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Auslaufende Patente geben Impuls

Additive Fertigung: Nicht von der Technik verführen lassen, sondern die richtigen Ansätze wählen
Auslaufende Patente geben Impuls

Auslaufende Patente geben Impuls
Frédéric Thiesse ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Systementwicklung an der Universität Würzburg und befasst sich seit zehn Jahren mit dem Thema 3D-Druck Bild: privat
Wo Entwickler flexibel sein und hohe Variantenvielfalt oder gar Individualisierung berücksichtigen müssen, kann 3D-Druck herkömmliche Fertigungsverfahren ergänzen. Was möglich ist, erläutert Wirtschaftsinformatiker Prof. Frédéric Thiesse – der interessierte Unternehmen auch berät.

Herr Professor Thiesse, Sie forschen seit langem zur additiven Fertigung. Was fasziniert Sie daran?

Wenn ein physisches Objekt in einem einzigen Arbeitsgang ‚einfach so‘ entsteht, ist das für jeden faszinierend. Als Wirtschaftsinformatiker ist der 3D-Druck für mich aber aus einem weiteren Grund sehr interessant: Er gehört zu den Technologien, die die gewohnten ökonomischen Spielregeln zwar nicht völlig außer Kraft setzen, aber stark verändern. Wie man ohne Fabrik fertigen kann und vielleicht sogar ohne Logistik auskommt, weil das Produkt nahe beim Kunden entsteht, ist ein aufregendes Forschungsgebiet.
3D-Druck wurde in den 80er-Jahren entwickelt und ist in der Fertigung von Prototypen etabliert. Warum ist gerade jetzt das Interesse der Industrie so groß?
Mehrere Schlüsselpatente für den 3D-Druck laufen derzeit aus, und das ermöglicht Startups den Markteintritt mit viel günstigeren Geräten. Damit bieten sich Möglichkeiten auch für Consumer-Anwendungen, und dieses gesellschaftliche Interesse schwappt in die Industrie zurück. Wir beobachten also einen neuen Hype, ohne dass es eine technische Innovation gegeben hätte.
Sind denn die günstigeren Geräte auch für industrielle Anwendungen geeignet?
Das kann man nicht pauschal beantworten, da unter 3D-Druck verschiedene Technologien zusammengefasst werden. Aber auch bei den Profigeräten ist die neue Wettbewerbssituation preislich spürbar. Große Anbieter wie Stratasys und 3D Systems versuchen, hier gegenzusteuern, indem sie Startups aufkaufen und so Preisniveau und Branchenstruktur aufrechterhalten.
Für welche Unternehmen ist der Einsatz der Technik – über das Prototyping hinaus – eventuell sinnvoll?
Alle Unternehmen, deren Kunden Wert auf große Variantenvielfalt oder sogar eine Individualisierung der Produkte legen, könnten vom 3D-Druck profitieren. Ob man den Kunden bei der Gestaltung der Produkte mitwirken lassen möchte und kann, ist letztlich eine strategische Entscheidung. Wenn damit Wettbewerbsvorteile möglich werden, sollte man diesen Schritt auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Und natürlich bietet der 3D-Druck eine Flexibilität, wie wir sie bisher nicht gekannt haben.
Könnte der 3D-Druck herkömmliche Fertigungsverfahren wirtschaftlich sinnvoll ersetzen?
Es geht meines Erachtens nicht darum, Verfahren zu ersetzen, sondern darum, sie zu ergänzen. Selbst wenn große Stückzahlen gleicher Produkte geplant sind und der 3D-Druck hier kein wettbewerbsfähiges Verfahren ist, kann die additive Technik nützlich sein. Betrachten wir das Beispiel eines Automobilherstellers, der kurz vor Produktionsstart noch Details am Fahrzeug ändern möchte. Er muss mit dem Start nicht wie bisher auf ein neues Werkzeug, wie zum Beispiel eine Gussform, warten, sondern kann die erste Zeit mit additiv gefertigten Teilen überbrücken.
Welche Geschäftsmodelle bietet der 3D-Druck, die sich mit konventionellen Verfahren nicht umsetzen lassen würden?
Denken wir an den Servicebereich. Ein Techniker, der im Markt auf Geräte trifft, die aus Produktgenerationen der vergangenen Jahrzehnte stammen, kann nie alle eventuell erforderlichen Ersatzteile dabeihaben. Aber er könnte die digitalen Daten und einen 3D-Drucker mit sich führen und das erforderliche Teil drucken. Und wenn zur Kernkompetenz eines Unternehmens nicht mehr zwingend das Beherrschen komplexer Fertigungsabläufe gehört, könnte es sich auch auf die Entwicklung von Produkten spezialisieren und die Fertigung komplett aus der Hand geben.
Ist denn der 3D-Druck ein Feld für Dienstleister?
Durchaus. Im Consumer-Bereich gibt es bereits Internet-Plattformen, die Fertigungs-Knowhow und Kapazitäten im 3D-Druck vermitteln – auch und gerade für Privatpersonen, die eine Idee umsetzen wollen. Individueller Schmuck zum Beispiel boomt hier gerade. Für den im engeren Sinne industriellen Bereich stecken solche Plattformen konzeptionell und technisch noch in den Kinderschuhen. Aber es gibt natürlich Besonderheiten, die das erklären. Einerseits wollen die Spezialisten im 3D-Druck weder ihre Preise noch die freien Kapazitäten in einer solchen Plattform offenlegen. Andererseits fürchten die Auftraggeber um ihr geistiges Eigentum, das sie ja mit den Konstruktionsdaten offenlegen müssten, um überhaupt ein Angebot für den 3D-Druck zu bekommen.
Gibt es hier schon Lösungsansätze?
Manche Startups setzen hier auf Kopierschutzverfahren und kryptografische Techniken. Wir selbst halten Verfahren für sinnvoller, bei denen Modelle so modifiziert werden, dass Details der Konstruktion nicht mehr erkennbar sind, aber alle Informationen zur Erstellung eines Angebots erhalten bleiben.
Was raten Sie Unternehmen, die ein Projekt zum 3D-Druck starten wollen?
Lassen Sie sich nicht von der Technik leiten oder den unglaublich vielfältigen Möglichkeiten, die 3D-Drucker bieten. Fragen Sie lieber, wo der betriebswirtschaftliche Leidensdruck groß ist, wo es Nischen gibt, in denen der Markt mehr Varianten oder gar Individualisierung schätzen würde – oder wo sich Durchlaufzeiten im Vergleich zum Wettbewerb optimieren lassen. Das sind die interessantesten Ansatzpunkte. Und glauben Sie nicht der Marketing-Aussage, dass ein 3D-Drucker im Handumdrehen ganze Produkte herstellt. Denn er fertigt nur Teile – wenn auch mit einigen Vorteilen gegenüber anderen Verfahren.
Wie ausgereift sind Programme, Drucker und Werkstoffe für den 3D-Druck?
Es gibt in allen drei Bereichen viele Angebote, aber auch noch Verbesserungsbedarf. Noch viel zu wenig beachtet wird hier übrigens die Entwicklung von 3D-Scannern, die 3D-Inhalte generieren. Aber der Markt für die Scanner ist in etwa in dem Stadium, in dem die Drucker vor einigen Jahren waren: Es gibt Lösungen, die aber sehr teuer sind. Die weitere Entwicklung in diesem Segment wird noch sehr spannend.
Haben wir in 20 Jahren alle unseren 3D-Drucker daheim stehen?
Eher nicht. Man darf die Kreativität der Menschen nicht überschätzen. Nicht jeder kann und will seine Produkte selbst entwerfen. Und es gibt längst nicht für alle Eigenentwicklungen einen Markt. Das zeichnet sich heute schon in den 3D-Druck-Vermittlungsplattformen ab. Daher glaube ich auch nicht daran, dass der Konsument, wie manche das erwarten, zum selbst-fertigenden ‚Prosumer‘ wird. Aber dass die Technik einen sinnvollen Platz in Service- und Produktkonzepten der Industrie finden wird, ist absehbar.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen An seinem Lehrstuhl in Würzburg hat Prof. Thiesse das Center for digital Fabrication gegründet, das unter anderem eine betriebswirtschaftliche Beratung zum 3D-Druck anbietet: www.cedifa.de

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