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Passgenaue Orthesen und Prothesen, die der individuellen Anatomie von Patienten entsprechen, entstehen aus verschiedenen Materialien. In Frage kommen thermoplastische Kunststoffe, Faserverbundstoffe und Metalle, Hightech-Funktionsfasern, Leder sowie Textilien in verschiedenen Materialkombinationen, die es zu verbinden gilt. Um die bestmögliche Produktqualität zu erzielen und die Herstellung zu vereinfachen, suchten die Fachleute der F. Gottinger Orthopädietechnik GmbH in Zorneding nach wenigen, aber guten Klebstoffen, die allen Anforderungen der Orthopädietechnik entsprechen. Oder noch lieber nach einem Klebstoff, dem „Klebstoff für alles“, der die Bandbreite der Materialkombinationen möglichst vollständig abdeckt.
So ein Klebstoff muss eine Vielzahl von Eigenschaften aufweisen. Dazu gehört das Fixieren der aus Metall bestehenden Gelenksysteme einer Orthese am Carbon-Rahmen. Ein solcher Klebstoff muss dem Anwender genug Zeit lassen, um die Teile zu positionieren, aber dann mit hoher Anfangsfestigkeit punkten. Auch auf senkrechten Flächen oder dreidimensional verformten Teilen soll er seine Klebkraft entfalten können – und das Ablaufen des Klebstoffes war ein Ausschlusskriterium. Große Spaltbreiten sollte er weich und flexibel zusammenfügen können.
Mit Carbon und Metall allein ist es aber nicht getan. Bestimmte Teile von Orthesen und Prothesen werden von innen gepolstert, um die Haut einzubetten und den direkten Kontakt mit der harten Orthesenschale zu verhindern. Der ideale Klebstoff hierfür soll das Polstermaterial schnell fixieren.
PE-Schaumstoff ist eine Herausforderung beim Kleben
So gepolstert sind zum Beispiel die teils dreidimensionalen Schäfte von Orthesen und Prothesen. Deren Grundmaterial sind Perlontrikotschlauch-Lagen und eine Acryl-Matrix. Hier schafft eine Schicht aus Polyethylen-Schaumstoff mehr Tragekomfort. Da Polyethylen (PE), wie Polypropylen (PP) oder auch Polyoxymethylen (POM), zu den schwer verklebbaren Kunststoffen zählt, war hier ein Klebstoff gefordert, der auf diesen Materialien haftet, kaum thermoplastische Verformung zulässt und mit Lösungsmittel wieder ablösbar ist.
Bisher verbrachten die Entwickler bei Gottinger nicht wenig Zeit damit, für neue Aufgaben die jeweils passenden Klebstoffe zu finden. Nun haben sie Ansprechpartner, mit deren Hilfe sich dieser Aufwand reduzieren lässt, und diese sitzen gerade mal zwei Straßen weiter: Die Fachleute der Ruderer Klebtechnik GmbH haben sich auf hochwertige Industrie-Klebstoffe spezialisiert und sind ebenfalls in Zorneding ansässig. Neben der hauseigenen Marke Technicoll gehören Klebstoffe andere Hersteller zum Sortiment, darunter Araldite, H.B. Fuller, Sika, 3M, Panacol, Lord, Kömmerling, Born2Bond (Bostik), Loctite, Teroson, Otto-Chemie, Weiss-Chemie und Drei Bond.
Beratung und Testklebungen erleichtern die Entscheidung
Mit seinem Anliegen aus der Orthopädietechnik profitierte Gottinger nun nicht nur vom Know-how des Nachbarunternehmens. Orthopädietechnikermeister und MSc Neuroorthopädie Francisco Martins, der seit 1997 bei der Gottinger arbeitet, lobt auch „die gute Zusammenarbeit“ sowie die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der Klebstoffexperten. Dass bei Bedarf Testklebungen bei Ruderer möglich sind oder die Klebstoffexperten vor Ort beraten, sei bei spezifischen Anforderungen von Vorteil gewesen.
Ein Spezialfall sind zum Beispiel schnelle Reparaturen. War man hier früher noch zu 100 % aufs Nieten, Schrauben und Bohren angewiesen, halten heute Spezialklebstoffe als Ergänzung und Ersatz zu den herkömmlichen Verbindungstechnologien Einzug. Auch orthopädische High-Tech-Produkte wie Ganzbeinorthesen lassen sich zum Teil innerhalb von nur einer Woche fertigen. Wichtig beim Kleben sind hier eine schnelle Aushärtung, eine gute Fließfähigkeit und eine glasklare Farbe, um die Optik des Produktes nicht durch den Klebstoff zu beeinträchtigen.
Dieser Klebstoff verbindet beinahe alle Materialien aus der Orthopädietechnik
Als Lösung für all diese Anforderungen kristallisierte sich schließlich der Kontaktklebstoff Helmitin Formel 1 des Herstellers H.B. Fuller heraus. Dieser flüssige, lösemittelhaltige Spezialkleber ist hochelastisch und wird als 1- und 2-Komponenten-Kontaktklebstoff angeboten. Er haftet auf nahezu allen in der Orthopädietechnik verwendeten Materialien – auch auf Kork, Leder, Lederfaserstoff, EVA bis hin zu Textilien und Filz.
Der Klebstoff ermöglicht einen flexiblen Fugenzustand und ist beständig gegen Wärme, Weichmacher und Feuchtigkeit. Seine Lagerfähigkeit von einem Jahr bei Raumtemperatur macht ihn für die Orthopädietechnik besonders interessant.
Helmitin Formel 1 hat eine Kontaktklebezeit von 120 min, was den Orthopädietechnikern genug Zeit zum Arbeiten einräumt. Die Ablüftezeit beträgt 5 bis 60 min. Der lösemittelhaltige Kontaktklebstoff muss nicht extra angemischt werden und wird auf beide Fügeteile aufgetragen. Während der Ablüftezeit verdunstet der Großteil des Lösemittels. Danach lassen sich beide Teile fügen und mit einem kurzen hohen Druck verbinden.
Für die Herstellung der Prothesen und Orthesen hat das Unternehmen Gottinger den Faktor Zeit beim Kleben im Blick: „Da keine Vorbehandlung nötig ist, lassen sich komplexe Arbeitsvorgänge in der Orthopädietechnik ohne großen Zeitaufwand komfortabel umsetzen“, berichtet Martins. „Vom ersten Formabdruck bis hin zur Fertigstellung einer Orthese oder Prothese ist durch den Einsatz des leistungsfähigen Industrieklebstoffs eine deutliche Zeitersparnis möglich.“
Ablösbarkeit des Klebstoffes: Wichtig für Anpassungen bei orthopädischen Produkten
Als vorteilhaft erwies sich auch die Ablösbarkeit. Denn trotz seiner hohen Klebekraft kann Helmitin Formel 1 mithilfe des Lösemittels Helmitin 676/2 wieder von den Materialien entfernt werden. Das ist in der Orthopädietechnik wichtig, weil durch Wachstumsschübe oder Operationen immer wieder Anpassungen am Produkt notwendig sind.
Allerdings hat die Analyse der Anforderungen gezeigt, dass „ein“ Klebstoff dann doch nicht für alle Anwendungsfälle in der Orthopädietechnik ausreicht. Für die besondere Herausforderung beim Kleben hochfester Materialien wie Metallen mit Verbundwerkstoffen wie Carbon-Prepreg setzen die Zornedinger heute auf den 2-K-Klebstoff Agomet F 330. Dieser kalthärtende Klebstoff auf Methacrylatbasis hat eine Fügezeit von 10 min und zeigt eine sehr gute Zugscher- und Schälfestigkeit – auch ohne aufwendige Vorbehandlung der Fügeteile.
In Kombination mit Agomet F 330 Härterpulver oder der Härtepaste können Fugendicken von 5 mm und mehr überwunden werden. Dadurch, dass Agomet F 330 Temperaturen zwischen –40 °C und +130 °C standhält, eignet er sich sehr gut für die in der Orthopädie unter Hitze verarbeiteten Formteile. Auch mehrlagige Konstruktionen werden damit zu beständigen und wärmefesten Einheiten.
Für kleine Reparaturen, zum Beispiel an Innenschäften oder Schuhsohlen, schwört man bei Gottinger auf den Sekundenkleber Technicoll 9556. Diesen niedrigviskosen Cyanacrylat-Klebstoff hat Ruderer Klebtechnik speziell für Gummi und EPDM-Verbindungen (Moosgummi) entwickelt, er haftet aber genauso gut auf Metall, Keramik und Kunststoffen.
Spezialklebstoff als Hilfe für alle Fälle
Bei Gottinger dient dieser Spezialkleber als Universalhilfe. Er kommt rund um den Anpassungsprozess immer dann zum Einsatz, wenn es um passgenaue, sehr kleine Fügeflächen oder Bauteile geht, die in Sekundenschnelle geklebt oder fixiert werden müssen.
Da Orthesen und Prothesen ein Leben lang halten sollten, floss auch das Thema Nachhaltigkeit in den Entscheidungsprozess der Orthopädietechniker ein. Sowohl Helmitin Formel 1 als auch der Klebstoff Agomet F330 bieten mehr Materialeffizienz: Genau das Material, das andernfalls durch Schweißen, Bohren oder Nieten verloren gegangen wäre, lässt sich damit einsparen. Die hohe Leistungsfähigkeit trägt auch zur Langlebigkeit der Produkte bei – wobei deren „Haltbarkeit“ laut Europäischer Verordnung (MDR – Medical Device Regulation) auf einige Jahre beschränkt ist, damit sicherheitsrelevante Aspekte gewahrt bleiben.
Und wie sieht es mit neuen Technologien wie dem 3D-Druck für die Orthopädietechnik aus? Zwar arbeite man bereits mit diesem Verfahren, sagt Francisco Martins, und vermutlich werde das in Zukunft auch mehr werden. Insbesondere Orthesen und Prothesen seien aber hohen, wechselnden Belastungen ausgesetzt. Sie dürfen dennoch weder ihre Form noch ihre Rotationsstabilität verlieren. Materialien, die heute für die Additive Fertigung verfügbar sind, hielten diesen Anforderungen oft nicht stand.
Was 3D-Druck und Digitalisierung für die Orthopädietechnik bieten
Zukunft der Additiven Fertigung in der Orthopädietechnik noch nicht entschieden
Ob die additive Fertigung die konventionelle Bauart in naher Zukunft ersetzen wird, hängt laut Martins vom Therapieziel und den Orthopädietechnikern ab. Die individuelle Anfertigung im 3D-Drucker verkürze zwar den Herstellungsprozess und ermögliche mehr Individualität. „Andere Prozesse in der Additiven Fertigung hingegen, wie das Konstruieren, Drucken, Formen und Färben, nehmen bislang aber noch sehr viel Zeit in Anspruch.“ Seiner Meinung nach werde „nichts das manuelle Herstellungsverfahren ersetzen“. Und mit den Hochleistungsklebstoffen spart Gottinger inzwischen viel Zeit bei der Herstellung der Prothesen und Orthesen.
Digitalisierung bei Ottobock: Vom 3D-Druck im Start-up zum Standard
Dass er und sein Team heute mit nur einem, maximal drei Klebstoffen auskommen, ist das Resultat innovativer Denkansätze. Francisco Martins blickt daher gelassen in die Zukunft. „Die von uns eingesetzten Klebstoffe sind aller Wahrscheinlichkeit nach ausreichend, um auch kommende Herausforderungen bestens zu meistern.“ (op)
Weitere Informationen
Die Ruderer Klebtechnik GmbH in Zorneding bietet eine herstellerunabhängige Beratung zu Klebeprojekten. Probeklebungen, Alterungstests, die Modifikation von Klebstoffen oder das Lohnkleben gehören zum Portfolio.
Über den Anwender
Die F. Gottinger Orthopädietechnik GmbH in Zorneding verfügt über 120 Jahre Erfahrung in der Herstellung von technischen Hilfsmitteln. Dazu gehören Kopforthesen, dynamische und statische Fuß-, Bein- und Armorthesen über Korsette bis hin zu Prothesen. Jedes Produkt wird individuell gefertigt und ist Maßarbeit. Jährlich verlassen etwa 1.500 Orthesen und Prothesen die Orthopädischen Werkstätten.
Einen Namen gemacht hat sich das Unternehmen bei der Versorgung von Kindern mit neurologischen Krankheitsbildern wie Spina bifida (Fehlbildung der Wirbelsäule), ICP (Störung des Nerven- und Muskelsystems) und Polio (Kinderlähmung). Dafür haben die Mitarbeiter unter anderem neuartige Passteile entwickelt.