Herr Dr. Riedemann, was fällt aktuell alles unter den Begriff XR-Technologien?
Derzeit versteht man XR als Oberbegriff, der Augmented Reality, also AR, Virtual Reality, kurz VR, und Mixed Reality, die MR, zusammenfasst. Die einzelnen Begriffsdefinitionen unterliegen aber noch immer einem gewissen Wandel. Im Regulatory Affairs Bereich scheint sich für medizinische Anwendungen der Begriff Medical Extended Reality durchgesetzt zu haben, was bei der FDA als MXR abgekürzt wird.
Welche Möglichkeiten bieten diese Technologien für die Medizin?
Wir haben es in der Medizin häufig mit komplexen, dreidimensionalen Daten zu tun, die jedoch meist nur auf 2D-Bildschirmen dargestellt werden. Für einen Mediziner ist es aber schwierig, anhand eines Anatomieatlas eine gute räumliche Vorstellung vom Gehirn zu entwickeln. Das lässt sich mit VR-Brille oder Augmented Reality viel besser begreifbar machen. Ähnliches gilt, wenn ich mit einem Patienten spreche, bei dem ein Hirntumor entdeckt wurde. Nach so einer Nachricht ist kaum jemand in der Lage, sich anhand komplexer, zweidimensionaler MRT-Aufnahmen ein Bild seiner Erkrankung zu machen – das muss man einfacher lösen.
Also sind XR-Technologien vor allem zu Demonstrationszwecken interessant?
Nein, es gibt weit mehr Anwendungsmöglichkeiten. Spannend wird es zum Beispiel bei der Vorbereitung auf eine komplexe Hirnaneurysma-Versorgung. Dann möchte man sich die anatomischen Verhältnisse in allen Einzelheiten und aus allen relevanten Winkeln anschauen können – und das gelingt an einem 2D-Monitor nur suboptimal. XR-Technologien werden aber nicht gebraucht, um in großer Runde einen Routine-Fall zu besprechen. Das lässt sich mit zweidimensionalen Schnittbildern effizienter erledigen. Ein anderes Beispiel ist die Entnahme von Nervenwasser bei einer Lumbalpunktion oder die Anlage einer externen Ventrikeldrainage. Da kann AR helfen, den besten Zugangsweg zu finden. Optische Phänomene und Patientenbewegungen können aber Fehler verursachen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz verbessert die Fehleranfälligkeit der Systeme jedoch stetig. In wenigen Jahren werden AR-basierte Navigationssysteme routinemäßig eingesetzt.
Was fasziniert Sie persönlich an den XR-Technologien?
Als Jugendlicher habe ich begonnen zu programmieren und war begeistert, als die ersten 3D-Spiele herauskamen. Die Möglichkeit, in eine virtuelle Realität einzutauchen, fand ich total spannend. Als ich später an der Harvard Medical School und am MIT gearbeitet habe, gab es dort schon Prototypen für medizinische XR-Anwendungen. Ich habe mich viel mit 3D-Modellierung und optischer Bildgebung beschäftigt und gesehen, dass uns VR und AR ganz neue Möglichkeiten bieten, biologische Prozesse zu analysieren. So wie wir mit XR mehrdimensionale Daten generieren und visualisieren können, führt das unweigerlich zu neuen Erkenntnissen.
Wer sind die Anbieter, die solche Lösungen auf den Markt bringen?
Mein Eindruck ist, dass zum Teil ganz neue Akteure auftreten oder sich Start-ups mit starken Partnern aus der Medizintechnik zusammentun. Das ist auch ein guter Ansatz, denn es muss Know-how aus ganz verschiedenen Bereichen zusammenkommen. Wir sprechen da von transdisziplinärer Entwicklung, man kommt also gemeinsam mit anderen Disziplinen zum Erfolg.
Was muss ein XR-System erfüllen, um in der Medizin Erfolg zu haben?
Es muss vor allem relevante klinische Probleme lösen und nutzerzentriert entwickelt worden sein. Unternehmen sind bestens beraten, die Anforderungen so genau wie möglich zu verstehen. Vor allem in Start-ups fehlen hierfür oft finanzielle Mittel und Geduld. Es gibt eine Tendenz, umgehend mit der Programmierung von technisch beeindruckenden XR-Systemen zu beginnen, um Investoren rasch ein schickes Produkt präsentieren zu können. Am Ende steckt dann aber viel Arbeit in etwas, das keine Aussicht auf Erfolg hat. Mit der XR-Technologie können Sie vieles machen. Mediziner brauchen diese Technik aber nur dann, wenn das Eintauchen in die dritte Dimension einen echten Nutzen bringt. Solche Anwendungsfälle gibt es in großer Zahl. Aber es gilt, sie aus der noch größeren Menge von nur scheinbar sinnvollen Anwendungen herauszufiltern.
Wie gut sind IT-Systeme im Krankenhaus auf XR-Technologie vorbereitet?
Die IT-Systeme sollten kein Problem sein, so hoch sind die Anforderungen für XR gar nicht. Man braucht einen leistungsstarken Rechner und ein bildgebendes Endgerät. Eine effiziente Einbettung in die Netwerk-, Daten- und Sicherheitsarchitektur muss natürlich ebenfalls erfolgen. Das alles ist relativ wenig, wenn man bedenkt, was man an Mehrwert gewinnt.
Wie hoch sind die rechtlichen Hürden?
Grundsätzlich sind die Anforderungen mit anderen Medizinprodukten vergleichbar. Es darf keine unnötige Gefahr für den Patienten entstehen – zum Beispiel durch Bedienfehler. Wie sich diese bei VR- oder AR-Systemen am besten vermeiden lassen, muss noch genauer untersucht werden. Für solche Fragen hat die FDA zum Bespiel eigens ein Team eingerichtet, das sich ausschließlich mit Medical Extended Reality befasst.
Welche Kombination von VR mit klassischer Medizintechnik wäre interessant?
Da gibt es viele Möglichkeiten. MXR-Systeme werden andere medizinische Geräte vermutlich nur selten ganz ersetzen. Wenn ich Ultraschall für die Bildgebung brauche, komme ich ohne ein Gerät, das diesen erzeugt, nicht aus. Aber die Bilder kann ich mir künftig vielleicht auf einem XR-Display anschauen, das ich mit dem mobilen Ultraschallgerät mitbringe. Ein weiterer Punkt ist: Ich habe noch nie erlebt, dass jemand in der Klinik in einer stressigen Situation eine Bedienungsanleitung gelesen hat. Ein XR-basiertes Assistenzsystem für Medizingeräte, das mir zum richtigen Zeitpunkt eine passgenaue Hilfestellung liefert, halte ich für sinnvoll. Vereinzelt gibt es so etwas sogar schon.
Welche wirtschaftlichen Perspektiven sehen Sie für die MXR-Technologie?
MXR-Systeme besitzen besondere Eigenschaften, die bei der Generierung, Analyse und Visualisierung von mehrdimensionalen Daten hilfreich sind. Spezifische Probleme in der Medizin werden sich damit auf einzigartige Weise lösen lassen. Manche Bereiche wird MXR revolutionieren. Damit einhergehend bestehen prinzipiell auch attraktive wirtschaftliche Perspektiven.
Was könnte den Einsatz von XR in der Medizin beschleunigen?
Wir brauchen zum einen mehr Zusammenarbeit zwischen Akademikern und der Wirtschaft. Zum anderen benötigen wir einen stärkeren interdisziplinären Wissensaustausch. Daher haben wir die Konferenz Shift Medical ins Leben gerufen. XR-Technologien als Randthema bei Medizinkongressen zu diskutieren, hat wenig Sinn, denn dorthin verirren sich nur selten Programmierer. Auch ist unter den Medizinern dort der Anteil derer zu gering, die sich für die Entwicklung solcher Lösungen begeistern können. Mit Shift Medical haben wir es geschafft, die richtigen Leute zusammenzubringen – und ich freue mich auf die dritte Veranstaltung im Herbst in Heidelberg, bei der wir uns nach dem sehr spannenden virtuellen Format endlich auch in der physikalischen Realität austauschen können.
(Bild: Shift Medical)
Über XR und die Konferenz Shift Medical
Von Virtual Reality (VR), also einer rein virtuellen Umgebung, ist schon seit einigen Jahren die Rede. Auch Augmented Reality (AR), für die virtuelle Inhalte quasi über das reale Bild gelegt werden, ist bekannt. Eine noch ganz junge Entwicklung ist, dass der Spieler selbst in die virtuelle Welt eintauchen kann. Diese immersive Technologie wird als Mixed Reality (MR) oder auch hybride Realität bezeichnet.
Welche Anwendungsmöglichkeiten es für diese Technologien in der Medizin gibt, welche Anforderungen das mit sich bringt und was regulatorisch gefordert ist, sind die Themen der Konferenz Shift Medical, die 2020 erstmalig stattgefunden hat. Die Premiere lief pandemiebedingt rein virtuell, mit beweglichen Avataren, die die Teilnehmer repräsentierten.
Die Veranstalter wollen auch künftig mit der Konferenz eine europäische Austauschplattform für Wissenschaft, Medizin, Technik und Institutionen schaffen. Die nächste Konferenz ist vom 22. bis 24. September 2022 in Heidelberg geplant – mit echten Teilnehmern.
twitter.com/shift_medical
Kontakt zum Ansprechpartner:
Dr. Lars Riedemann
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/personen/dr-med-lars-riedemann-337