In den 60er- und 70er-Jahren war die Weltraummedizin ein Impulsgeber für Wissen und Technik. Heute verläuft der Wissenstransfer gar nicht selten in der anderen Richtung, berichtet Volker Damann, der die ESA-Astronauten mit seinem Ärzteteam medizinisch betreut.
Herr Damann, was hat Sie an Ihrer Tätigkeit als Crewarzt der europäischen Raumfahrer am meisten fasziniert?
Es ist nicht die normale Medizin, mit der man es zu tun hat. Man arbeitet zumeist mit Gesunden, man muss das gesamte medizinische Spektrum abdecken und hat natürlich sehr viel mit Technik zu tun. Das war für mich als Nuklearmediziner und Radiologe eine besonders spannende Sache – und da sich mit diesem Arbeitsbereich ein Kindheitstraum erfüllte, war es auch für mein Ego etwas ganz Besonderes.
Wie sieht der Alltag eines Mediziners in Ihrer Abteilung aus?
Er weicht sehr vom bekannten Bild ab, denn kein Astronaut kommt ‚in die Praxis‘. Vielmehr geht es bei uns vor allem darum, die gesundheitliche Betreuung zu planen, zu dokumentieren und in gewisser Weise der Advokat der Astronauten zu sein, damit es ihnen gut geht. Und selbst wenn eine Mission nur ein halbes Jahr dauert, betreuen wir die Astronauten schon ein bis eineinhalb Jahre vorher und auch noch ein halbes Jahr im Nachgang.
Der Weltraummedizin haftet der Ruf an, ein wichtiger Impulsgeber für die allgemeine Medizin zu sein. Wie schätzen Sie die Situation heute ein?
Diese Sichtweise hatte früher, in den 60er- und 70er-Jahren, sicher ihre Berechtigung. Damals wusste man generell noch sehr wenig über die Zusammenhänge im menschlichen Körper. Um die Raumfahrt voranzubringen, wurde viel Geld in Forschung und Entwicklung investiert, es entstanden eigens Geräte, die die gestellten Anforderungen erfüllten. Heute hat sich die Lage geändert. Wir gucken viel mehr danach, was es schon gibt und was davon wir nutzen können. Es ist für uns ja viel günstiger, die Technik zu adaptieren, statt sie komplett neu zu entwickeln – das kann die Industrie viel besser. Wir beschreiten in dieser Richtung gerade neue Wege.
Welche Möglichkeiten nutzen Sie?
Wir formulieren unsere Anforderungen und suchen Partner. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist unser Wunsch, arterielle Blutproben für die Diagnose auch in der Raumstation zu bekommen. Dafür brauchen wir eine Technik, die unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit funktioniert, aber auch von Laien genutzt werden kann. Einen Prototypen für ein solches Gerät, das Proben am Ohrläppchen entnimmt, hat eine brasilianische Forschergruppe erarbeitet, und wir suchen nun Partner, die das Gerät weiterentwickeln.
Wie eng sind die Kontakte zur Industrie?
Einer meiner Mitarbeiter hat die Aufgabe, die technischen Entwicklungen in der Wissenschaft und der Industrie zu beobachten, damit wir sehen, welche Neuheiten wir für die medizinische Betreuung gegebenenfalls nutzen können. Für ein Industrieunternehmen ist es in so einem Fall interessant, mit dem Zusatz zu werben, dass das Gerät zum Beispiel auf der ISS eingesetzt wird – auch wenn wir als Behörde gewissen Einschränkungen unterliegen und nie für ein Produkt werben.
Wie gut ist eine Station ausgestattet?
Wir müssen eine medizinische Versorgung trotz extrem limitierter Bedingungen bieten. Jedes Kilo auf einer Raumstation kostet zehntausende von Euro, und Geräte sind rar. Daher brauchen wir Konzepte, die stark von dem abweichen, was auf der Erde in jeder Hausarztpraxis als Standard gilt. Allerdings haben wir es auch etwas einfacher: Jeder Astronaut durchläuft aufwendige medizinische Untersuchungen, und er wie auch seine Familie steht ständig unter ärztlicher und psychologischer Betreuung, um das Risiko einer Erkrankung gering zu halten. Aber auf einen Notfall müssen wir dennoch vorbereitet sein.
Wie sehen Ihre Konzepte für einen solchen Notfall aus?
Es kommt nicht selten vor, dass Geräte, die wir eingeplant haben, bei der Genehmigung einer Mission aus finanziellen Gründen gestrichen werden. Dann müssen wir improvisieren: Als beispielsweise ein Röntgengerät entfiel, haben wir mit Experimenten dazu begonnen, wie wir ein Ultraschallgerät für medizinische Untersuchungen nutzen können. Dieses Gerät war für wissenschaftliche Experimente an Bord vorgesehen. Es gab natürlich zunächst einige Lacher, aber mit veränderten Schallköpfen und einigen anderen Anpassungen ließen sich letzten Endes Erfolge erzielen – auch wenn auf der Erde niemand auf die Idee käme, einen Knochenbruch oder Fremdkörper im Auge mit Hilfe eines Ultraschallgerätes zu untersuchen. Aber es geht.
Sehen Sie Anwendungsgebiete auf der Erde, in denen solche Überlegungen nützlich sein könnten?
Ja, natürlich. Es gibt viele Regionen auf der Welt, in denen die Verfügbarkeit von Geräten und Medikamenten ähnlich begrenzt ist wie in einer Raumstation, seien das Gebiete in Entwicklungsländern, abgelegene Orte oder solche, an denen es eine Naturkatastrophe gegeben hat. Auf die dortige medizinische Versorgung lassen sich unsere Erkenntnisse übertragen. Daher suchen wir beispielsweise auch den Kontakt mit Fachleuten vom THW, die vielleicht gerade in einem Erdbebengebiet ein Lazarett betrieben haben. Durch den Austausch der Erfahrungen lernen wir voneinander.
Welche Geräte hätten Sie gern im All?
Bisher gibt es kaum bildgebende Diagnostik an Bord. Gerade für längere Missionen wäre aber zum Beispiel ein Kernspintomograph wünschenswert. Der müsste allerdings viel weniger Strom verbrauchen als heutige Geräte, viel weniger wiegen, extrem verlässlich arbeiten und auch bedienerfreundlich sein – schließlich sind weder MTA noch Ärzte an Bord. Darüber hinaus wären Fortschritte in der transkutanen Diagnostik für uns interessant, also alles, was ohne Blutprobe zu Ergebnissen führt. Für die Therapie wären besonders lange lagerfähige Medikamente hilfreich, oder auch Infusionslösungen, die man nicht ins Gepäck nehmen muss, sondern nachproduzieren kann.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Die europäische Raumfahrtagentur ESA bietet auf ihrer Internetseite Informationen zur Rolle der Weltraummedizin an. www.esa.int/SPECIALS/Space_for_health/index.html
Herausforderung Marsmission
Bis ein bemannter Flug bis zum Mars startet, können noch Jahre bis Jahrzehnte vergehen. Zu den Vorbereitungen gehört das Mars500Projekt, das zeigen soll, wie sich Menschen verhalten, wenn sie für mehr als 500 Tage auf engstem Raum miteinander auskommen müssen. So lange würden Hin- und Rückreise inklusive eines 30tägigen Forschungsaufenthaltes auf dem roten Planeten dauern. Das Projekt soll die medizinischen und psychologischen Aspekte einer solchen Mission beleuchten.
Das Experiment startet 2009 in einer Container-Anlage an einem Forschungsinstitut nahe Moskau. Auch Wissenschaftler der Uni Mainz beteiligen sich: Sie stellen einen Human Patient Simulator zur Verfügung, der Reaktionen eines Menschen auf medizinische Behandlung nachbildet – zumindest diejenigen, die unter irdischen Bedingungen zu erwarten sind. Entwickelt wurde er für Ärztetrainings. Beim Mars500-Projekt wird die Puppe von einem Testastronauten und medizinischen Laien behandelt, der Erfahrungen sammelt. „Auf lange Sicht wäre es interessant, mit so einer Puppe auch Reaktionen unter Schwerelosigkeit zu simulieren oder individuelle Daten jedes Astronauten zu nutzen“, sagt Volker Damann, denn nur eine individuelle Therapie verspreche den ressourcenschonendsten Erfolg. „Es ist ethisch nicht vertretbar, mit einer Standardbehandlung den Vorrat an Infusionen auf einem Raumschiff aufzubrauchen und damit das Risiko für alle weiteren Erkrankungen zu steigern.“ Für eine individualisierte Therapie seien aber noch viele Forschungsergebnisse erforderlich.
Weitere Informationen: www.imbp.ru/Mars500/Mars500-e.html
Ihr Stichwort
• Weltraummedizin
• Industriepartner gesucht
• Ultraschall statt Röntgen • Sparsame Kernspintomographen • Trockene Diagnostik
Unsere Whitepaper-Empfehlung
Lesen Sie, warum Medizintechnikunternehmen ihre Testprozesse für die Validierung von Software optimieren müssen und wie sie dabei die Erfahrung der Automobilbranche für sich nutzen können.
Teilen: