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Sounddesign: So könnten Medizingeräte ganz anders klingen

Medizinprodukte und Regeln für Alarme
Sounddesign: So könnten Medizingeräte ganz anders klingen

Sounddesign: So könnten Medizingeräte ganz anders klingen
Piepkonzert im OP oder auf der Intensivstation? Der Einsatz moderner Technologie könnte die Kommunikation zwischen Gerät und Anwender verbessern (Bild:Jihan/stock.adobe.com)
Was wäre, wenn Entwickler sich trauen, bei Lautsprechern und Klängen für Medizingeräte von bisherigen Lösungen abzuweichen? Damit ließe sich die Kommunikation mit dem Anwender verbessern. Und es bleibt die Wahl zwischen Änderungen in kleinen Schritten und grundlegend anderen, gar futuristischen Ansätzen.

Andreas Brand
Musikdesigner und Hochschuldozent
in Tuttlingen

Ganz schön was los fürs Ohr: Das gilt für die Intensivstation oder den OP und genauso für die Pflege – überall da, wo viele medizinische Geräte im Einsatz sind und die Bediener über erfolgte Handlungen oder Alarme informieren. Da ist schnell ein Sound schriller als der andere, und der Gesamteindruck „Piepkonzert“ beeinflusst Arbeitsprozesse und Wohlbefinden eher negativ.

Dabei lässt der technische Fortschritt inzwischen neue und innovative Lösungen beim Gestalten von Klängen zu – und wer in der Entwicklung mutig genug ist, kann diese für künftige Geräte nutzen. Dafür gibt es eine Reihe an Handlungsspielräumen. Diese betreffen die Klänge selbst, aber auch deren Wiedergabe im Raum.

Ein Ansatzpunkt sind die Lautsprecher. In vielen medizinischen Geräten sind Komponenten eingebaut, die aufgrund ihres Frequenzgangs hohe Töne besser wiedergeben als tiefe.

Sounddesign für die Medizintechnik

Sounds im mittleren und unteren Frequenzbereich würden schnell zu Verzerrungen bei der Klangwiedergabe führen. Daher sind Sounds im unteren Frequenzbereich, etwa zwischen 120 und 400 Hz, im Portfolio medizintechnischer Geräte kaum vertreten. Heißt: der Bediener oder auch der Patient bekommt vom Gerät vor allem Frequenzen mit, die an die Stimmlage einer Opernsopranistin erinnern – oder noch deutlich höher sind.

Mit breitfrequentigeren Lautsprechern ließe sich die Klangästhetik – gegebenenfalls unterstützt durch entsprechende Druckkammern – erheblich verbessern, wobei die Mehrkosten in sehr überschaubaren Umfang blieben. Durch diese technische Anpassung wäre es möglich, „rundere“ Klänge zu designen. Obertöne im bisherigen Frequenzspielraum sind möglich, könnten aber leiser ausfallen und nicht mehr den Schwerpunkt eines Soundsignals bilden. Dies ist insbesondere für Hinweis- und Interaktionsklänge sowie für nicht normgebundene Klänge relevant.

Es ist wichtig, wo im Gerät der Lautsprecher sitzt

Zu Lautstärke und Lautsprechern gibt es auch einen weiteren Ansatzpunkt: Bisher sind die Lautsprecher in Geräten, um sie vor Spritzern zu schützen, meist seitlich, unten oder an der Rückseite angebracht. Daher müssen die Schallwellen in der Regel Gehäuse und Gerätekomponenten durchdringen. Das dämpft sie. Der Effekt ist ähnlich, als wenn ein Mensch beim Sprechen die Hand vor den Mund hält. Daraus folgt, dass die Signale in größerer Lautstärke wiedergegeben werden müssen, damit der Nutzer etwas hört.

OP-Ausstattung: Audio-System filtert im OP die wichtigen Infos

Um Klänge direkter und konkreter kommunizieren zu können und Diffusschall zu vermindern, müssten Lautsprecher in Richtung der Arbeitsbereiche ausgerichtet sein – oder gar durch spezielle Richtlautsprecher ersetzt werden. Dafür müssten die Geräte wiederum so konzipiert sein, dass sie eine spritzschutzkonforme Lautsprecheröffnung an der Gerätefront oder an der zum Arbeitsfeld gerichteten Seite aufweisen. Für Produktdesigner und die Verantwortlichen für das Risikomanagement dürfte das ein sehr ungewohnter Ansatz sein – der angesichts der Vorteile bei der Kommunikation zwischen Gerät und Bediener bedenkenswert erscheint.

Ein weiterer Verbesserungsansatz sind alternative Beschallungssysteme wie In-Ear-Monitor-Systeme. Damit wäre es zum Beispiel im OP möglich, dass nicht mehr alle anwesenden Personen alle Klänge hören. Man könnte gezielt entscheiden, wer welche akustischen Informationen benötigt – und nur noch die Klänge, die tatsächlich für alle Personen relevant sind, wären laut hörbar.

Futuristischer Ansatz: Nutzung von OP-Sound-Units

Ein weiterer alternativer und eher futuristischer Ansatz wäre die Neuentwicklung von ‚OP-Sound-Units‘ – womit ein Device gemeint ist, das Daten diverser medizinischer Geräte empfängt und dann vorgegebene Klänge über mehrere hochwertige (Richt-)Lautsprecher im OP-Saal wiedergibt. Der Gedanke lässt sich sogar weiter ausbauen: Mittels künstlicher Intelligenzen wäre bei jeder Operation (oder auch auf Intensivstationen) ein virtueller Soundengineer im Einsatz, der klangkommunikative ‚Vorfahrtsregeln‘ berücksichtigt, Klangwiedergaben an aktuell gegebene Lautstärkeverhältnisse anpasst und diese situationsgebunden örtlich sinnvoll platziert.

Auch bei Standardgeräten geht viel mehr als nur der Piep

Doch es muss nicht gleich so futuristisch werden. Verbesserungen sind auch über die Gestaltung der Klänge selbst zu erreichen. Angenehmere und individuellere Lösungen entstehen durch entsprechendes Ein- und Ausschwingverhalten der Sounds sowie deren Klangfarbe. Klingt etwas hölzern, gläsern, klar, rauschhaft? Hierbei gilt es jedoch eine Balance zu finden, damit die ‚angenehmen‘ Sounds nicht zu weniger Präzision führen – insbesondere dann, wenn Klänge Echtzeit-Daten darstellen sollen, was als Sonifikation bezeichnet wird.

Der Ton macht die Musik – auch in der Medizintechnik

Abseits vom klassischen, von Oszillatoren erzeugten Piep ermöglicht der technische Fortschritt inzwischen neue Formen der Soundgestaltung durch den Einsatz von Audiodateien. Diese Möglichkeit an sich ist nicht bahnbrechend neu, aber sie erweitert die Gestaltungsmöglichkeiten erheblich: Durch das Implementieren von Audiofiles und ergänzendem Audio-Processing-Code können Maschinendaten die Klangwiedergabe auf unterschiedlichen Ebenen variieren. Das ist selbst dann möglich, wenn Microcontroller „schmale“ technische Rahmenbedingungen vorgeben. So lassen sich Soundvariationen abbilden, die eine konkretere Dimension der Information und Interaktion eröffnen. In der Automobilindustrie sind solche Ansätze längst etabliert, in der Medizintechnik aber bislang kaum angekommen.

Um den Sound im klinischen Umfeld deutlich zu verbessern, wird es erforderlich sein, ihn grundsätzlich ‚auf Augenhöhe‘ neben anderen gestalterischen und interaktiven Ebenen wie Produktdesign, User Interface, Licht- oder Vibrationssignalen zu entwickeln. Jede Neuentwicklung und Iterationen haben das Potenzial, peu à peu einen Anteil zur längst überfälligen „Soundrenovierung“ beizutragen.


Weitere Informationen

Wenn es um menschzentrierte Soundentwicklung für Medizingeräte geht, arbeitet die Konstanzer Audity GmbH mit dem Musikdesigner Andreas Brand zusammen. Dieser hat beruflich schon vor seinem Musikdesign-Studium eng mit der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Medien der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zusammengearbeitet.

www.audity.co


Spielraum bei rechtskonformen Alarmen

Nicht immer steht es einem Hersteller von Medizingeräten völlig frei, deren Sound zu gestalten. Elektronische medizinische Geräte, die (vereinfacht formuliert)

  • Vitalfunktionen überwachen,
  • den menschlichen Kreislauf unterstützen oder
  • Menschen am Leben halten,

müssen gesetzlich geregelte Alarmkriterien erfüllen. Heißt: Ihre Alarmklänge müssen zertifiziert werden.

Dabei haben Hersteller zwei Gestaltungsoptionen. Entweder sie implementieren individuelle Alarmklänge und belegen deren Funktionalität mit Usability-Studien. Oder sie gestalten und zertifizieren Alarmklänge entlang der Norm DIN EN 60601-1-8 (in Deutschland auch VDE 0750-1-8). Diese enthält Vorgaben zu

  • Anordnung und Anzahl von Impulsen,
  • Frequenzgehalt,
  • Impulsdauern,
  • Impulsabständen,
  • Prioritätsstufen und
  • Lautstärkenverhältnissen.

Chance und Problem dabei: Wenn alle Geräte gemäß den Vorgaben ähnlich klingen, lernt der Anwender schneller, was ein Gerät signalisiert. Aber die gleichförmigen Klänge begünstigen auch das Phänomen der Alarm-Fatigue, und es ist schwieriger, rein auditiv zu erkennen, welches von mehreren Geräten im Raum gerade Alarm gibt.

Server muss ein Medizinprodukt sein

Die im Dezember 2021 in Kraft getretene Revision der DIN-Norm bietet aber erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten. Eine eigenständige Alarmkommunikation ist im Rahmen der Vorgaben möglich, zum Beispiel durch die individuelle Wahl der Frequenzkomponenten oder ergänzende klangliche Bestandteile.

Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten bieten zudem die Chance, Alarmklänge eindeutig, aber so zu gestalten, dass sie Patienten und Angehörige weniger verunsichern.

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