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Hightech-Hocker aus der Stickmaschine

Faserverstärkte Kunststoffe: Tailored Fiber Placement reduziert Verschnitt und steigert Leistung
Hightech-Hocker aus der Stickmaschine

Hightech-Hocker aus der Stickmaschine
Auf einem sehr dünnen Basismaterial werden die Verstärkungsfasern nach Wunsch ausgelegt und mit einer industriellen Stickmaschine fixiert. Sind mehrere Stickköpfe parallel aktiv, lassen sich Preform-Teile in wenigen Minuten erstellen Bild: IPF
Carbonfasern kann man klassisch als Gewebe oder Gelege verwenden. Muss man aber nicht. Denn in Dresden wurde eine Technik entwickelt, mit der sich die stabilen Fasern genau dort entlangführen lassen, wo die größte Last zu tragen ist.

Sticken. Sitzmöbel. Sofakissen? Ganz falsche Fährte. Denn das Sticken haben Dresdener Ingenieure für Hightech-Anwendungen in ihren Dienst gestellt: Mit einem am Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e.V. (IPF) entwickelten Verfahren, dem Tailored Fiber Placement (TFP), lassen sich Bauteile aus faserverstärkten Kunststoffen herstellen, die sowohl sehr leicht als auch sehr tragfähig sind. Dafür werden die Fasern genau dort entlanggelegt, wo das spätere Bauteil am stärksten belastet wird. Das Sticken ist dabei das Mittel, das die Fasern am gewünschten Ort hält, bis sie von der Kunststoffmatrix fixiert werden.

Das Verfahren klingt vielleicht exotisch, ist aber keineswegs eine rein akdemische Angelegenheit: Fensterrahmen für den Airbus A 350 werden bereits auf diese Weise hergestellt. „Und es gibt Potenzial für eine Reihe weiterer Anwendungen“, sagt Dr. Axel Spickenheuer, der das Thema am Dresdener Institut bearbeitet. Die Medizintechnik ist eine der Branchen, für die das TFP interessant sein könnte.
Die ersten Ideen dazu, wie man Verstärkungsfasern wunschgemäß in einem Bauteil unterbringen könnte, wurden schon Anfang der 90er Jahre diskutiert und ausgetüftelt. Es ging darum, die Eigenschaften der Fasern besser zu nutzen, als es mit den bekannten Geweben und Gelegen möglich war. Denn in diesen sind die Faserrichtungen fest definiert – und der Ingenieur muss versuchen, die Kräfte im Bauteil abzuleiten, in dem er entsprechende Zuschnitte des Gewebes mit wechselnder Faserrichtung übereinanderpackt.
Dass sich diese Aufgabe eleganter lösen lasen müsste, wenn man die Fasern aus dem festen Raster befreit und in Kurven oder Schwüngen – kurz: nach Belieben – auf ein Trägermaterial aufbringt, ließ sich rasch belegen. Für die ersten Versuche wurden Fäden von Hand aufgenäht, doch schon bald folgte der Schritt zu automatisierten und reproduzierbaren maschinellen Verfahren. Die Fasern lassen sich mit industriellen Stickmaschinen in Bögen, Schleifen, Verdickungen und ganz nach den Erfordernissen eines Bauteils auf einem Basismaterial aufbringen und mit bis zu 1000 Stichen pro Minute befestigen. Diese Preform wird dann mit dem Matrixmaterial getränkt und durch entsprechende Behandlung verfestigt. Wenn nicht schon von vornherein hybride, also mit Matrixmaterial getränkte Fasern abgelegt werden. Dabei sind Kombinationen von Fasern und Matrixmaterialien denkbar, die an die jeweilige Anwendung angepasst werden und ihre spezifischen Vor- und Nachteile mit sich bringen. Allen gemeinsam ist, dass das Bauteil am Ende in eine Form kommt, in der es in der Matrix die endgültige Gestalt und die gewünschte Steifigkeit annimmt.
Wie der ideale Faserverlauf im Einzelfall auszusehen hat, wurde teilweise geschätzt und per Trial and Error optimiert. Mittlerweile spielt der Computer eine große Rolle. „Heute“, sagt Spickenheuer, „arbeiten wir zum Beispiel daran, Software zu entwickeln, die aus FEM-Daten zu den Belastungen in einem Bauteil die richtigen Faserverläufe errechnet und auch gleich die CAD-Daten auswirft, die für die Fertigung einer entsprechenden Form gebraucht werden.“
Diese Arbeiten schaffen wichtige Voraussetzungen dafür, dass das Verfahren in Zukunft häufiger industriell genutzt werden kann. Zwar gibt es schon aus dem IPF ausgegründete Unternehmen, die Teile nach Kundenauslegungen fertigen oder die nach Wunsch angeordneten Fasern für spezielle, gezielt beheizbare Werkzeuge nutzen. Bisher ist aber vor allem das Auslegen der Faserverläufe noch eine Kunst, mit der wenige vertraut sind. Am IPF wird seit einigen Jahren Spezialsoftware entwickelt, die langfristig auch ihren Weg in die industrielle Anwendung finden soll.
Das dem bisher noch nicht so ist, liegt unter anderem daran, dass sich die Nachfrage nach solchen Hilfsmitteln bisher in Grenzen hält. „Die meisten Ingenieure denken beim Einsatz von Verstärkungsfasern immer noch zuerst an klassische gewebte Halbzeuge, die laminiert werden“, räumt Spickenheuer ein. Dabei ermöglicht das Aufsticken filigrane Bauteile wie einen Hocker, der nur 650 g wiegt und Lasten bis zu 200 kg problemlos trägt. Entwickelt wurde er als Demonstrator in einem Projekt, in dem IPF-Ingenieure und Designstudenten von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTWD) zusammengearbeitet haben. Bei gleichem Design und gleicher Tragfähigkeit hätte man, um den Hocker aus gewebtem Halbzeug herzustellen, etwa 20 % Verschnitt in Kauf nehmen müssen – und der Hocker hätte am Ende etwa das Doppelte gewogen. „Daher lässt sich an diesem Beispiel das Potenzial des TFP sehr gut zeigen“, sagt Spickenheuer. Nicht umsonst sind die Hocker seit Mitte September im Deutschen Museum in Bonn als Bestandteil der Ausstellung „Harter Stoff“ zu sehen. Die Schau hat das Spitzencluster MAI Carbon initiiert, um der Öffentlichkeit die Möglichkeiten des Leichtbaus vor Augen zu führen. Ein Jahr lang lief die Ausstellung auch in München und lockte 160 000 Besucher an.
Doch das TFP-Verfahren lässt sich eben nicht nur für Leichtbau-Hocker oder Anwendungen im Automobil oder der Luft- und Raumfahrt nutzen. „Interessant ist das TFP auch für biomedizinische Implantate wie Kreuzbandplastiken oder Herniennetze“, sagt Spickenheuer. Letztere werden bisher gewebt. Doch entspricht das Dehnungsverhalten der gewebten Textilien nicht genau dem Dehnungsverhalten des Körpergewebes, in dem sie implantiert werden. Angepasste Faserverläufe könnten dazu beitragen, die Zahl der Nachoperationen zu senken. Und auch die Kombination der verstärkten Bauteile mit anderen Elementen führt zu Ergebnissen – wie einem sehr leichten Roboterfuß, der nur halb so viel wiegt wie sein Leichtbau-Vorgänger aus Aluminium und aus viel weniger Bauteilen besteht. Ein Elastomer-Gelenk lässt sich einbauen und ist chemisch mit der Matrix verknüpft. „Wir hoffen, dass solche Projekte die Ingenieure auf Ideen bringen“, sagt Spickenheuer, „und freuen uns auf die Diskussion darüber, wo unser Verfahren noch nutzbringend eingesetzt werden kann.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de

Mehr über das TFP-Verfahren auf der Messe

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Wieviel Vertrauen haben Sie in Leichtbaukomponenten? Das können Sie am Stand von medizin&technik auf der Messe Compamed testen und auf dünnbeinigen Hockern Platz nehmen, die mit dem TFP-Verfahren hergestellt wurden. Die verstärkenden Carbonfasern wurden dafür auf einem 0,1 mm dicken transluzenten Glasfasergewebe fixiert und sind von einer Epoxidharz-Matrix umgeben. Wegen des durchsichtigen Matrix-Materials sind die geschwungenen und zum Teil kreisförmigen Faserverläufe genau zu erkennen. Fragen zu diesem Demonstrator, zum Verfahren und zur Auslegung solcher Bauteile mittels Software beantwortet Dr. Axel Spickenheuer vom IPF in Dresden am Stand von medizin&technik.
Diskutieren Sie mit ihm, welche weiteren Möglichkeiten sich mit dem gezielten Anordnen der Fasern bieten und wo die Grenzen des Verfahrens sind. Als Werkstoffe wurden bereits Carbon- wie auch Glasfasern eingesetzt, und diese lassen sich in Kombination mit Duroplasten sowohl im Prepreg- als auch im Resin-Transfer-Moulding(RTM)-Verfahren verarbeiten. Auch eine thermoplastische Matrix ist möglich.
Besuchen Sie uns am Stand und lernen Sie unseren Gast sowie das Team von medizin&technik kennen: Halle 8a, Stand J41

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