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Mehr Tele geht nicht

Medizinische Überwachung
Mehr Tele geht nicht

Wenn der Patient richtig weit weg ist, werden an die medizinische Überwachung besondere Anforderungen gestellt. Wie sich sogar eine Marsmission telemedizinisch begleiten ließe, zeigen Ingenieure aus Schweinfurt. Auf der Compamed erläutern sie ihren Ansatz am Stand von medizin&technik.
Es ist wirklich eine verdammt unwirtliche Gegend. Steine und Staub, soweit das Auge reicht. So stellt man sich den Ausblick vor, den Astronauten aus der Raumsonde haben, wenn diese auf den Mars gelandet ist. Und weil es im Gebiet um Rio Tinto in Andalusien genauso aussieht, ist die Region attraktiv für Wissenschaftler, die sich im EU-Projekt Moonwalk mit verschiedensten Aspekten künftiger Mars-Missionen befassen.
Dazu gehört auch die medizinische Betreuung von Astronauten bei solchen extrem lang andauernden Missionen. Wenn sie 200 Tage für die Hinreise und nochmal so lange für die Rückreise brauchen und am Zielort eine Weile ihre Arbeit erledigen wollen, kann in dieser Zeit eine Menge passieren, und der Arzt ist mehr als weit entfernt. Rund 44 min könnte es dauern, bis die Antwort eines Mediziners den Patienten erreicht. Der Begriff „Tele“monitoring klingt da schon fast untertrieben.
Wie aber könnte eine Untersuchung unter solchen Bedingungen ablaufen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Ingenieure am Institut für Medizintechnik Schweinfurt (IMES) der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. „Wir haben den Prototypen eines nicht-invasiven, optischen Messgerätes vorliegen, mit dem wir eine Reihe von Informationen über den Gesundheitszustand eines Astronauten erfassen können“, berichtet Prof. Walter Kullmann, der die Arbeiten am IMES leitet. Er und seine Mitarbeiter entwickeln Prototypen für medizinische Anwendungen und sind seit etwa einem Jahr als Gastwissenschaftler beim Moonwalk-Projekt beteiligt. Für die Anforderungen in diesem Umfeld haben sie ein Monitoringgerät weiterentwickelt, für das die Basisarbeit schon vor über fünf Jahren erledigt wurde.
„Wir hatten damals die Idee, mehr als eine Messung mit einem Gerät durchzuführen“, erläutert Kullmann. Es sollte nicht größer sein als ein Kartenspiel, wenig Messaufwand verursachen, so dass auch Untersuchungen zu Hause möglich sind, und mehr diagnostische Informationen liefern, als man das von bisherigen Geräten kannte. Dafür haben die Schweinfurter nicht nur eigens Elektronik entwickelt, sondern auch Software programmiert – basierend auf dem physiologischen Wissen, das man für so eine Auswertung braucht.
Das Ergebnis war ein Prototyp, der den Ärzten, die ihn zu sehen bekamen, in gewisser Weise nicht geheuer war. Abgesehen von der Unsicherheit, wie man solche Dienstleistungen im deutschen Gesundheitssystem abzurechnen hätte, schien das Gerät fast zu viel zu können. Denn der Prototyp, Cav-Explorer 2.0 genannt, misst ein 4- oder 12-Kanal-EKG und erfasst die Pulswelle über einen Clip am Ohr oder am Finger. Die Messtechnik dafür ist laut Kullmann nicht neu. „Aber die Elektronik, die beide Techniken zu einem Gerät verschmelzen lässt, ist ein Alleinstellungsmerkmal.“ Sie ermöglicht eine zeitliche Auswertung der erfassten Daten und eine Frequenzauswertung, die zum Beispiel eine Herzratenanalyse zulässt und damit laut Kullmann auch Einblicke in das vegetative Nervensystem bietet. „Anhand von Datensätzen aus dem Internet haben wir gezeigt, dass sich so auch ein Herzinfarkt erkennen lässt“, sagt der Wissenschaftler.
Die gemeinsame Auswertung von EKG und Pulswelle führt aber noch weiter: Mit den gemessenen Daten lassen sich kontinuierlich die Schwankungen im Blutdruck darstellen und überwachen. Und die arterielle Pulswellenlaufzeit – wie schnell also eine Pulswelle vom Herzen bis zum Clip an Ohr oder Finger gelaufen ist – liefert ein Maß für die Gefäßsteifigkeit der untersuchten Person. „Das ist für die Raumfahrt interessant, denn bei Langzeitastronauten, die sich auf der ISS aufhielten, gab es Hinweise darauf, dass deren Blutgefäße schneller alterten als bei einem Aufenthalt auf der Erde.“
Was das Gerät kann und was nicht
Alles kann so ein Gerät dennoch nicht. „Wir erfassen die Blutdruckänderungen, aber eben nicht den absoluten Blutdruckwert – dafür ist immer noch eine konventionelle Messung mit aufgepumpter Manschette erforderlich, wie wir es vom Besuch beim Hausarzt kennen“, sagt Kullmann. Dennoch bietet der Prototyp des Monitoring-Gerätes nach Einschätzung des Schweinfurters interessante Ansatzpunkte für die Entwicklung von Medizinprodukten.
Telemedizin ist seiner Einschätzung nach in Deutschland allerdings noch ein schwieriges Thema. „Die Radiologen haben die Vorteile für sich erkannt und nutzen die Vernetzung schon intensiv für ihre Zwecke – aber viele Hausärzte stehen der Sache mehr als skeptisch gegenüber.“ Da er davon ausgeht, dass die Zeit für die Telemedizin auch für andere Bereiche kommen wird, entwickeln er und seine Mitarbeiter die Technik weiter. Das, was sie mit dem Prototypen erreichen können, ließe sich auch für andere Geräte nutzen, sagt er, einzeln oder in Kombination. „Wir haben alle Elemente entwickelt und können diese gemäß neuer Anforderungen anpassen“, sagt Kullmann.
Derzeit gibt es Überlegungen, die Technik zum Überwachen von Patienten mit vaskulärer Demenz zu nutzen. „Das ist eine häufige Erkrankung, die sich in vielen Details von der Alzheimer-Demenz unterscheidet.“ Entsprechende Voruntersuchungen mit Neurologen und Physiologen seien bereits angedacht. Auch Einsätze bei Forschungsteams in Arktis und Antarktis seien spannend.
Wenn Telemedizin auch unter alltäglicheren Bedingungen auf breitere Akzeptanz stößt, würde eine Produkteinführung des Systems – egal für welche Anwendung – nach Kullmanns Einschätzung sicher nicht an der Kostenfrage scheitern: „Wir haben bei den ersten Entwicklungsschritten mit einem Start-up-Unternehmen zusammengearbeitet – da war von Anfang an klar, dass wir unsere Lösung mit bezahlbaren Teilen aufbauen mussten.“ Aber zunächst soll der Prototyp beweisen, was er zur medizinischen Begleitung einer Marsmission beitragen kann – auch wenn diese derzeit in Rio Tinto nur simuliert wird. ■
Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de
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