Herr Dr. Portheine, Sie haben auf der DMEA den neuen Standard Service-oriented Device Connectivity – kurz SDC – für Medizinprodukte gelauncht. Welche Reaktionen gab es auf der Messe?
Die Resonanz war sehr gut. Das hatten wir auch so erwartet. Wir haben schon im Vorfeld der Messe viele Anfragen aus der Industrie bekommen. Zur DMEA haben wir an unserem Stand mit einigen Herstellern von Medizinprodukten gesprochen, bei denen im Hintergrund schon an der Integra‧tion von SDC in die Geräte gearbeitet wird.
Was genau leistet der neue Standard?
Der offene Standard SDC bietet, was auch ein geschlossenes System wie OR1 leistet. Mit SDC lassen sich Daten zwischen Geräten im OP austauschen, ich kann Daten des einen Gerätes auf dem Bildschirm eines anderen anzeigen lassen – also beispielsweise Puls und Blutdruck zusammen mit dem Bild des Operationsmikroskops. Und ich kann ein Gerät als Eingabegerät für ein anderes benutzen. Aber anders als bei bisherigen Lösungen funktioniert das eben herstellerüber‧greifend. Gedacht ist das alles als Plug&Play-Lösung: Das angeschlossene Gerät liefert Informationen zu seinem Gerätetyp, das System erkennt das Gerät und hat Daten hinterlegt, was diese Art von Gerät für Funktionen bietet. Und ‧weil ein Ziel von OR.Net war, den Kabelwust im OP-Bereich zu reduzieren, läuft das Ganze auch über drahtlose Ver‧bindungen.
Was würde sich im Krankenhaus ‧ändern, wenn sich SDC etabliert hat?
Veränderungen würden sich vor allem im OP ergeben. Dort ist die Dichte an Medizingeräten und der Bedarf an verfügbaren Daten besonders groß. Bisher gibt es nur geschlossene Systeme einzelner Hersteller, in denen nur deren Geräte sowie die von ausgewählten Partnern kommunizieren können. Das bedeutet für ein Krankenhaus eine große Einschränkung: Denn ein neu eingerichteter Operationssaal ist auf eine Nutzungsdauer von 25 bis 30 Jahren angelegt. Wer sich für ein geschlossenes System entscheidet, legt sich also für diese lange Zeit darauf fest, dass er nur eine geringe Anzahl von Ge‧räten bestimmter Hersteller vernetzen kann. Hier setzt der offene Standard SDC an: Wenn er sich etabliert, entscheidet der Betreiber im Krankenhaus frei, welche Geräte von welchem Hersteller er für die Ersteinrichtung nutzt und vernetzt und welche er im Laufe der Zeit austauscht und ergänzt.
Welche Besonderheiten haben Sie beim Definieren des Standards für den Gesundheitsbereich berücksichtigt?
Als Basis haben wir weit verbreitete Lösungen verwendet, wie TCP/IP oder auch den Microsoft-Standard DPWS für die ‧Anbindung von Peripheriegeräten wie Drucker. Für den Einsatz im Gesundheitsbereich ist aber ein verbessertes Sicherheitskonzept hinterlegt, um sicherzu‧stellen, dass niemand von außen die ‧Geräte in einem OP unter seine Kontrolle bringen kann. Darüber hinaus ist die Ausfallsicherheit ein wichtiger Aspekt. Bei ‧sicherheitskritischen Geräten sieht der Standard eine zweite Verbindung vor, damit diese im Netzwerk auf jeden Fall angesprochen werden können, selbst wenn eine Verbindung ausfiele.
Für welche Geräte ist SDC gedacht?
Alle Vorarbeiten waren auf den Einsatz‧ –im OP ausgerichtet, und das ist auch die heutige Zielrichtung. Geschickt wäre es aber, die Vernetzung bis in den Rettungsbereich auszudehnen. Auch im ‧Rettungswagen oder -hubschrauber ‧sind viele Geräte im Einsatz, die Daten ‧liefern. Diese Daten schon zur Verfügung zu haben, wenn der Patient in die Not‧aufnahme kommt, wäre ein großer Vorteil.
Könnte man ein System wir OR1 über SDC mit anderen Geräten vernetzen?
Technisch wäre das problemlos möglich. Ob das umgesetzt wird, hängt allerdings davon ab, ob die Anbieter solcher Systeme das auch wünschen.
Wie können Hersteller ihre noch zu entwickelnden Geräte für die Vernetzung nach dem SDC-Standard fit machen?
SDC lässt sich zum Beispiel auf einem zusätzlichen Chip relativ einfach integrieren. Fast jedes Medizingerät hat darüber hinaus eine Schnittstelle nach außen, an der man Daten des Gerätes nach SDC übersetzen könnte. Hersteller, die sich für Details interessieren oder die einen Entwicklungsdienstleister für die Integration suchen, können sich an den Verein OR.Net wenden. Wir vermitteln gern die entsprechenden Kontakte.
Welche Besonderheiten sind bei der Zulassung der Geräte zu beachten?
Das war von Anfang an eine wichtige Frage. Heute wissen wir: Eine Zulassung mit SDC ist möglich, es müssen allerdings einige Aspekte beachtet werden. Einer ist, dass der Hersteller die Vernetzung in der Risikoanalyse berücksichtigen muss. Dräger hat das getan, das erste Gerät ist auf dem Markt. Bei der Anwendung eines Fußschalters, der vernetzte Geräte steuern kann, muss man zum Beispiel berücksichtigen, dass er der höchsten Geräteklasse genügen muss, die damit theoretisch im OP angesteuert werden kann.
Welche Anregungen hat der Betrieb der Teildemonstratoren gebracht, die nach Ende des Forschungsprojektes OR.Net installiert wurden?
Die Erfahrungen mit den Demonstratoren, die es auch weiterhin gibt, sind in SDC eingeflossen. Interessant war, dass sich zunächst vor allem Betreiber eingefunden haben. Inzwischen wächst das Interesse der Hersteller: Denn sobald bei Ausschreibungen offene Standards für die Vernetzung gefordert werden, sind nur noch Geräte im Rennen, die diese Möglichkeit bieten.
Sind mit SDC alle Ziele erreicht oder arbeiten Sie noch an Erweiterungen?
Technisch ist SDC als Standard fertig. Aktuell laufen Forschungsprojekte zu Design Guidelines für die einheitliche Modellierung von gleichen Gerätetypen, zu neuen Zulassungstrategien und den Möglichkeiten, offen vernetzte Systeme zu testen. Diese Forschungsprojekte sollen einerseits offene wissenschaftliche Fragestellungen beantworten, andererseits aber auch den Herstellern die Integration erleichtern.
Wie sieht es mit internationaler Kompatibilität aus, gibt es dazu Initiativen?
Es gibt Initiativen in Amerika und Japan. Der japanische Ansatz ist besonders interessant, und es gibt bereits Überlegungen dazu, wie ein Brückenschlag zwischen SDC und der japanischen Lösung aussehen könnte.
Wie geht es mit der Einführung des Standards weiter?
Der Standard wird dann wirklich relevant, wenn er in den Ausschreibungen der Krankenhäuser auftaucht. Das ist das Signal, dass solche Funktionen gefragt sind. Andererseits ergeben Ausschreibungen dieser Art erst Sinn, wenn es auf dem Markt eine gewisse Anzahl von Geräten gibt, die die Anforderungen erfüllen. Wir stehen da also vor einem Henne-Ei-Problem. Dass die Anwender mehr Freiheiten bei der Vernetzung ihrer Geräte wünschen, ist inzwischen klar und spiegelt sich auch darin wider, dass die Hersteller – mehr oder weniger offen – an der Integration von SDC in ihre Geräte arbeiten. Bis sich ein Standard etabliert, muss man aber in größeren Zeiträumen denken. Heute sind wir in der Einführungsphase, in fünf Jahren werden wir SDC vielleicht häufiger als Teil der Ausschreibungen sehen, und in zehn Jahren möglicherweise über die nächste größere Erweiterung reden.
Was empfehlen Sie den Herstellern?
Um die Ausschreibungen, in denen in ‧ einigen Jahren SDC gefordert wird, bedienen zu können, sollte man sich jetzt um die offene Vernetzung kümmern. Manche Hersteller sind schon relativ weit damit. Noch ist es für Neueinsteiger nicht zu spät, aber ein baldiger Beginn wäre sicher sinnvoll.
Über OR.Net
Die ersten Überlegungen dazu, wie sich Medizingeräte herstellerübergreifend vernetzen lassen könnten, gehen bis in das Jahr 2005 zurück. Konkrete Forschungsarbeiten begannen in den Jahren 2009/2010. Im Jahr 2012 startete das Forschungsprojekt OR.Net, in dem die Vernetzung von Medizingeräten im OP intensiv bearbeitet wurde. Die Ergebnisse, die hier erzielt wurden, waren die Ba-
sis für den jüngst gelaunchten Standard SDC.
Nach Ende der Laufzeit des Forschungsprojektes OR.Net wurde im Jahr 2016 der gleichnamige Verein gegründet, der die Arbeiten weiterführte.
Mit der Zulassung des letzten Teilstandards (IEEE 11073-20701) ist die SDC-Standardfamilie heute vollständig vom IEEE Standards Board abgenommen und kann von Geräte- und Software-Anbietern implementiert werden. SDC befindet sich im Fast-Track-Verfahren für die Übernahme als ISO-Standard. Laufende Forschungsprojekte sollen die Umsetzung des neuen Standards in Medizinprodukten erleichtern.
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