.
„Die Technologien für solche Szenarien existieren heute zum Teil schon und lassen sich auch einsetzen; unklar ist, in welchem Ausmaß“, sagt Schlund. Er nennt ein Beispiel: Wie soll man mit intelligenten Behältern oder – um in der Sprache von Industrie 4.0 zu bleiben – CPS umgehen, die bei unterschiedlichen Unternehmen im Einsatz sind? Und welche Daten über sie soll man auf welcher Ebene abgreifen und ablegen, um deren Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten?
Dennoch sind dies nur einzelne Elemente der Smart Factory, wie sie im Industrie-4.0-Zeitalter aussehen könnte. Wann dieses Zeitalter beginnen wird, darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. „Wir sprechen hier über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren. Das Endergebnis wird zwar aus heutiger Sicht revolutionär sein, doch letztlich handelt es sich um eine Vielzahl von Entwicklungsschritten“, erklärt Peter Herweck, Leiter der Strategieabteilung bei Siemens.
Professor Wolfgang Wahlster, Geschäftsführer des DFKI, differenziert zwei Entwicklungsstufen: „Ich denke, dass wir schon in fünf Jahren durch das Retrofitting von Bestandsfabriken mehrere Fabriken in Deutschland haben werden, die wesentliche Bausteine von Industrie 4.0 umsetzen. Bis sich die Technik aber flächendeckend durchgesetzt hat, muss man bestimmt eine Dekade rechnen.“ Dr. Wieland Holfelder, Engineering Director & Site Lead bei Google, geht davon aus, dass „die Heterogenität der IT-Strukturen, der Maschinen und der Vernetzungs- und Kommunikationsstandards im Produktionsumfeld dazu führen, dass die Produktion nicht innerhalb von fünf Jahren reagieren kann, sondern eher in 20 Jahren. Das heißt aber nicht, dass man 20 Jahre warten kann, bis man etwas tut. Man muss jetzt anfangen, damit es in 20 Jahren wirksam wird.“
Die Experten sind sich dabei einig, dass nicht unbedingt der Stand der Technik als vielmehr die Fähigkeit, diese einzusetzen und zu kombinieren, die Entwicklung bremsen könnte. Wesentlich ist daher, dass die Maschinen- und Anlagenbauer mit den Automatisierungs- sowie den IT-Experten zusammenarbeiten, um zunächst eine gemeinsame Sichtweise und Sprache zu entwickeln. Parallel sind mit Forschungsgeldern der Bundesregierung eine Reihe von Projekten auf die Schiene gesetzt worden, die konkrete Aspekte von Industrie 4.0 entwickeln. So wird beispielsweise im Verbundvorhaben Cypros ein repräsentatives Spektrum Cyber-Physischer Systemmodule sowie eine Referenzarchitektur für Produktions- und Logistiksysteme geschaffen. Zu den 20 Teilnehmern auf Industrieseite, die beide im Bereich Medizintechnik tätig sind, gehören Trumpf und Wittenstein. Wittenstein, so der Plan, wird erste Industrie-4.0-Anwendungen in seiner 2012 eröffneten Fabrik in Fellbach implementieren, in der Verzahnungslösungen unter anderem für die Medizintechnik gefertigt werden.
Maschinenbauer Trumpf hat erste Industrie-4.0-Puzzleteile bereits heute auf seinen Werkzeugmaschinen implementiert: Dazu gehören die Möglichkeit der Fernwartung via Internet sowie erste Smart-Product-Ansätze: In Laserschneidmaschinen fokussieren Linsen mit integriertem RFID-Chip den Laserstrahl auf dem Blech. Auf dem Chip sind spezifische Technologiedaten gespeichert, so dass dieser auf Anfrage der Zustandsüberwachungssensorik Lensline melden kann, wann sie gereinigt werden muss. In Zukunft will Trumpf noch weiter gehen, so Klaus Bauer, Leiter Entwicklung Basistechnologie. Solle zum Beispiel heute auf einer Lasermaschine ein neues, bisher noch nie verwendetes Material bearbeitet werden, für das noch keine Standard-Technologie-Daten für den benötigen Laserschneidprozess auf der Maschine vorhanden sind, so werden diese Daten heute entweder manuell durch den Maschinenbediener ermittelt oder manuell aufgespielt. „Zukünftig“, so Bauer, „bringt vielleicht das Rohmaterial die geeignete Bearbeitungstechnologie mit, oder die Maschine kann sich die Daten automatisch von überlagerten Systemen oder gar von anderen Maschinen laden. Gleichzeitig stellt die Maschine wiederum eigene Daten beziehungsweise ‚Erfahrungen mit diesen Daten’ anderen Produktionssystemen bereit.“
Sabine Koll Journalistin in Böblingen
Produktivitätssteigerungen von bis zu 30 % sind möglich
Rückverfolgbarkeit während des gesamten Produktionsprozesses
Weitere Informationen Der Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0: http://www.bmbf.de/pubRD/Umsetzungsempfehlungen_Industrie4_0.pdf Die Fraunhofer IAO Studie „Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0“: http://www.iao.fraunhofer.de/images/iao-news/produktionsarbeit-der-zukunft.pdf Zur Plattform Industrie 4.0 von Bitkom, ZVEI und VDMA: www.plattform-i40.de Zum Projekt Cypros: www.projekt-cypros.de

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Mehr darüber, was Datenschutz und -sicherheit für die Smart Factory im Industrie-4.0-Zeitalter bedeuten und welche Anstrengungen die Plattform Industrie 4.0 dafür unternimmt, finden Sie in unserem Online-Magazin unter www.medizin-und-technik.de/onlineweiterlesen. Verfügbar bis 02. Oktober 2013 – also bis die nächste Ausgabe mit einem neuen Titelthema erscheint.

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