Frau Hoyer, Herr Reischle, welche Erfahrungen haben Benannte Stellen heute schon mit Medizinprodukten, die additiv gefertigt werden?
Reischle: In bestimmten Segmenten der Medizintechnik ist der 3D-Druck heute schon sehr weit verbreitet. Das gilt zum Beispiel für den Dental-Bereich und ebenso für die Prothetik, in denen diese Art der Fertigung seit etwa zehn Jahren eine wachsende Rolle spielt. Hier ist das Hauptargument für die additive Fertigung, dass man mit individuell angepassten Produkten eine bessere Versorgung erzielt. Technologisch funktioniert das sehr gut. Benannte Stellen hatten mit den patientenindividuellen Implantaten bisher allerdings relativ wenig zu tun, denn unter den Regeln der Medical Device Directive, der MDD, sind diese so genannte Custom Made Products, die ohne CE-Kennzeichen eingesetzt werden dürfen.
Hoyer: Die Regelung für Custom Made Products gibt es auch weiterhin unter der Medical Device Regulation, der MDR. Allerdings müssen Hersteller von implantierbaren Sonderanfertigungen der Klasse III nun eine Benannte Stelle zur Konformitätsbewertung ihres Qualitätsmanagementsystems hinzuziehen. Auch wird die Definition zu Custom Made etwas deutlicher abgegrenzt. Wichtig ist zu wissen, dass die Benannte Stelle nicht das Produkt selbst prüft, sondern die Aufgabe der Prüfung des QMS des Herstellers übernimmt. In der Breite ist diese Konstellation dann für alle Beteiligten mehr oder weniger Neuland.
Welche Produkte gehören künftig noch zu den Custom Made-Products?
Hoyer: Mit der MDR ändern sich im Wesentlichen zwei Dinge. Zum einen werden manche Produkte höher klassifiziert und erfordern dann gemäß ihrer Risikoklasse auch die Mitwirkung einer Benannten Stelle. Zum anderen wird nicht mehr nur zwischen Standardprodukten und Custom Made Products unterschieden, sondern es gibt dazwischen noch die Adjustable Products. Diesen liegt eine gemeinsame Basisvariante eines Produktes zu Grunde, die nur in Details patientenspezifisch angepasst wird. Hier ist die Vorgabe, dass die Basisvariante wie jedes andere Medizinprodukt unter Mitwirkung einer Benannten Stelle eine Konformitätsbewertung braucht. Praktisch haben wir dazu aber noch keine Erfahrungen. Bei den 13 bisher bei uns gemäß MDR ausgestellten Bescheinigungen handelte es sich nicht Produkte, in denen additiv gefertigte Teile eine Rolle spielten.
Wie verbreitet sind heute 3D-gedruckte Medizinprodukte?
Reischle: Selbst unter der MDD sind die konventionell gefertigten Produkte klar in der Überzahl. Wer heute schon den 3D-Druck nutzt, tut das aus strategischen Erwägungen heraus und ist bereit, viel Zeit in so ein Produkt zu investieren. Als Ausnahme wäre nur der Dental-Bereich zu nennen, in dem wohl alle großen Hersteller einen 3D-Drucker im Programm haben, der sogar teilweise in der Arztpraxis eingesetzt werden kann.
Hoyer: Die Unternehmen gehen meist nach einem Stufenplan vor. Die nächstliegende Aufgabe ist es, die etablierten Produkte gemäß MDR zu zertifizieren. Wenn das erledigt ist, gibt es wieder Kapazitäten für Projekte mit ganz neuen Technologien und neuen Herausforderungen bei der Zertifizierung. Erste Anträge aus dem Dental-Bereich und der Orthopädie sind aber schon eingegangen.
Welches sind aus Sicht der Benannten Stelle die Herausforderungen beim 3D-Druck?
Reischle: Verfahren wie der Guss, das Drehen, Fräsen, Biegen und so weiter sind Standard und gehören zu jedem Ingenieurstudium. Für den 3D-Druck gibt es nichts Vergleichbares. Und auch im Produktionskontext blicken wir erst auf zehn bis 15 Jahre Erfahrung zurück. Das bedeutet, dass es auch für die Begutachtung wenig gesichertes Wissen zum Beispiel zu den Möglichkeiten eines Qualitätsmanagements gibt. Daher haben wir bei TÜV Süd unser Team aufgestockt und 20 neue Kollegen ins Haus geholt, die in der Industrie schon mit Additive Manufacturing gearbeitet haben. So wollen wir die künftigen Prüfstandards mit gestalten, um dann auch kritische Bereiche wie das Materialhandling, das Betreiben des Druckers oder das Validieren des Workflows auditieren zu können.
Hoyer: Wenn wir die Technische Dokumentation prüfen, kommen wir beim Teil zur Risikoanalyse auf viele neue Details. Wie wird gefertigt, ist Pulver im Spiel? Wird das Material recycelt, verändert sich dadurch die Biokompatibilität? Muss ein Teil gereinigt werden und sind alle Bereiche für eine Reinigung zugänglich? Wie lassen sich Stützkonstruktionen rückstandlos entfernen? Um so etwas nachzuweisen, bedarf es genauer Analyse der eingesetzten Methoden, der Materialien und der Abfolge der Fertigungsschritte bis zum Endprodukt. Dies bedingt dann auch die Wahl der Prüfverfahren, die sich von den konventionellen Prozessen unterscheiden können. Daher müssen wir genau hinschauen, bevor wir etwas bewerten.
Welche Standards gibt es schon, die sich für die Konformitätsbewertung eignen?
Reischle: Das ISO TC 261 beschäftigt sich mit der Standardisierung der Additiven Fertigung. Zusätzlich haben wir die ersten normativen Dokumente in Deutschland. Ein Beispiel ist die DIN SPEC 17071 – der Leitfaden für die Anforderungen an qualitätsgesicherte Prozesse für additive Fertigungsstätten, der im November 2019 veröffentlicht wurde. Darin geht es darum, erst einmal unabhängig von der Branche Risiken bei additiv gefertigten Teilen zu minimieren. Ein Transferprojekt, in dem diese Erkenntnisse auf die Medizintechnik übertragen werden sollen, ist bereits angelaufen. Ein Whitepaper dazu ist in Arbeit – ich denke, dass es im Frühsommer veröffentlicht werden wird. Und auch die DIN SPEC 17071 wird auf das internationale ISO/ASTM-Niveau gehoben. Das passiert in dem Internationalen Committee ISO TC 261 in der Arbeitsgruppe JG75.
Hoyer: Sobald solche Standards verfügbar sind, wird die Bewertung einfacher. Wo es bisher – wie in der Medizintechnik – keine harmonisierten Prüfvorgaben gibt, ist der Aufwand individuell entsprechend höher.
Was empfehlen Sie Medizintechnik-Unternehmen, die in den 3D-Druck einsteigen wollen?
Reischle: Es gibt eine Reihe von Aspekten, die im Vorfeld, aber auch in der Umsetzung eines Projekts zu bedenken sind. Auf der Entscheider-Ebene geht es um die Frage, für welche Bauteile oder Produkte die additive Fertigung interessant sein könnte – sei es wegen neuer Eigenschaften der Produkte oder wegen der Kosten. Qualitätsexperten müssen sich informieren, wie man das Risiko einschätzen kann. Es kann auch erforderlich sein, für das für Additive Manufacturing neue Workflows beim Qualitätsmanagement zu definieren. Zu diesen und weiteren Punkten bieten wir in der TÜV Süd Akademie Trainingsprogramme an. Darüber hinaus sollten über den ganzen Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Beginn an die Abteilung Regulatory Affairs beteiligt sein.
Wie gestaltet sich die Arbeit einer Benannten Stelle auf einem Gebiet mit so vielen Unsicherheiten und offenen Fragen?
Reischle: Das ist eine Lebensaufgabe – im positivsten Sinn. Alle im Team sind mit Herz und Seele dabei und wollen Standards mit gestalten, die Produkte für Menschen sicherer machen.
Hoyer: Wer sich für die Arbeit als Ingenieur entscheidet, hat ein Faible für alles, was mit dem Tüfteln zu tun hat. Es ist zwar eine Herausforderung. Aber die Anfänge des 3D-Drucks aus regulatorischer Sicht zu begleiten, ist eine unglaublich spannende Aufgabe.
Weitere Informationen
In seiner Akademie bietet TÜV Süd eine ganze Reihe von Veranstaltungen zum Thema Additive Fertigung.
Über die Aktivitäten von TÜV Süd im Bereich Medizintechnik.
Kontakt TÜV Süd:
TÜV Süd AG
Westendstraße 199
D-80686 München
Tel. +49(0)89/5791–0
E-Mail: info@tuev-sued.de