Wie heute operiert wird, zeigen erfahrene Chirurgen im Rahmen der Sectio chirurgica in Tübingen. Das ist – nach erfolgtem Login – als Live-Video im Internet zu sehen. Konzipiert ist die Veranstaltung zwar für Studierende, aber auch Medizintechniker sind willkommen.
Herr Dr. Hirt, was ist die Sectio chirurgica, und warum bieten Sie diese Veranstaltung an?
Im Rahmen der Sectio chirurgica zeigen erfahrene Chirurgen schon im vorklinischen Teil der Medizinerausbildung den Ablauf moderner Operationsverfahren – an gespendeten Körpern von Verstorbenen. Die Fachleute erläutern, was gerade zu sehen ist, wie sie vorgehen und warum sie das in genau dieser Weise tun. Dazu können die Studenten auch Fragen stellen. Damit gehen wir über die klassischen Angebote in der Anatomieausbildung weit hinaus. Der Grund dafür ist, dass die angehenden Ärzte so nicht nur die Feinheiten der menschlichen Anatomie kennenlernen, sondern im gleichen Zeitraum auch erfahren, wozu sie dieses Wissen später brauchen werden. Denn dann lernt man mit einer viel größeren Motivation, als wenn man nur stur das Wissen paukt.
Welchen Nutzen können Medizintechniker und Ingenieure aus so einer Veranstaltung ziehen?
Medizinisches Hintergrundwissen ist für die Fachleute mit vorwiegend technischem Hintergrund genau so wichtig wie für die späteren Ärzte. Wir zeigen im Rahmen der Sectio chirurgica vor allem Standard-Operationen, also das, was die Chirurgen in ihren jeweiligen Fachgebieten sehr oft zu sehen bekommen. Die Teilnehmer sehen, welche Probleme die Mediziner dabei zu lösen haben. Bisher kann man sich dieses Wissen eigentlich nur aneignen, indem man als Beobachter an einer echten OP am Patienten teilnimmt. Dazu gibt es aber nicht immer die Gelegenheit, so dass wir die Sectio chirurgica für eine gute Alternative halten. Zumal bei dieser Veranstaltung ja auch Fragen gestellt werden können.
Wie ist die Sectio chirurgica in die Ausbildung der Medizinstudenten integriert?
Im Tübingen findet der Anatomiekurs im zweiten Semester statt. Tagsüber stehen die Studierenden selbst an den Präparationstischen in der Anatomie und arbeiten am menschlichen Körper, um die Strukturen kennenzulenen. Die Sectio chirurgica findet zusätzlich an ein bis zwei Abenden in der Woche statt. Die Themen für die Live-Operationen passen wir an das an, was im Präparationskurs gerade gelernt wird – wenn die Studierenden sich mit dem Kopf beschäftigen, kann also eine Operation am Auge oder an Nervensträngen im Gesichtsbereich das abendliche Thema sein.
Diese Informationen sind aber nicht nur für die Tübinger Studenten zugänglich…
Nein. Die hiesige Ausbildung stand zwar zunächst im Vordergrund. Inzwischen ist der Kreis der Teilnehmer allerdings erheblich gewachsen. Im deutschsprachigen Raum hatten wir im vergangenen Herbst bis zu 10 000 Teilnehmer, die die Sectio über das Internet verfolgt haben: In Hörsälen verschiedener medizinischer Fakultäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, zum Teil auch schon darüber hinaus, oder am heimischen PC. Wobei wir nicht groß für die Veranstaltung werben: Der Teilnehmerkreis ist über Mundpropaganda gewachsen.
Wie gelangen die Bilder ins Internet?
Was die Operateure tun, wird mit der Kamera aufgenommen. Dafür haben wir eigens ein Regiepult plus moderne Studiotechnik aufgebaut. Die Video-Bilder übertragen wir unter anderem auf den Bildschirm in den Hörsaal der Anatomie, aber auch als Video-Stream in einen passwortgeschützten Bereich im Internet.
Wer darf über das Internet zusehen?
Wir legen großen Wert darauf, dass nur solche Teilnehmer Zugang bekommen, die ein berufliches Interesse nachweisen können. In erster Linie sind das natürlich Studierende der Medizin – ausdrücklich auch diejenigen, die in ihrem Studium schon weit über den anatomischen Präparationskurs hinaus sind. Aber auch Studierende oder Mitarbeiter aus dem Bereich Medizintechnik sind willkommen. Ob jemand die Zugangsvoraussetzungen erfüllt, erfragen wir bei jeder Anmeldung für die Online-Teilnahme und geben die erforderlichen Login-Daten erst 24 Stunden vor Beginn bekannt. Damit wollen wir vermeiden, dass im Internet eine Art von Erlebnisanatomie entsteht. Auch gilt es, einen Missbrauch der Bild- und Filmdarstellung zu verhindern.
Wieviel medizinisches Wissen ist erforderlich, um der Veranstaltung zu folgen?
Da wir die Sectio chirurgica für Studierende am Beginn ihrer Ausbildung konzipiert haben, wird ausführlich erläutert, was gerade passiert. Wir stellen eingangs den Fall vor, beschreiben Symptome und die gestellten Diagnosen. Daher denke ich, dass auch Teilnehmer mit vorwiegend technischem Wissenshintergrund das Ganze gut verfolgen können.
Der Umgang mit gespendeten Körpern wirft auch ethische Fragen auf…
Das Verfügungsschreiben zur Körperspende wurde von der Ethikkomission der Universität Tübingen überprüft. Auch die potenziellen Spender werden über diese mögliche Verwendung informiert und haben ausdrücklich zugestimmt. Selbstverständlich ist das Individuum bei der Sectio chirurgica nicht zu erkennen, da wir mit abgedeckten Präparaten arbeiten.
Welche Themen werden im Herbst auf der Agenda stehen?
Den detaillierten Plan legen wir im Sommer fest. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir nicht nur unter den Studierenden der Medizin weiterhin auf großes Interesse stoßen, sondern auch die Techniker diese Informationsquelle für sich nutzen. Geplant sind auch Abende, bei denen die Nutzung von Geräten und Instrumenten im Vordergrund steht.
Dr. Birgit Oppermann
Über die Klinische Anatomie in Tübingen:
Modernes Konzept für die Anatomie
Die Klinische Anatomie in Tübingen ist nach Angaben ihres Leiters, Dr. Bernhard Hirt, einzigartig im Hinblick auf die Infrastruktur, das Konzept der Aus- und Weiterbildung sowie die experimentelle Nutzung.
Im Gebäude ist ein moderner Operationssaal eingerichtet, der alle Voraussetzungen erfüllt, um für Operationen am Patienten zugelassen zu werden, und den Anforderungen verschiedener Disziplinen entspricht. Seit der offiziellen Eröffnung Anfang 2011 ist der Saal mit elf vernetzten Arbeitsplätzen inklusive OP-Türmen in Betrieb. Ein Regiearbeitsplatz mit HD-fähiger Anbindung ermöglicht die Übertragung von Bild und Ton sowohl im Haus als auch weltweit über Videokonferenz oder das Internet.
In der Anatomie findet nicht nur die Ausbildung der Medizinstudenten mit Präparationskurs und Sectio chirurgica statt. Darüber hinaus gibt es Fortbildungen wie zum Beispiel mehrtägige Operationskurse und Übertragungen der Live-Bilder nach Argentinien, Brasilien, Italien und Saudi-Arabien. Insgesamt kommen jährlich über 1400 Chirurgen und 1000 Studierende ins Institut. Auch experimentelle Projekte finden in der Anatomie statt, zum Teil in Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Medtech-Branche.
Die Infrastruktur entstand mit Unterstützung aus der Industrie. Allerdings werden die Ausbildungsveranstaltungen in keiner Weise kommerzialisiert, was sich auch deshalb verbietet, da mit Körperspenden gearbeitet wird. Die Einnahmen aus Fortbildungskursen oder experimentellen Testungen werden ausnahmslos für die Bereiche Lehre und Forschung am Anatomischen Institut verwendet. Die Zusammenarbeit mit der Industrie im Rahmen von experimentellen Projekten ist jedoch ausdrücklich erwünscht.
Ihr Stichwort
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- Anatomische Ausbildung
- OP-Routine
- Renommierte Fachärzte
- Live-Übertragung im Internet
- Auch für Medizintechniker
Sectio chirurgica
Die nächsten Veranstaltungen finden im Wintersemester, also im Herbst 2012, statt. Da sich die Sectio chirurgica an die Präparationskurse der Studierenden anschließt, liegen die Termine an Dienstagen und Donnerstagen in den Abendstunden, von 18 Uhr bis etwa 20 Uhr.
Die Reihe beginnt Mitte Oktober und reicht bis in den Dezember hinein. Das genaue Programm für dieses Jahr mit Terminen und Fachgebieten wird im Sommer festgelegt.
Die Planung wird im August auch in der nächsten Ausgabe von medizin&technik veröffentlicht.
Die Teilnehmer melden sich für den Video-Stream unter www.sectio-chirurgica.de an.
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