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In Zukunft gemeinsam

Automatisierung: So funktionieren Kooperationen
In Zukunft gemeinsam

Automatisierer und Medizintechniker sind gar nicht so unterschiedlich. Zumindest die Chancen und Hindernisse bei der Anbahnung von Kooperationen werden ähnlich bewertet. Von einer erfolgreichen Partnerschaft profitieren am Ende beide.

In der Medizintechnik werden heute bereits viele Produkte halbautomatisiert hergestellt. Vollautomatisch ablaufende Prozesse sind bislang eher die Ausnahme, weiß Jürgen Müller, Geschäftsführer der Contexo GmbH. Gemeinsam mit der Curetis AG aus Holzgerlingen hat der Automatisierungsspezialist aus dem schwäbischen Winterbach ein Projekt auf die Beine gestellt, bei dem aus vielen Einzelteilen in einem komplexen Montagesystem eine Kunststoff-Einmalkartusche für die Diagnostik gefertigt wird. Das Labor in Miniaturausführung enthält alle Materialien und Reagenzien, um das Probenmaterial eines Patienten mit Verdacht auf Lungenentzündung auf Krankheitserreger und deren Antibiotika-Resistenzspektrum innerhalb weniger Stunden zu untersuchen.

Den ersten Schritt in Richtung Automatisierung machte die Curetis AG, die sich für einen optimierten Fertigungsprozess interessierte und den Kontakt zu Müller aufnahm. Die daraus entstandene Zusammenarbeit war intensiv und geprägt von offener Kommunikation – was beide Unternehmen zu schätzen wussten, denn Grundvoraussetzung für solch ein funktionierendes Projekt ist nicht nur eine gemeinsame Sprache, sondern vielmehr auch das gegenseitige Vertrauen. „Wir haben viel Energie und Vorleistung in dieses Projekt gesteckt“, so Müller, „deshalb war es uns wichtig, dass wir über alles reden konnten.“
Die Fertigung der Kartusche aus 96 Komponenten stellte Jürgen Müller und sein Team vor große Herausforderungen: 86 mechanische Einzelteile und acht parallele und unabhängige PCR-Kammern – befüllt mit bis zu 16 unterschiedlichen Flüssigkeiten – werden auf nur einer Anlage montiert. Die einzelnen Schritte wie Laserschweißen, Ultraschallschweißen oder Befüllungsvorgänge mit kleinsten Flüssigkeitsmengen müssen schnell, sehr präzise und gut koordiniert ablaufen. Die Chance, dieses komplexe Projekt gemeinsam mit dem Diagnostikunternehmen durchzuführen, bewertet Müller im Nachhinein als großes Glück: „Die Erfahrung und die Ergebnisse, die wir aus dieser Arbeit gewonnen haben, sind für uns von großem Wert.“
Von der Kontaktaufnahme bis zur Inbetriebnahme der Gesamtanlage im Jahr 2012 vergingen vier Jahre. Dabei verzehnfachte sich das Projektvolumen, da der Auftraggeber Contexo mit immer neuen Anforderungen überraschte. Der Automatisierungsexperte weiß, dass Hersteller, die mit ihren Anfragen auf ihn zukommen, oft gar nicht einschätzen können, was sie brauchen. „Natürlich können wir keine Laborprozesse in eine fertige Produktion gießen“, erklärt Müller. „Aber der Hersteller sollte wissen, wie hoch integriert und komplex die Anlage sein soll. Schließlich muss er sie nicht nur bezahlen, sondern auch betreiben können.“ Machbar, aus seiner Sicht, sei heute alles.
Nicht nur bei der Herstellung medizintechnischer Diagnosesysteme oder Kleingeräte wie Autoinjektoren oder Inhalatoren leisten Montageanlagen einen wichtigen Beitrag zu optimierter Produktivität und Qualität. Neben zahlreichen Detailverbesserungen ist ein grundlegender Trend hin zu modular aufgebauten Anlagen festzustellen. Das hat in erster Linie wirtschaftliche Gründe, denn die Zeitersparnis in der Zulassung durch eine frühe Prozessvalidierung und die dadurch verkürzte Zeit bis zum Markteintritt ist enorm.
Um Kooperationsprojekte von Medizintechnik, Biotechnologie und Automation gezielt voranzutreiben, hat die BioRegio Stern Management GmbH die Clusterinitiative „Engineering – Life Sciences – Automation“, kurz Elsa, ins Leben gerufen. Im Rahmen dieser Initiative werden die bestehenden regionalen Cluster aus der Life-Sciences-Branche mit denen aus der Automatisierungstechnik, dem Maschinenbau und der Automobilzulieferung verknüpft. Im vergangenen Jahr wurden Unternehmen beider Branchen aus Baden-Württemberg zu ihren Kooperationsmöglichkeiten und -wünschen ausführlich befragt. Dabei wurde das Elsa-Team von der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH, dem Landesnetzwerk Mechatronik BW, dem Kompetenznetzwerk Medical Valley Hechingen, dem Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA und dem Vereins Deutscher Ingenieure VDI e.V. unterstützt.
Untersucht wurden neben dem aktuellen Partnerschaftsstatus auch Erfolgsfaktoren und Hindernisse bei der Anbahnung: Wie passen traditionsreiche Familienunternehmen und junge Start-Ups zusammen? Denn das ist eine häufige Konstellation, wenn Maschinenbau auf Life Science trifft. Und wie kommunizieren Ingenieure und Naturwissenschaftler miteinander? „Auf der einen Seite steht die Life-Sciences-Branche mit langen Entwicklungszeiten, auf der anderen Seite die Engineering- und Automation-Branche mit kurzen Projektlaufzeiten und in hohen Stückzahlen denkend“, erklärt Dr. Kathrin Ballesteros Katemann von der BioRegio Stern. Überraschenderweise zeigten die Ergebnisse der Studie, dass die beiden Branchen oftmals doch nicht so unterschiedlich sind wie erwartet wurde.
„Insbesondere die Erfolgsfaktoren für und die Hindernisse bei der Anbahnung von Kooperationen werden ähnlich bewertet, so die Wissenschaftlerin. Ballesteros Katemann hat an der Studie mitgearbeitet und weiß, dass beide Branchen ähnliche Vorstellungen vom idealen Rahmen einer Zusammenarbeit haben: „Man möchte sich flexibel und ausschließlich projektabhängig binden; feste und langfristige Bindungen, etwa in Form von Joint Ventures, streben sie nicht an.“ Doch welche Automatisierungslösungen sind für Life-Sciences-Unternehmen aktuell interessant, was setzen sie ein? Zum Vergleich wurden auch die Engineering- und Automation-Unternehmen danach befragt, was sie der Life-Sciences-Branche anbieten.
Das Ergebnis zeige, so Ballesteros Katemann, dass Angebot und Nachfrage in diesem Bereich noch nicht übereinstimmen: Die Medizintechniker und Biotechnologen nutzen vor allem Lösungen aus den Bereichen Mess- und Elektrotechnik, Mikroelektronik, Sensorik sowie Informations- und Kommunikationstechnik. Dem gegenüber stehen die Automation-Unternehmen, die sich auf den Bereich Produktionstechnik, Robotik oder die Entwicklung und Herstellung einzelner Sondermaschinen spezialisiert haben. „Die Life-Sciences-Branche benötigt also womöglich mehr Mess- und Elektrotechnik, als der Markt der Automatisierer momentan anbietet.“ Dennoch bewegen sich die Branchen weiter aufeinander zu: Beide Seiten sehen die Automatisierung der Life-Sciences-Branche als Chance für die eigene Wettbewerbsfähigkeit und den wirtschaftlichen Erfolg. „Der Wunsch nach einer weitergehenden Zusammenarbeit in beiden Branchen besteht also explizit“, so die Wissenschaftlerin. Neue Kooperationen werden allerdings zunächst hauptsächlich in den Bereichen Diagnostik und Analytik entstehen, wo Lösungen aus der Mikroelektronik, Sensorik und Informations- und Kommunikationstechnik Anwendung finden werden. Bereits bestehende erfolgreiche Kooperationen können nicht darüber hinweg täuschen, dass insgesamt die Branchenverknüpfung noch ganz am Anfang steht. „Es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Branchen, als zu erwarten war, aber es gibt deutliche Unterschiede in Bezug auf Ziele und die Erwartungen an eine Kooperation“, resümiert Dr. Ballesteros Katemann. Damit dies nicht zu Konflikten oder gar zum Scheitern einer Kooperation führt, sollten die wesentlichen Unterschiede gleich zu Beginn der Partnerschaft thematisiert werden
Beispiel Robotik: Während die Automobilindustrie bereits eine Roboterdichte von mehreren hundert Robotern pro 10 000 Mitarbeiter hat, kommen in den Bereichen Medizin, Pharma und Kosmetik bislang weniger als 50 Roboter auf 10 000 Beschäftigte. Bereits seit Jahren haben sich Roboterhersteller und andere Automatisierungsanbieter auf die vielfältigen Anforderungen dieser Branchen konzentriert und können heute mit ausgereiften Techniken aufwarten: Sie stellen einerseits hochkomplexe, vielachsige Roboterlösungen zum Beispiel fürs Schleifen und Polieren von Implantaten bereit. Andererseits liefern sie auch einfachere, jedoch meist hochpräzise Automatisierungseinheiten.
Dr.-Ing. Andreas Pott, Gruppenleiter Intralogistik am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart, bestätigt die Verfügbarkeit passender Roboter und Automatisierungskomponenten für den Einsatz in der Medizin- und Biotechnologiebranche. Dabei unterscheidet er zweierlei Anforderungen, die je nach Einsatzfall erfüllt werden müssen: „Manche Roboter müssen sich für den produktionstechnischen Einsatz unter Reinraumbedingungen eignen. Für andere Einsätze gelten zum Teil strenge Hygieneanforderungen, wie wir sie aus der Lebensmittelbranche kennen.“ Für die Robotertechnik ist beides kein Problem. „Viele Anbieter bieten Modelle an, die entsprechend zertifiziert werden können.“
Dass sich ihre Produkte für den Medizin- und Life-Science-Bereich ideal ergänzen, haben auch die Häcker Automation GmbH, Schwarzhausen, und der Hersteller optischer Datenträger CDA Albrechts GmbH erkannt. Seit Ende letzen Jahres kooperieren die beiden Unternehmen auf den Gebieten Lab-on-a-Chip und Embedded Diagnostic Systems. Ziel ist es, die empfindlichen Bauteile von CDA so zu entwickeln, dass sie durch ihre Kompaktheit für ein hohes Level an Parallelisierung geeignet sind. Zur gleichen Zeit können durch geeignete Mikrostrukturierungsprozesse große Stückzahlen von Komponenten zu relativ geringen Kosten realisiert werden. „Unsere Kompetenzen in Mikrostrukturierung und Mikromontage ergänzen sich ideal“, erklärt Gerrit Häcker, Geschäftsführender Gesellschafter der Häcker Automation. „Wir kombinieren jetzt unser Wissen in Mikro-Optik, gedruckter Elektronik sowie Präzisions-Maschinenbau mit Mikrosystem-Fertigung und 3D-Aufbau- und Verbindungstechnik.“ Dabei setzt Häcker nicht auf „maßgeschneiderte Prozesslösungen von der Stange“, sondern auf ein modulares Maschinenkonzpt.
Auch Contexo-Geschäftsführer Jürgen Müller setzt bei seiner Technologie-Partnerschaft auf Flexibilität: „Bisher haben wir viele Prozesse, die wir normalerweise jeweils in einzelnen Produktionsanlagen unterbringen, in einer Anlage kombiniert. Steigt die Nachfrage bei Curetis, könnten wir mit dem Ausbau der Produktionseinheit reagieren.“
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