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Herzstillstand: Ein neues Gerät soll die Behandlung verbessern

Medizingeräteentwicklung im Start-up
Medizintechnik nach Herzstillstand: Gerät mit technischen Finessen hilft

Medizintechnik nach Herzstillstand: Gerät mit technischen Finessen hilft
Prof. Friedhelm Beyersdorf ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Universitäts-Herzzentrum der Universitätsklinik Freiburg (Bild: Universitätsklinikum Freiburg)
Enge Zusammenarbeit von Medizinern und Ingenieuren | Mediziner um Prof. Friedhelm Beyersdorf wollten Erkenntnisse aus der Herzchirurgie in einem Medizingerät bündeln. Es ermöglicht die Behandlung nach einem Herzstillstand sogar im Rettungswagen. Ihr Ziel haben sie erreicht – mit den Freiheiten eines Start-ups und mit Ingenieuren, die sich technischen Herausforderungen gestellt haben.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Professor Beyersdorf, was
passiert nach einem Herzstillstand?

Von den Patienten, die außerhalb der Klinik einen Herzstillstand erleiden, überleben nur etwa acht bis zehn Prozent – viele davon mit neurologischen Problemen. Das liegt daran, dass nicht selten Personen mit schweren Vorerkrankungen oder altersbedingten Gesundheitsproblemen betroffen sind. Bei den Patienten, die nach einem Herzstillstand reanimiert werden können, müssen Organe und Gewebe, die durch den zeitweiligen Sauerstoffmangel geschädigt wurden, so gut wie möglich wieder versorgt werden. Das wollen wir mit dem „Carl“-Therapie-Konzept erreichen.

Wofür steht „Carl“?

Carl steht für Controlled Automated Reperfusion of the Whole Body. Wir wollen damit all das, was wir in der Herzchirurgie über die Versorgung der Organe und Gewebe mit Sauerstoff gelernt haben, für Patienten nach einem Herzstillstand nutzen. Dabei geht es um mehr, als mit Sauerstoff gesättigtes Blut wieder durch die Gefäße strömen zu lassen. Wir müssen vorher dafür sorgen, dass die geschädigten Zellen langsam und Schritt für Schritt wieder ihre Aufgaben übernehmen können.

Welche medizinischen Kernpunkte sind für das Carl-System entscheidend?

Wir leiten das Blut des Patienten um und verändern es, bevor es in den Körper zurückgeführt wird. Die Veränderungen haben komplexe Gründe. Ein Beispiel ist der Kalzium-Gehalt im Blut. Wenn eine Zelle durch den Herzstillstand keinen Sauerstoff mehr erhält, bricht ihr Energiehaushalt ein. In der Folge werden Zellmembranen durchlässig, es kann viel zu viel Kalzium aus dem umgebenden Blut in die Zelle strömen und sie weiter schädigen. Daher senken wir den Kalziumgehalt im Blut, bevor es wieder in den Körper des Patienten gelangt. Solche Anpassungen sind bei insgesamt 14 Parametern erforderlich. Das Blut muss auch mit höherem Druck durch die Gefäße strömen, sonst kommt es in geschwollenen Geweben, zum Beispiel im Gehirn, gar nicht an. Und es hat sich gezeigt, dass Druckschwankungen, also Pulswellen, den Zellen nach einem Herzstillstand viel besser bekommen als ein gleichbleibender Druck. Das Blut wird auch gekühlt, um die Stoffwechselaktivität im Gewebe zu bremsen. Der Sauerstoffgehalt hingegen sollte nicht erhöht werden, um neue Schäden zu vermeiden. Erst ganz langsam können wir das Blut dann in den Zustand bringen, in dem es auch gesundes Gewebe versorgt.

Wie weit ist die Entwicklung des Medizingerätes, des Carl-Controllers, gediehen, in dem all das umgesetzt wird?

Der Carl-Controller trägt seit Januar 2020 das CE-Kennzeichen gemäß Medical Device Directive. Die klinischen Studien, die wir im Anschluss geplant hatten, mussten wir wegen der einsetzenden Pandemie zunächst verschieben.

Mit welchen Medizingeräten ist der Carl-Controller am ehesten vergleichbar?

Es gibt Gemeinsamkeiten mit einer Herz-Lungen-Maschine und Extracorporal-Life-Support-Geräten, so genannten ECLS-Geräten, die die Herzleistung unterstützen. Allen drei gemeinsam ist, dass das Blut des Patienten den Körper verlässt. Aber nur im Carl-Controller wird es vor der Rückkehr so vielfältig und gezielt verändert, was technisch eine große Herausforderung war.

Was war für Sie der Anreiz, die Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen?

Wir waren, bevor wir 2010 das Start-up Resuscitec gegründet haben, mit der Industrie und Investoren in Kontakt. Leider kam aus verschiedenen Gründen keine erfolgreiche Zusammenarbeit zustande. Daher haben wir entschieden, selbst etwas wirklich Neues zu entwickeln. Wir haben heute natürlich Investoren und auch Übernahme-Anfragen. Aber ein Projekt oder eine Idee wirklich anders anzugehen, ist im Start-up deutlich einfacher umzusetzen.

Waren neue Lösungen erforderlich?

Ja, unbedingt. Wir haben unsere komplexen medizinischen Anforderungen formuliert und mit Ingenieuren, deren Arbeit ich wirklich bewundere, schließlich das Gerät entwickelt. Es ist tragbar, der Notarzt kann es also außerhalb der Klinik einsetzen. Um den gewünschten Druck und die Pulsatilität zu erreichen, ist eine einzigartige Doppelpumpensteuerung entstanden. Fünf bis acht Blutparameter werden über eine Online-Messung erfasst – was auch vorher technisch machbar war, aber nicht in einem tragbaren Gerät. Zum System gehört auch ein Cooler, der ausreichend Kapazität hat, um innerhalb von 20 Minuten die Körperkerntemperatur um zwei bis vier Grad zu senken – was man bisher durch externe Kühlung mit Eisbeuteln über Stunden erreicht hat. Für all das haben wir Patente beantragt.

Welche Perspektive sehen Sie im Medizintechnik-Markt für das Carl-System?

Das Carl-System – und der Carl-Controller, der es technisch umsetzt – ergänzen die klassischen Therapiemöglichkeiten und bieten so viele Vorteile, dass ich davon ausgehe, dass sich das Carl-System schnell durchsetzen wird. Es ist nicht nur nach einem Herzstillstand einsetzbar, sondern kann auch die Lungenunterstützung, die Extracorporal Mebrane Oxygenation oder kurz ECMO, übernehmen und anstelle der ECLS-Geräte eingesetzt werden. Durch Sauerstoffmangel geschädigtes Gewebe kann auch im Umfeld von Transplantationen auftreten, was ein weiterer denkbarer Einsatzbereich wäre. Das macht den Carl-Controller für Kliniken sehr interessant.

Lassen sich Ihre Erfahrungen auf andere medizinische Bereiche übertragen?

Was die Zusammenarbeit zwischen Medizinern und Ingenieuren angeht, gewiss. Wir haben uns jeden Tag gesehen und ausgetauscht, was erforderlich ist, weil sich die Ingenieure nicht mit der Medizin und wir uns nicht mit der Technik auskennen. Alle Mitarbeiter im Projekt waren Feuer und Flamme, und wir haben Investoren gefunden. Nur wenn das alles stimmt, kann so eine Entwicklung gelingen.


Weitere Informationen

Am Start-up Resuscitec beteiligt sind drei Fachleute von der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie: Prof. Friedhelm Beyersdorf, Prof. Georg Trummer, der den Bereich Intensivmedizin an der Klinik für Herz-
und Gefäßchirurgie leitet, sowie Prof. Christoph Benk, Bereichsleiter Kardiotechnik.

www.resuscitec.de


Kontakt zu den Medizinern:
Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf
Ärztlicher Direktor
Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie
Universitäts-Herzzentrum Freiburg · Bad Krozingen
Universitätsklinikum Freiburg
E-Mail: friedhelm.beyersdorf@uniklinik-freiburg.de

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