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„Alltag durch Studien spannender“

Klinische Studien: Kliniken sollten noch besseres Umfeld für medizinische Forschung schaffen
„Alltag durch Studien spannender“

„Alltag durch Studien spannender“
PD Dr. med. Martin W. Bergmann ist seit Mai 2008 leitender Oberarzt der Abteilung Kardiologie der Asklepios-Klinik St. Georg, Hamburg. Zuvor forschte und arbeitete er 10 Jahre an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, wo er ebenfalls an klinischen Studien mit Medizinprodukten beteiligt war
Immer mehr Firmen aus den USA lassen etwa neue Herzklappen in Europa testen. Hier kommen sie mit vernünftigem Aufwand an Daten: Ein großer Vorteil für die Einführung und Entwicklung von Medizinprodukten, findet Dr. Martin W. Bergmann, Kardiologe an der Hamburger Asklepios Klinik St. Georg.

Herr Dr. Bergmann, wie viele klinische Studien an Medizinprodukten finden in der Abteilung Kardiologie der Asklepios Klinik St. Georg derzeit statt?

Derzeit laufen 38 klinische Studien, einige aktiv rekrutierende Studien aber auch solche, bei denen Patienten nur noch nachverfolgt werden müssen. Meist handelt es sich um kleinere Studien mit 20 bis 100 Patienten, in denen häufig neue Kathetersysteme im Bereich der Rhythmusbehandlung getestet werden. Wir nehmen aber auch an großen Multicenterstudien teil, wo es um die Zulassung eine Produktes geht. Diese umfassen in der Kardiologie meist zwischen 100 und 1000 Patienten.
Um welche Art von Produkten handelt es sich dabei meist?
Es gibt drei Bereiche, in denen derzeit sehr viel Entwicklung stattfindet. Das sind einerseits die Medikamente-freisetzenden Stentsysteme, deren zweite oder dritte Generation im Vergleich zur ersten deutliche Vorteile zu zeigen scheinen. Der zweite Bereich ist die Katheter-basierte Behandlung von Herzklappen, die im Moment eine Riesenentwicklung nimmt. Schließlich gibt es in der Behandlung des Vorhofflimmerns aktuell große Fortschritte, die für die Patienten erstmals nahezu eine Heilung bedeuten.
Wer löst die Studien meist aus?
Der Großteil der Studien geht tatsächlich vom Hersteller aus. Bei etwa 10 Prozent der Studien werden wir in das Studiendesign einbezogen. Bei 90 Prozent kommen die Firmen mit schon recht klaren Plänen an. Oft müssen nur noch Details geändert werden oder wir fragen Substudien an. Als Abteilung würden wir uns aber wünschen, häufiger früher einbezogen zu werden. Leider fällt die Entscheidung, wer gefragt wird, nicht immer nach strikt inhaltlichen Aspekten. Manchmal sind die zu untersuchenden Endpunkte eher nach Marketingaspekten definiert.
Was muss geschehen, bevor eine klinische Studie starten kann?
Der größte Aufwand besteht im Einholen der entsprechenden Genehmigungen, etwa der Ethikkommission und des Paul-Ehrlich-Institutes. Außerdem müssen Verträge zwischen den Partnern ausgehandelt werden. Dabei geht es zum Beispiel um die Bezahlung der nötigen Studienärzte und -schwestern, meist Study Nurses genannt. Bei Asklepios gibt es dazu einen ausgelagerten Unternehmensbereich.
Wer entscheidet, ob ein Patient an einer klinischen Studie teilnehmen kann?
Üblicherweise nimmt der behandelnde Arzt bei jedem Patienten, der in die Klinik kommt, ein Studienscreening vor. Er spricht die Patienten auch an, ob sie an einer Studie teilnehmen wollen. Nach der Einführung erfolgt dann die Übergabe an unser klinisches Forschungszentrum und den jeweiligen Studienverantwortlichen.
Bleibt dieser immer der gleiche?
Wir versuchen, für jede Studie einzelne Mitarbeiter zu benennen, die dafür zuständig sind. Unsere Mitarbeiter sind so langfristig dabei, dass sie eine komplette Studie betreuen können. Multicenterstudien rekrutieren ihre Patienten ja meist nur innerhalb von drei Monaten. Bei anderen Studien kann die Rekrutierungsphase bis zu zwei Jahre dauern, plus die Zeit für die Nachverfolgung der Patienten.
Wie oft ist die Rekrutierung ein Problem?
Bei etwa 20 Prozent der Studien. Die vorgeplanten Patientenzahlen weichen je nach vereinbarten Ein- und Ausschlusskriterien oft sehr von den tatsächlich erreichbaren Zahlen ab. Je genauer die Kriterien der Studie festgelegt sind, um eine klare Endaussage zu bekommen, um so mehr Patienten müssen ausgeschlossen werden. Dann macht die Rekrutierung Probleme. Es ist aber auch keine Lösung, die Ein- und Ausschlusskriterien weiter zu fassen, weil man dann Patienten mit so unterschiedlichen Krankheitsbildern erfasst, dass die Gesamtaussage der Studie vielleicht sogar negativ ist. Hilft das Produkt zum Beispiel nur einer Untergruppe, wird dann eine Folgestudie nötig.
Lassen sich Patienten leicht überzeugen, an einer Studie teilzunehmen?
Generell ist in Deutschland die Bereitschaft der Patienten, an Studien teilzunehmen, sehr unterschiedlich. Es geht schließlich darum, den Vorteil neuer Entwicklungen gegen deren Risiko abzuwägen. Europaweit liegen die Rekrutierungszahlen in Ländern mit Gesundheitssystemen, die den Zugang zu modernen Behandlungsmethoden erschweren, deutlich höher.
Wer dokumentiert die Daten für die Studien?
Die Dokumentation erfolgt meist durch die verantwortliche Studienschwester, die Auswertung durch die vom Hersteller beauftragte Statistikfirma. Viele Studien nutzen bereits eCRF-Systeme, also elektronische Case Report Forms. Mit diesen Web-basierten Systemen, für die man spezielle Zugangscodes benötigt, lässt sich recht zügig der Report erstellen. Firmenseitig muss allerdings noch das Monitoring erfolgen, das heißt die Kontrolle, ob die Daten vollständig erfasst wurden, was sehr oft nicht der Fall ist. Dann muss nach fehlenden Daten nachgeforscht werden.
Ist Bias, also die verzerrte Interpretation der Ergebnisse aufgrund der vorherigen Erwartung, ein Problem?
Das System ist in Deutschland so stark vorgegeben und der primäre Endpunkt so klar definiert, dass der Interpretationsspielraum sehr gering ist. Bias ergibt sich eher über die Veröffentlichungen. Zum Beispiel werden positive Ergebnisse hoch aufgehängt publiziert, dagegen negative oder mit Fragezeichen versehene Ergebnisse möglicherweise gar nicht.
Wie hoch schätzen Sie Ihren täglichen Zeitaufwand für diese Studien?
Die durchschnittliche Arbeitszeit eines Arztes liegt so bei 10 Stunden, davon dürfte eine halbe bis eine Stunde auf die Durchführung von Studien und Forschung entfallen. Wir haben ein Rotationssystem eingeführt, bei dem die Mitarbeiter für eine begrenzte Zeit über die Studien finanziert werden und dann komplett von der Routineversorgung freigestellt sind.
Gibt es Möglichkeiten, wie Hersteller Sie oder die Klinik bei der Durchführung von Studien unterstützen können?
Ich sehe den Handlungsbedarf weniger auf Seiten der Firmen, denn viele Hersteller medizintechnischer Produkte verfügen oft nicht über ein vergleichbar großes Budget wie Medikamentenhersteller. Es muss also ein Kompromiss gefunden werden. Was es zu regeln gilt, ist eher Krankenhaus-seitig. Hier sollte es sowohl personell als auch räumlich für die Betreuung der Studien eine strikte Trennung vom Klinikalltag geben, zum Beispiel über Study Nurses. Bei Asklepios gibt es beispielsweise getrennte Clinical Research Units, die über bereits laufende Studien finanziert werden, denn pro Patient gibt es ja einen Aufwandsentschädigung.
Welche Motivation hat ein Arzt, an einer Studie mitzuarbeiten?
Getrieben wird die Beteiligung an klinischen Studien durch das Engagement der Mediziner, deren Alltag dadurch spannender wird und die ihren Patienten neue Behandlungsmethoden anbieten wollen.
Ist dazu eine Zusatzausbildung nötig?
Der Arzt muss an einer Schulung teilnehmen, bei der es insbesondere um die Dokumentation von Studien geht, etwa wie schwerwiegende unerwünschte Ereignisse, sogenannte SAE, gemeldet werden müssen. Vermutet der zuständige Arzt das Studienobjekt als Auslöser, muss er das in Deutschland innerhalb von 48 Stunden an die Ethikkommission melden. Diese Frist einzuhalten, macht im Klinikalltag oft Probleme.
Monika Corban Freie Journalistin in Liestal/Schweiz

IT-Infrastruktur für Ärzte

Die 33 Mitarbeiter der Abteilung Kardiologie der Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg, behandeln pro Jahr 4300 stationäre Patienten. Daraus ergibt sich eine Datenflut, die ohne IT-Unterstützung nicht mehr zu bewältigen ist, sagt Oberarzt Dr. Bergmann. Er wünscht sich eine Patientendokumentation, die die Arbeit der Ärzte erleichtert. Bisherige Systeme seien eher auf die Dokumentation und Abrechnung erbrachter Leistungen optimiert. Ein solches System hätte auch Vorteile für klinische Studien, meint er, wie etwa die Vermeidung von Doppelangaben. Es ließe sich zudem für die automatische Identifikation geeigneter Patienten nutzten. Sobald bestimmte Daten eingegeben werden, könnte das System eine Meldung herausgeben, dass derzeit eine passende Studie läuft

Ihr Stichwort
  • Rekrutierung
  • Studiendesign
  • eCRF
  • Dokumentation
  • Meldung von SAE
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