Weltweit erleiden pro Jahr über 30 Millionen Menschen eine Trommelfellverletzung. Wird diese nicht oder nur unzureichend behandelt, führt das im schlimmsten Fall zum Hörverlust. Abhilfe schaffen Implantate aus körpereigenem Knorpel, Muskelhaut oder synthetischen Kunststoffen. Diese sind aber oft so dick, dass sie nicht so gut schwingen wie das natürliche Trommelfell. In der Folge müssen Patienten trotz Implantat dauerhaft mit eingeschränktem Hörvermögen leben. Um die volle Hörfähigkeit wiederherzustellen, haben Forscher des Instituts für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM) und der Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Medizinischen Fakultät, beide TU Dresden, ein textiles Ersatz-Trommelfell entwickelt. Das neuartige Hightech-Textil wurde Ende Juni auf der Techtextil, Weltleitmesse für technische Textilien und Vliesstoffe, erstmals einer breiten Fachöffentlichkeit vorgestellt.
Textiles Ersatz-Trommelfell schwingt wie echtes Trommelfell
„Die textile Membran ermöglicht eine komplette, dauerhafte und naturgetreue Rekonstruktion des Trommelfells“, sagt Dr.-Ing. Dilbar Aibibu, Forschungsgruppenleiterin Bio- und Medizintextilien am ITM. Vergleichende Schwingungstests mit einem natürlichen Trommelfell und einem Implantat aus Knorpel hätten gezeigt: Das textile Ersatz-Trommelfell besitzt die gleichen Schwingungseigenschaften wie ein echtes Trommelfell. „Das ist bisher einmalig“, sagt Aibibu.
Wie aber gelingt es, den Schall derart naturgetreu zu leiten? Das interdisziplinäre Forscherteam setzt dafür auf Biomaterialien wie Polycaprolacton, einen biologisch abbaubaren Kunststoff, und Seidenfibroin, ein Protein, das aus den Kokons von Seidenraupen gewonnen wird. Mittels Elektrospinnverfahren, mit dem man auch Stents für die regenerative Medizin herstellt, werden aus dieser Protein-Kunststofflösung feinste Fäden gezogen und zum textilen Ersatz-Trommelfell abgelegt. „Ein echtes Trommelfell besteht aus Kollagen, deshalb haben wir ähnliche Materialien verwendet“, erklärt Aibibu. Das textile Material fühle sich operativ wie natürliches Gewebe an. Man habe zudem darauf geachtet, schneidbare Materialien zu verwenden, um die Ersatz-Membran besser an den Patienten anpassen zu können. Doch das Trommelfellimplantat war nicht die einzige medizin-textile Innovation des ITM, die auf der Techtextil für Aufsehen sorgte.
Innovation Award für textile Herzklappe
Das Textilforschungsinstitut erhielt außerdem einen Techtextil Innovation Award in der Kategorie „New Product“ für die laut ITM weltweit erste gewebte Herzklappe, die ohne eine einzige Naht oder sonstige Fügetechnik auskommt. Entwickelt wurde sie mit Herzchirurgen aus dem Herzzentrum Dresden und der Uniklinik Würzburg. Laut ITM-Forschungsgruppenleiterin Aibibu ließen sich solche gewebten Herzklappen aufgrund der komplexen Geometrie und Funktion bisher nicht in dieser Form herstellen. Möglich wurde der Quantensprung demnach durch eine spezielle am ITM entwickelte Fertigungstechnologie auf Basis der sogenannten Jacquard-Spulenwebtechnik. Mit ihr sei es erstmals gelungen, Schläuche mit eingebauten Ventilen komplett ohne Nähschritte auf einer Webmaschine zu weben. Erste Versuche hätten die gute Funktionalität der eingewebten Ventile bereits gezeigt. „Die Ergebnisse sind eine hervorragende Basis für die Entwicklung von gewebten Herzklappen mit hoher Lebensdauer und minimalem Fertigungsaufwand“, sagt Dr. Aibibu.
Textile Herzklappe wächst mit
Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören zu den häufigsten natürlichen Todesursachen; weltweit sterben daran etwa 17 Millionen Menschen jährlich. Erhalten Patienten die Möglichkeit für einen Herzklappen-Ersatz, kommen in der Regel künstlich-mechanische oder biologische Herzklappen zum Einsatz. Ein Nachteil der mechanischen Lösung besteht darin, dass damit eine lebenslange gerinnungshemmende Therapie einhergeht. Biologische Herzklappen indes weisen eine deutlich kürzere Lebensdauer auf und erfordern einen hohen manuellen Herstellungsaufwand. Geht es nach dem ITM, soll die mit dem Innovation Award ausgezeichnete textile Herzklappe künftig eine Alternative sein. „Unsere Neuentwicklung könnte in Zukunft auch Kindern mit Herzklappenfehlern helfen“, sagt Aibibu. „Weil sie mit dem Herzen mitwächst, lassen sich so die üblicherweise wiederholten chirurgischen Eingriffe für die kleinen Patienten vermeiden.“
Medtech auf der Techtextil
Auf der Techtextil, Weltleitmesse für technische Textilien und Vliesstoffe, präsentieren Aussteller Produkte aus zwölf Anwendungsbereichen, darunter Medizintechnik. Der Bereich umfasst neue Produkte, Materialien und Technologien für den Einsatz in Medizin, Gesundheit und Hygiene. Neueste Fasern, Garne und (Vlies)Stoffe für OP-Bekleidung, Wundauflagen, Nähfäden und FFP2-Masken spielen dabei ebenso eine Rolle wie textile Implantate, Prothesen, Stents und intelligente Textilien zur Überwachung von Vitalparametern.
Die Techtextil und die parallel stattfindende Texprocess 2022 zogen Ende Juni mit über 1300 Ausstellern aus 51 Ländern rund 48 000 Besucher an. Die nächste Techtextil und Texprocess finden 2024 vom 23. bis 26. April wieder in Frankfurt am Main statt.
Kontakt zu den Spezialisten für Medizinische Textilien:
Institut Für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik
Hohe Str. 6
01069 Dresden
www.tu-dresden.de/ing/maschinenwesen/itm