Ein Eingriff am Gehirn findet heute mit minimal-invasiven Verfahren, aber damit auch bei eingeschränkter Sicht für den Operateur statt. Den zu operierenden Bereich muss er sich anhand von vorherigen Aufnahmen und während der Operation mit Hilfe dreidimensionaler Bildinformationen vorstellen. Das wollen die Neurochirurgen am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) ändern, und haben dafür eine Software zur Unterstützung mittels Augmented Reality (AR) entwickelt. An der Entwicklung des Systemes beteiligt waren Klinikdirektor Erdem Güresir und das Team der Klinik für Neurochirurgie zusammen mit dem Fraunhofer-Kunststoffzentrum Oberlausitz sowie der ISD Group.
Beim Testlauf des AR-Navigationssystems steht Güresir im Operationsaal des Uniklinikums Leipzig und sticht mit dem Finger in die Luft vor ihm. Dann wischt er die Luft etwas zur Seite. Der Kollege neben ihm, der Ingenieur Fabian Kropla von der Uni Leipzig, tippt auch ins Leere. Beide tragen Datenbrillen, und das Ganze sieht ein wenig aus wie eine Szene aus dem Spielfilm „Mission impossible“.
Neurochirurgie-Operation: Augmented-Reality-System warnt bei sensiblen Strukturen
Die Datenbrillen sind auf den vor ihnen auf dem OP-Tisch liegenden Modellkopf ausgerichtet. Der ist zwar äußerlich komplett unversehrt, dennoch blicken beide in ihn hinein: Die Datenbrille zeigt auf Wunsch einzelne Strukturen und ihre Position im Schädel an. Führt Chirurg Güresir nun ein Instrument über eine kleine Bohrung in das simulierte Gehirn ein, zeigt die Brille auch dessen genaue Position sowie die umliegenden, teils funktionstragenden Strukturen.
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Die Grundlage dafür bilden Aufnahmen mit Computertomographen und Magnetresonanztomographen, die über eine von den Leipzigern selbst entwickelte Softwarelösung ausgelesen und mit Hilfe der Brille durch das Gewebe hindurch „ins Gehirn“ projiziert werden. „Das ist ein großer Gewinn, denn wir sehen so die Realität, angereichert um zusätzliche Informationen, die uns das Operieren immens erleichtern können“, erklärt Prof. Güresir.
Zum einen hat der Chirurg dank der Brille beide Hände frei, statt mit einer ein bildgebendes Instrument halten zu müssen. Und zum anderen können dank der eingeblendeten Lagebilder hochsensible Strukturen, die nicht berührt werden sollten, sichtbar gemacht und so noch besser geschützt werden. Kommt der Chirurg diesen zu nahe, wird das angezeigt – im Bild und per Warnton.
Neurochirurgie: Operation auch bei Notfällen werden sicherer
„Bisher arbeiten wir beim Platzieren von Kathetern im Gehirn nach Erfahrungswerten und anhand von anatomischen Lehrbüchern praktisch freihändig“, so der Direktor der Klinik für Neurochirurgie am UKL. „Das ist zu 70 Prozent korrekt, aber in 30 Prozent der Fälle gibt es eben doch individuelle Abweichungen. Und die würden wir gern besser sehen können.“
Mit der Datenbrille wäre alles klar erkennbar, und zwar nach einem schnellen CT. Der Weg des Katheters durch das Gehirn würde als Trajektorie, also als Bewegungspfad, virtuell in das Sichtfeld der Neurochirurgen eingeblendet werden und sich über die reale Patientenanatomie legen. Gerade für Notfälle, so stellt es sich Güresir vor, wäre das ein enormer Gewinn.
Die Datenbrille könnte dabei direkt im Schockraum der Notaufnahmen zum Einsatz kommen. Das ermöglicht selbst mit wenig neurochirurgischer Erfahrung einen sichereren Eingriff. Auch für Kliniken mit einer weniger modernen Ausstattung als in Europa wäre das eine gute Option für präzise Neurochirurgie. „So eine Brille ist derzeit etwa 100-mal preiswerter als heutzutage übliche computergestützte Navigationssysteme für die Neurochirurgie“, ergänzt Privatdozent Dr. Ronny Grunert.
Patientenspezifische Modelle unterstützen den chirurgischen Eingriff
Prototyp des AR-Navigationssystems für die Neurochirurgie verfügbar
Inzwischen ist ein Prototyp des AR-Navigationssystems verfügbar, der mit allen gängigen Datenbrillen interagieren kann. „Wir haben die Machbarkeit bewiesen, nun müssen wir unsere Idee so weiterentwickeln, dass daraus ein Medizinprodukt entsteht“, beschreiben die Neurochirurgen Güresir und Winkler das Ziel.