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Wie Ottobock jetzt in digitalisierte Fertigung und 3D-Druck einsteigt

3D-Druck in der Orthopädietechnik
Digitalisierung bei Ottobock: Vom 3D-Druck im Start-up zum Standard

Das 2018 bei Ottobock gegründete Start-up I-Fab lieferte die Ideen, wie sich Digitalisierung und 3D-Druck zum Nutzen der Orthopädietechnik einsetzen lassen. Für zwei Produkte wird das jetzt zum Standard. Andreas Zoost, der diesen Bereich leitet, berichtet über Erfahrungen und Perspektiven.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Zoost, wie sah für Ottobock der Einstieg in die Digitalisierung und den 3D-Druck aus?

Dass diese beiden Bereiche für die Orthopädietechnik interessant sein könnten, war schon seit einiger Zeit klar. Im Jahr 2018 wurde dann im Unternehmen intern Start-ups gegründet, darunter auch I-Fab. Damit sollte ein geschützter Raum geschaffen werden, der Experimente ermöglichte und gedankliche Freiräume bot. Der 3D-Druck bietet ja sehr viel Varianten mit zahlreichen Verfahren und Werkstoffen. Nicht alle erfüllen die Anforderungen der Orthopädietechnik, und so galt es, die geeigneten ausfindig zu machen und zu schauen, wie eine Anwendung realisierbar wäre. Abgesehen von allen technischen und rechtlichen Fragen und den Wünschen der Patienten war ja auch zu beachten, dass eine im 3D-Druck hergestellte Prothese oder Orthese am Ende in den Kostenrahmen der Erstattung passen muss. Es gab also vieles zu bedenken.

Digital, individuell, 3D-Druck: Fördermittel für Ottobock

Wofür wird 3D-Druck aktuell bei Ottobock genutzt?

Wir haben vor wenigen Tagen, Anfang Oktober 2022, den Schritt aus der Start-up-Phase hin zur Scale-up Phase gemacht. Es gibt jetzt zwei von I-Fab entwickelte Anwendungen, die wir in den Markt ausrollen: zum Einen Helmorthesen für Babys, zum Anderen Prothesenschäfte. Wir produzieren sie in den Zentralfertigungen Duderstadt und Salt Lake City in den USA im 3D-Druck, als patientenindividuelle Produkte. Der Bereich wurde in Digital Fabrication umbenannt, um dem neuen Abschnitt Rechnung zu tragen. Die bestehenden beiden Anwendungen entwickeln wir kontinuierlich weiter und erschließen auch neue.

Welche Vorteile haben diese individuellen Produkte für die Patienten?

Die Helmorthesen werden bei Kleinkindern eingesetzt, deren noch weiche Schädelknochen bei der Geburt oder durch andere äußere Einflüsse deformiert wurden. Der Helm soll die Knochen allmählich zu der normalen Schädelform führen. Da die Kinder, die solche Helme tragen, mit ihren Nackenmuskeln das gesamte Gewicht halten müssen, ist es von Vorteil, dass wir im 3D-Druck besonders leichte Helme haben. Zudem gefällt den Eltern die vergleichsweise schlanke Silhouette der Helme, die in der Software individuell an das Baby angepasst werden. Auch die Prothesenschäfte stimmen wir auf den individuellen Beinstumpf ab. Diese sind im Inneren nach Leichtbauprinzipien gestaltet. Das Vorbild dafür waren Knochenstrukturen, die geringes Gewicht und hohe strukturelle Stabilität miteinander vereinen. Durch die Digitalisierung hat man den Vorteil, die Wandstärken an jeder Stelle einfach und reproduzierbar kontrollieren zu können, um Stabilität und Komfort optimal auszubalancieren. Und natürlich ist eine Stumpfabformung per Scan für die Patienten deutlich sauberer und angenehmer als über ein Gipsmodell.

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Im Inneren des Prothesenschaftes lassen sich mit dem 3D-Drucker knochenähnliche Strukturen herstellen. Das macht den Schaft leichter – und steigert damit den Komfort für den Patienten
(Bild: Ottobock)

Wie kommt der Patient auf digitalem Weg zu seinem individuellen Produkt?

Die Schnittstelle ist nach wie vor der Orthopädietechniker. Bisher war die Herstellung einer Prothese eine handwerkliche Tätigkeit. Dafür geht der Patient zum Techniker, der den Beinstumpf eingipst und dann anhand des Abdruckes mit Feilen und Glätten ein Modell erstellt. Über dieses wird eine Folie gespannt, um durch Tiefziehen den individuell passenden Schaft herzustellen. Für den Orthopädietechniker heißt das zum Beispiel, dass er eine Wasch- oder Duschgelegenheit für den Patienten braucht – und beide müssen schon für den Abdruck genug Zeit einplanen. Die Digitalisierung vereinfacht das Ganze: Der Techniker erstellt, trocken und sauber, einen Scan. Alles weitere läuft dann im virtuellen Raum. Erst mit dem Druck des Schaftes materialisiert sich die Arbeit.

Welche Herausforderungen waren in der Start-up-Phase zu bewältigen, um zu der fertigen Lösung zu kommen?

Die heutige Lösung ist ein ganzheitliches Angebot aus mehreren Elementen. Fangen wir mit dem materiellen Teil an. Am Ende braucht der Patient den individuellen Prothesenschaft. Dieser muss aus einem geeigneten Material bestehen, das unter anderem stabil ist und biokompatibel, und das nicht scharfkantig bricht. Aus dem breiten Angebot an Werkstoffen und Verfahren war für Ottobock die Schlussfolgerung, dass der Werkstoff PA12 die Anforderungen am besten erfüllt. Das gilt sowohl für den Helm als auch für den Prothesenschaft. Das Material verarbeiten wir mit dem pulverbasierten Multijet-Fusion-Verfahren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist es, stabile Prozesse zu haben, um sicherzustellen, dass das Produkt stets den in der Software gemachten Vorgaben entspricht. Darüber hinaus haben wir viel Zeit und Aufwand in die Verifizierung gesteckt, um sicherzustellen, dass wir immer die notwendigen Funktions- und Sicherheitskriterien erfüllen. Da es sich um patientenindividuellen Designs handelt und nicht die immer gleichen Produkte aus einer Serienfertigung, war das schon eine besondere Herausforderung.

Design für den 3D-Druck erstellt künftig die KI

Und wie sieht der nicht-materielle Teil des Prozesses aus?

Die Herausforderung hier ist es, mit der Softwarelösung dem Orthopädietechniker einen möglichst einfachen Umstieg vom traditionellen zum digitalen Prozess zu ermöglichen. Der digitalisierte Ablauf beginnt mit dem Scannen am Patienten und endet mit den CAD-Daten, die an den 3D-Drucker gehen. Für den Scanner haben wir die Hardware gekauft, aber eigene Softwarelösungen entwickelt, um die Arbeitsabläufe möglichst einfach, aber zuverlässig für das spezielle Umfeld der Orthopädietechnik zu gestalten. Das Modellieren des Scans und das Generieren der CAD-Daten erfolgt ebenfalls mittels selbstentwickelter Software. Darin steckt unser eigentliches Know-how, das ein internationales und cross-funktionales Team von Softwareentwicklern, Ingenieuren und Orthopädietechnikern beigetragen hat: Das Wissen aus der CAD-Welt und das aus der Orthopädietechnik fließen hier zusammen, und vom Scan bis zum fertigen Produkt hat der Orthopädietechniker alle Schritte aus einer Hand.

Von welcher Art Software ist da die Rede?

Zum einen wäre da das anatomische Modellieren. Ein digitaler Zwilling simuliert das anatomische Verhalten von Gelenken und Weichgewebe und erschließt damit für den Orthopädietechniker völlig neue Möglichkeiten. Zum anderen gibt es das automatisierte Morphen. Damit lässt sich das gewählte Design auf die individuelle Patientensituation anpassen. So lassen sich auf schnelle und präzise Art patientenindividuelle Passteile herstellen. Dabei berücksichtigen wir zum Beispiel Mindestwerte für die Wanddicke, Anschlussformen, mit denen die eigentliche Prothese am Schaft befestigt wird, aber auch Ventilpositionen. Die Ventile sorgen dafür, dass ein Unterdruck den Schaft am Stumpf hält. Was automatisiert erstellt und digital an das Modell gemorpht wird, bewertet am Ende immer der Orthopädietechniker. Die Software macht ihm Vorschläge, die er noch verändern kann. Trotzdem versuchen wir kontinuierlich, die Vorschläge der Software genauer zu machen und den Orthopädietechniker bei seinen Entscheidungen bestmöglich zu unterstützen. Dabei setzen wir unter anderem auf Machine Learning. Dies ermöglicht es beispielsweise, die Bewegungen des Patienten während des Scans zu erfassen und Unschärfen im Datensatz zu verhindern. Da wird es auch in Zukunft noch Weiterentwicklungen Richtung KI geben.

Was 3D-Druck und Digitalisierung für die Orthopädietechnik bieten

Welche technischen Weiterentwicklungen wären beim Druck von Vorteil?

Bei der Auswahl der Druckmaterialien sind wir heute noch sehr eingeschränkt, das ist kein Vergleich zu den konventionellen Verfahren, bei denen die Bandbreite sehr viel größer ist. Die Grenzen sind natürlich auch im Preis der Werkstoffe begründet: Ein Material, das zu teuer ist, um in den Erstattungsrahmen zu passen, kommt gar nicht erst in Frage. Ein weiterer Aspekt ist die Geschwindigkeit. Wir sind schneller als bei der konventionellen Schaftherstellung. Aber der Druck mit dem Multijet-Fusion-Verfahren dauert immer noch etwa 24 Stunden, danach muss das Bauteil abkühlen – so dass wir am Ende bei zwei Tagen sind. Die Herstellung zu verkürzen, wäre gut.

Welche Perspektive sehen Sie für die additive Fertigung?

Was wir jetzt tun, ist ein Anfang. Ein guter Start, aber eben erst der Anfang. Wir wollen für die Zukunft weiter agil vorgehen und unsere Produkte immer besser an die Anforderungen der Patienten und der Orthopädietechniker anpassen. Dafür werden zum einen die Abläufe kontinuierlich verbessern und zum anderen neue Indikationen ergänzen. Zudem werden wir die Entwicklung bei Druckern und Materialien gespannt verfolgen, um die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu nutzen. Die Digitalisierung bietet neue klinische Möglichkeiten, der Fachkräftemangel auch in der Orthopädietechnik erfordert immer effizientere Prozesse. Daher gehe ich davon aus, dass wir auf diesem digitalisierten Weg noch viel weiter gehen werden. Das Interesse nimmt jedenfalls zu, und ich denke, da liegt eine spannende Reise vor uns.


Weitere Informationen
Über Ottobock und I-Fab: www.ottobock.com/de-de/product/743Z51

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