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Auf der Suche nach Ersatz für umstrittenen PVC-Weichmacher

Medizinproduktegesetz und Reach: Neue gesetzliche Anforderungen für die Hersteller
Auf der Suche nach Ersatz für umstrittenen PVC-Weichmacher

Dem PVC-Weichmacher DEHP geht es an den Kragen: Reach stuft ihn als besonders besorgniserregend ein – und laut dem novellierten Medizinproduktegesetz sind Produkte ab April 2010 zu kennzeichnen. Die Hersteller suchen Alternativen.

„Das überarbeitete Medizinproduktegesetz, kurz MPG, stellt eine Vorstufe zum Verbot des PVC-Weichmachers DEHP dar“, ist Georg Kühlein überzeugt, Mitarbeiter im Bereich Forschung & Entwicklung bei der Raumedic AG im fränkischen Helmbrechts. „Doch ein solch generelles Verbot ist alles andere als sinnvoll. Die Behörden sollten vielmehr die einzelnen Anwendungen und die daraus erwachsenden Risiken für den Patienten unter die Lupe nehmen.“

Grund für Kühleins Ärger ist das vierte MPG-Änderungsgesetz, das Ende Mai den Bundesrat passiert hat. Es schreibt vor, dass ab 21. März kommenden Jahres für alle Produkte mit Weichmachern auf Phthalat-Basis Kennzeichnungspflicht gilt. „Im Sinne des Patientenschutzes müssen Medinzintechnikprodukte so ausgelegt sein, dass die so genannten KEF-Gefahrstoffe – also krebserregende, erbgutverändernde und fortpflanzungsgefährdende Stoffe – die dem Produkt entweichen, so weit wie möglich verhindert werden“, erklärt Rafael de la Roza, Unternehmensberater in Aschaffenburg.
Er ist überzeugt: „Daran werden viele Hersteller zu knabbern haben. Denn die Zertifizierungsstellen können Produkte blocken, die die umstrittenen Weichmacher enthalten.“ Er rät daher jedem Hersteller der Branche, der diese Stoffe verwendet, schon jetzt zu prüfen, ob es Ersatzstoffe gibt oder ob ihr Einsatz etwa wegen fehlender Alternativen zwingend begründet ist. De la Roza: „Er muss nach Alternativen Ausschau halten und dabei etwa Rohstoffpreise und Verarbeitungskosten einbeziehen.“ Die Schlussfolgerungen aus diesen Recherchen müssen dann in der technischen Dokumentation beschrieben werden, die den Prüfstellen zur Begutachtung vorgelegt werden muss.
Die Diskussion um Diethylhexylphthalat oder DEHP ist nicht neu: Seit Jahren kritisieren Organisationen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Health Care without Harm oder das Bundesinstitut für Risikobewertung dessen Einsatz in Medizinprodukten, da die Gefahr insbesondere für Kleinkinder, Schwangere und stillende Mütter zu groß sei: DEHP-Moleküle können ausgasen beziehungsweise beim Kontakt mit Flüssigkeiten oder Fetten herausgelöst werden. Sie gelangen in den Körper und werden dort nicht über die harnflüchtigen Anteile ausgeschieden.
Fette sind besonders anfällig für die Migration von DEHP, wie das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV), Freising, 2005 in einer Studie zur Migration von Weichmachern aus PVC-Schläuchen in enterale Nahrungslösungen festgestellt hat. Die Empfehlung der Experten: Finger weg von dem Weichmacher. Die Pfrimmer Nutricia GmbH, Erlangen, setzt daher schon seit längerem für ihre Produkte der enteralen Ernährung eine DEHP-Alternative von BASF ein: Hexamoll DINCH. Hier sei die Migration deutlich geringer als bei DEHP, so das IVV.
„Die Verwendung von Weichmachern mit deutlich niedrigeren Migrationsraten ist die einzig ratsame Lösung im Sinne des Patienten. Der hat schließlich nichts gewonnen, wenn ein Weichmacher auf Phtahalat-Basis durch einen anderen ersetzt wird, der genauso hohe Migrationsraten aufweist“, sagt Raumedic-Forscher Kühlein. Dies gilt etwa für ATBC, das in der Fraunhofer-Untersuchung die mit Abstand höchsten Weichmacher- Migrationswerte aufweist – bei den Herstellern von Spielzeug aber als DEHP-Ersatz Anklang findet.
„Die Suche nach Alternativen wird die Branche jetzt auf Trab halten“, ist Berater De la Roza überzeugt. Ob sich allerdings immer eine PVC- oder auch Weichmacher-Alternative findet, die den Anforderungen des MPG und gleichzeitig auch den Preisvorstellungen der Kunden standhält, ist für viele Hersteller zweifelhaft. „Eine Umstellung braucht Zeit“, stellt Magnus Bodmer klar, bei der Paul Hartmann AG in Heidenheim für das Management technischer Dokumentationen und Chemikalienrecht verantwortlich.
Auch dort gibt es Überlegungen zu alternativen Weichmachern für PVC, da die Eigenschaften von PVC für einzelne Anwendungen schwer ersetzbar sind. „Doch dafür müssen wir Produktionsversuche machen und die Produkte verschiedenen Tests unterziehen, unter anderem Alterungstests.“ Hinzu kommt. Alle alternativen Weichmacher sind heute teurer als DEHP. Laut Kühlein liegt der Preis für DINCH rund 20 %, der für das bei Raumedic entwickelte Nodop auf Basis von Trimellitaten 35 % über dem von DEHP. Diesen Aufpreis wolle der Kunde in der Regel nicht bezahlen, sagen Bodmer und Kühlein unisono.
Bodmer setzt darauf, dass die Preise für Phthahalat-freie Weichmacher wie DINCH mit zunehmenden Produktionsvolumina fallen werden. Kühlein ist da weniger optimistisch: „Die Medizintechnik in Europa benötigt rund 30 000 Tonnen Weichmacher im Jahr. Für eine großtechnische Anlage ist dies zu wenig. Wenn andere Branchen mit großen Volumina nicht auf den Zug aufspringen, kommt es nicht zu signifikanten Preisreduzierungen.“
Bei anderen Kunststoffen müsse man neben dem höheren Preis für den Werkstoff höhere Kosten hinsichtlich neuer Anlagen und deren Betrieb einkalkulieren. Insofern sind alternative Weichmacher die favorisierte Lösung – das Wissen bei der Anwendung und Verarbeitung von PVC kann weiter genutzt werden.
„Aufgrund der Lagerhaltung wird ein Großteil der Kunden ab März um die Kennzeichnung nicht herum kommen. Doch mittel- und langfristig ist damit für viele die Schwelle erreicht: Sie wollen DEHP nicht mehr einsetzen“, ist Kühlein überzeugt. Die Pflicht zum Labeling werde den Anfang vom Ende des Weichmachers einläuten.
Druck kommt auch von anderer Seite: Neben dem MPG ist auch die europäische Chemikaliengesetzgebung Reach zu beachten, die die Verwendung von Stoffen bei der Herstellung von Produkten neu regelt. Alle Produzenten und Importeure von Erzeugnissen müssen danach wissen, welche gelisteten Stoffe in ihren Waren stecken. 15 besonders besorgniserregende Stoffe führt die zuständige Behörde Echa auf einer Kandidatenliste auf, die der EU-Kommission vorgelegt wurde – und darauf steht auch DEHP. Zwar ist damit für die Hersteller kein Verbot verknüpft, den Stoff zu verwenden. Doch besteht die Pflicht, die gewerblichen Abnehmer über das Vorhandensein des Weichmachers in ihren Produkten zu informieren, wenn dieser zu mehr als 0,1 % im Produkt enthalten ist. Endkunden können diese Informationen durch eine entsprechende Anfrage erhalten.
Wo und wie detailliert der Kunde über besorgniserregende Stoffe informiert wird, schreibt Reach nicht vor. „Eine Kennzeichnung kann die Anforderungen von Reach und MPG gleichermaßen erfüllen und einige Hersteller setzen dies bereits heute so um“, sagt Bodmer. Allerdings lassen sich die Stoffinformationen auch in Verträgen, Beiblättern oder auf der Internet-Seite veröffentlichen. Raumedic etwa informiert seine Kunden in den Auftragsbestätigungen, wenn sie Produkte mit DEHP geordert haben. Kühlein: „Insofern hat die Polymer verarbeitende Industrie kein Problem mit Reach. Das MPG bereitet uns wesentlich größere Kopfzerbrechen.“
Sabine Koll Journalistin in Böblingen

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