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Elektronenleiter aus der Stickmaschine

Bildgebendes Verfahren EIT: Gestickte Sensoren anstelle von EKG-Elektroden
Elektronenleiter aus der Stickmaschine

Elektrische Impedanztomographie (EIT) liefert nichtinvasiv und ohne Strahlenbelastung Bilder aus dem menschlichen Körper – ist jedoch zeitaufwendig. An der Berner Fachhochschule entstand ein Elektrodengürtel aus eingestickten leitenden Garnen, die schneller zum Bild führen sollen.

Eine moderne bildgebende Technik ist die elektrische Impedanztomographie (EIT), die die Verteilung der elektrischen Leitfähigkeit im Körper darstellt. „EIT ist im Gegensatz zu herkömmlichen Verfahren wie Röntgen, Computertomographie oder Magnetresonanztomographie kostengünstig und könnte Menschen rund um den Globus den Zugang zu bildgebenden Verfahren ermöglichen“, sagt Andreas Waldmann, der an der Berner Fachhochschule in Biel Mikrotechnik studierte. „Dazu heißt es aber, die Auflösung und das Handling der Elektroden zu verbessern.“

Die Elektroden werden beim EIT gebraucht, um Strom über die Haut einzuspeisen und Spannungsmessungen an der Oberfläche der Haut durchzuführen. Da die elektrische Leitfähigkeit der einzelnen Gewebearten und Organe unterschiedlich ist, entsteht aus diesen Werten ein Impedanztomogramm. Solche Untersuchungen sind vor allem im Thorax von Bedeutung, da sich damit die Lungenventilation und die Blutdiffusion im Brustkorb bildhaft darstellen lassen.
Mit den EIT-Geräten werden derzeit aber EKG-Elektroden genutzt, die von Hand in regelmäßigen Abständen und in gleicher Höhe rund um den Thorax positioniert werden müssen, was mühsam und zeitaufwendig ist. Und für einen üblichen Messzyklus mit 16 Elektroden sind 13 mal 16 Messungen nötig. Andreas Waldmann wollte diese Situation verbessern und in seinem Bachelor of Science in Mikrotechnik – zusammen mit dem Berner Inselspital – einen Gürtel textiler Elektroden entwerfen, der die Handhabung vereinfacht.
Leitfähige Textilelektroden halten immer mehr Einzug in der Medizintechnik, beispielsweise für die Elektro- und Muskelstimulation, bei akuten Schmerzen, Arthritis oder Durchblutungsstörungen. Die Anforderungen sind hoch: Die Elektroden müssen nicht nur gut leitfähig, sondern auch elastisch und korrosionsfest sein, wasch- und stickbar sowie einfach zu verarbeiten. Um sich das dafür nötige Know-how zu sichern, kontaktierte Andreas Waldmann die Bischoff Textil AG in St. Gallen, weltweit ein Begriff für hochwertige Stickereien.
Als Ausgangsstoff für den neuen Elektrodengürtel wurde im Lauf der Arbeit schließlich ein nicht leitendes Garn ausgewählt, dem man mit galvanischen oder elektrochemischen Prozessen Leitfähigkeit verleiht. Dieses Garn mit rund 20 Ohm pro Meter wird in einem aufwendigen Stickprozess auf einer Spezialmaschine in einen elastischen Stoff eingestickt. An einen eingepressten Prym-Druckknopf ist direkt ein EKG-Kabel angeschlossen. Jede einzelne Elektrode benötigt bis zu 2500 Nähstiche.
Um eine optimale Kontaktierung mit der Haut des Patienten zu gewährleisten, enthalten die Elektroden einen Stoff, der die Feuchtigkeit aufsaugt. Der Übergangswiderstand zwischen Elektroden und Haut lässt sich mit leitfähigen Gels minimieren. Dieses lässt sich problemlos entfernen, kann doch die Elektrode bis zu 100 Mal ohne Verlust der Leitfähigkeit gewaschen werden.
Der Gürtel selbst besteht aus drei Textillagen. In der körpernächsten werden runde Elektroden eingestickt, in die darauffolgende kommt die Verbindung zum Prymknopf, während die letzte Stofflage zum Abdecken der Kontaktfläche dient. Der Gürtel weist eine Breite von 10 cm und eine Länge von 75 cm auf, gedehnt ist er 110 cm lang, adaptierbar an den Thoraxumfang des Patienten.
Um das Funktionsprinzip zu überprüfen, entstand in den Labors der Berner Fachhochschule ein Messaufbau mit einem EIT-Gerät. Für die nötigen Referenzmessungen führte Andreas Waldmann erste Tests an freiwilligen ‚Versuchskaninchen‘ mit handelsüblichen EKG-Elektroden durch. Für die im Stehen aufgenommenen Schnittbilder der Lunge gelangten die Messdaten von den traditionell angebrachten, einzelnen Elektroden über ein spezielles Kabel an das EIT-Gerät und wurden dort vorverarbeitet. Die Auswertung geschah anschließend mittels eines PCs.
In einem zweiten Schritt platzierten die BFH-Forscher den Gürtel mit seinen 16 Messelektroden und einer GND-Elektrode unterhalb der Brust des Probanden. Den Übergangswiderstand zwischen Gürtel und Körper reduzierten sie mit leitendem Elektrodengel oder Kochsalzlösung. Die gemessenen Daten wurden in Zusammenarbeit mit dem Berner Inselspital ausgewertet.
Zur Verifizierung ihrer Messungen am Messaufbau verwendeten die Forscher zuerst 2D-Simulationen, um den Verlauf von Äquipotenzial- und Stromlinien, sowie der Randspannung aufzuzeigen. „Wir konnten Fremdkörper mit geringer Leitfähigkeit an verschiedenen Orten positionieren und deren Einfluss auf die Randspannung nachweisen“, erklärt Andreas Waldmann. „Objekte nahe der Einspeisung üben einen größeren Einfluss auf die Randspannung aus als entferntere Objekte. Indem wir eine einfache Nachbildung der Lunge simulierten, konnten wir dokumentieren, wie sich die Randspannung beim Ein- und Ausatmen verhält.“
Für den erfolgreichen Prototypen eines textilen Elektrodengürtels erhielt Andreas Waldmann im Frühjahr 2011 den ‚Burgdorfer Innopreis‘, eine Auszeichnung für besonders innovative Entwicklungen im Rahmen von Master- und Bachelorarbeiten. Doch schon brütet der Forscher über neuen Ideen: „Ein weniger elastischer Stoff dürfte den Anpressdruck der Elektroden verbessern, die Reduktion der Gürtelbreite die Handhabung noch mehr erleichtern. Anstelle der runden Elektroden könnten wir lange, schmale verwenden, um mehr Elektroden auf einer bestimmten Länge einzusetzen.“ Denkbar ist auch ein Gürtel für Neugeborene mit einem Thoraxumfang zwischen 30 und 35 cm.
Selbst die Impedanzänderung des Herzens, verursacht durch den Blutfluss, lässt sich mit EIT beobachten – nicht nur der Herzschlag, sondern auch seine Schlagkraft, sowie die Atemfrequenz. Vielversprechend ist der Einsatz am Gehirn, denn Pilotversuche zeigen, dass EIT durch die knöcherne Schädeldecke hindurch pulsierendes Blut sichtbar macht. Damit könnte man Schlaganfälle früher diagnostizieren und behandeln. Weitere Forschungsinstitute arbeiten aktiv an der Verbesserung des Gürtels mit: So laufen an der Empa in St. Gallen Versuche, um die Leitfähigkeit und die Verarbeitung der Garne zu verbessern.
Für Prof. Dr. Volker M. Koch vom Medizintechniklabor, der Mitbetreuer der Arbeit war, sind solche Projekte die ideale Herausforderung für Studenten: „Mit solch realitätsbezogenen Problemstellungen entwickeln wir nicht nur innovative Medizintechnik-Produkte, sondern auch qualitativ hochstehende Fachkräfte für den Produktionsstandort Europa.“
Elsbeth Heinzelmann Fachjournalistin in Bern

Innovation durch Kooperation
Das Elektrodenarray für die EIT ist ein Paradebeispiel für die Erfolge interdisziplinärer Zusammenarbeit. Gleich drei Professoren der Berner Fachhochschule haben das Projekt betreut: der Physiker Prof. Dr. Jörn Justiz, der Elektrotechniker Prof. Dr. Volker M. Koch sowie der Mathematiker Prof. Dr. Andreas Stahel. Die Technologie für die eingewobenen Elektroden lieferte die Empa St. Gallen. Industriell hergestellt wurde der Gürtel durch die Textilfabrik Bischoff Textil AG in St. Gallen. Erste Tests führte das Forschungszentrum CSEM durch (Centre Suisse d’Electronique et de Microtechnique), während über den Einsatz am Menschen Dr. Thomas Riedel wachte, Mediziner an der Universitätsklinik für Kinderheilkunde des Inselspitals Bern. Weitere Informationen zur Technik: www.ti.bfh.ch/med Zur Stickerei: www.bischoff-textil.com Zum Inselspital: www.insel.ch

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