Sie sind Ihnen bestimmt auch über den Weg gelaufen: Wer sich auf einen Besuch der Messe Automatica vorbereitet, kommt nicht an Begriffen wie Cobots, No-Code– oder Low-Cost-Robotics, Vernetzung oder auch Social Robots vorbei. Aber wie wichtig sind die technologischen Ansätze eigentlich in der Medizintechnik?
Inhaltsverzeichnis
Erst Industrieautomation, dann Medizinprodukt der Klasse IIb
No-Code-Robotics: Für die Medizin nicht ganz so einfach
Modellbasierte Sicherheitsvalidierung für Roboter in der Medizin
Roboter soll in der Medizin einfache Halteaufgaben übernehmen
Roboter müssen an Situation im OP angepasst sein
Sicherheit im OP: Wann tut der Roboter jemandem weh
Roboter für die Medizintechnik: Am besten vieles mitbringen
Rüssel? Tentakel? Da wird es komplex
Mobilfunkstandards für Roboter im OP – wenn die Latenzzeit stimmt
Und die Social Robots?
Wie Social Robots in der Pflege unterstützen könnten
„Cobots, also die kollaborativen Roboter, die in der Nähe von Menschen oder mit diesen zusammen arbeiten, sind ein Bereich, der die Robotik-Community derzeit umtreibt“, sagt Andreas Rothfuss. Er entwickelt bei der BEC GmbH in Pfullingen robotische Lösungen für die Medizintechnik. Für diese Branche seien Cobots auf jeden Fall sehr interessant. „Da es immer um Patienten geht, die im direkten Umfeld sind, muss jeder Roboter in der Medizin quasi ein Cobot sein.“ Die Technik dafür sei schon verfügbar, erste Systeme kämen auf den Markt. „Bis wir die Anwendungen in der Medizin häufiger sehen, wird es aber noch dauern, da hier die Entwicklungszeiten einfach länger sind.“
Erst Industrieautomation, dann Roboter in der Medizin als Medizinprodukt der Klasse IIb
Die Automatisierungsexperten bei BEC kennen die industrielle wie auch die medizinische Seite der Robotik. Das Unternehmen hat Geschäftsführer Matthias Buck vor etwa 18 Jahren gegründet. Schwerpunkt waren zunächst Industrieautomation und der Bau von Sonderanlagen. Diese wie auch Coaster im Entertainment-Bereich bearbeitet BEC weiterhin. Medizintechnik-Projekte kamen 2011 auf die Agenda. Heute bietet das Unternehmen ein Positioniersystem für Patientenliegen an, das als Medizinprodukt der Klasse IIb gemäß MDR zertifiziert ist. Ein weiteres Produkt, mit dem sich Interventionsnadeln positionieren lassen, wird auf die Markteinführung vorbereitet.
Roboter in der Medizintechnik haben nach Meinung von Andreas Rothfuss „viel Potenzial“. Derzeit entfällt ein Viertel bis ein Drittel des Umsatzes bei BEC auf diese Branche – und die Pfullinger rechnen mit Wachstum in diesem Bereich. Allerdings sei nicht alles, was für die industrielle Produktion gut funktioniert, auch für die Medizinprodukte selbst ideal.
No-Code-Robotics: Für die Roboter in der Medizin nicht ganz so einfach
No-Code-Programmierung von Robotern nennt er dafür als Beispiel. „Für industrielle Anwendungen, inklusive der Herstellung von Medizinprodukten, sind solche Systeme superinteressant“, sagt Rothfuss. Vor allem in Kombination mit Low-Cost-Robotern komme so etwas auch für Automatisierungsaufgaben in kleinen und mittleren Unternehmen in Frage. Denn: „Nicht allein der Preis des Roboters lässt die Automationskosten steigen. Einen großen Anteil daran hat die Roboterintegration ins System.“
Wo Aufgaben häufig wechseln, sei es sehr hilfreich, den Roboter ohne eigene Programmierkenntnisse einzurichten. „Für Medizinprodukte sehe ich das eher nicht, denn gerade die Flexibilität des Roboters wäre für die Zulassung vermutlich ein Problem.“ Doch seien Einsatzszenarien denkbar – vielleicht nicht als Medizinprodukt, aber durchaus für Logistik und Handling im Gesundheitsbereich. „Das Tablett anzureichen oder ein Bett durchs Krankenhaus zu bewegen, wäre mit einfachen Systemen sicher machbar.“
Modellbasierte Sicherheitsvalidierung für Roboter in der Medizin
Etwas optimistischer sieht das Magnus Hanses, der sich am Magdeburger Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF) mit OP-Robotern befasst und die Gruppe Kognitive Robotik leitet. Er betont, dass auch im Bereich der No-Code-Robotics der Roboter programmiert sei, „aber in einer Weise, die Anweisungen auf höherer Ebene ermöglicht – wie ‘gehe dorthin, greife dies‘.“ In der Medizin könnte so etwas zu universellen Einsatzmöglichkeiten für Roboter führen. Die Zulassung sei natürlich ein wichtiger Aspekt. „Am Fraunhofer IFF entsteht derzeit eine modellbasierte Sicherheitsvalidierung, die eine solche Zulassung begünstigen könnte“, sagt Hanses. Mit dieser Methode lassen sich gefährliche Kollisionen mittels Simulation bewerten. Einen Demonstrator dazu werde auf der Messe Automatica zu sehen sein.
Um Flexibilität bei Roboter-Anwendungen im OP geht es ihm und seinen Mitstreitern auch im Rahmen des Forschungscampus Stimulate. „Ein Roboter rechnet sich vor allem dann, wenn er häufig im Einsatz ist – bisherige Systeme aber waren oft hochspezialisiert auf eine einzige Art von Eingriff ausgerichtet, die vielleicht nicht oft genug ausgeführt wird, um eine Investition zu rechtfertigen“, erläutert er. Entsprechend skeptisch seien Kliniken, wenn es um die Anschaffung eines Assistenzroboters geht.
Roboter soll in der Medizin einfache Halteaufgaben übernehmen
Die Lösung aus dem Fraunhofer IFF, die im Rahmen des Forschungscampus Stimulate entstand, ist daher von Anfang an flexibler konzipiert worden. Sie ist mobil und von OP zu OP einfach transportabel. „Von Ärzten haben wir die Rückmeldung bekommen, dass ein Roboter willkommen wäre, wenn er es schafft, eine Person im OP zu ersetzen, die eigentlich nur einfache Unterstützungsaufgaben ausführt“, sagt Hanses. Und das sollte ein Assistenzroboter dann eben in möglichst vielen Varianten tun können.
Allerdings ist hier nicht von No-Code-Robotics die Rede. Die Magdeburger nutzen einen Leichtbauroboter. Er ist so programmiert, dass er mit seinen Bewegungen Menschen in seiner direkten Umgebung keinen Schaden zufügen kann.
Roboter müssen an Situation im OP angepasst sein
In einem mehrjährigen Projekt war zunächst das Ziel, eine Instrumentenpositionierung für eine Wirbelsäulenoperation zu entwickeln, bei der der Roboter den Chirurgen unterstützt. „Die Präzision, die sich mit einem Roboter erreichen lässt, macht dabei einen großen Teil des Nutzens aus“, sagt Hanses. Darüber hinaus ist geplant, auch den robotergeführten Einsatz einer Ultraschallsonde zu erproben.
OP-Roboter beweist sich in der Klinik – mögliche Alternative zu Davinci
Doch auch wenn der Roboter potenziell sehr genau arbeiten kann, steht er am OP-Tisch vor besonderen Herausforderungen. Während das Werkstück in der Fertigung an einer definierten Position wartet, trifft der Roboter im medizinischen Umfeld auf den Patienten, der mindestens atmet und sich meist auch sonst in irgendeiner Form unvorhersehbar bewegen könnte. Damit ist das geplante Einsatzfeld nicht immer am erwarteten Ort – und darauf müssen die Ingenieure den Roboter vorbereiten.
Die Lösung, die dafür im Forschungscampus Stimulate entsteht und für die die Anforderungen mit Fachleuten von Siemens Healthineers abgestimmt wurden, setzt auf ein Markersystem. Dieses wird für Eingriffe an der Wirbelsäule durch die Haut hindurch fixiert und liefert dem Knickarmroboter den Referenzpunkt, den er braucht, um ein Instrument an den vom Arzt geplanten Eingriffsort zu führen. Auf diese Weise lässt sich die CT-Bildgebung stark reduzieren und dementsprechend auch die Strahlenbelastung für Patienten und Mediziner – was ein weiteres Argument dafür ist, einen Roboter in diesem Umfeld einzusetzen.
Sicherheit im OP: Wann tut der Roboter jemandem weh
Dabei ist Sicherheit ein großes Thema, denn im OP ist Kontakt mit dem Patienten Teil der Anwendung. „Wenn wir im industriellen Umfeld von Sicherheit sprechen, beziehen wir uns auf ISO-Normen, die verschiedene Betriebsarten für den sicheren Betrieb definieren, wie die Kraft- und Leistungsbegrenzung oder die Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“, sagt Hanses. Das Ziel: Der Roboter darf sich nicht mit zu viel Schwung bewegen, wenn er einem Werker nahe kommt. Dafür wurden biomechanische Grenzwerte festgelegt – soll heißen, der Roboter darf dem Menschen bei Kontakt keine Schmerzen zufügen. „Was das genau heißt, wurde am Fraunhofer IFF in einer Studie mit Probanden getestet. Auf dieser Basis wollen wir definieren, was für Roboter erlaubt ist.“
Im Falle der Geschwindigkeits- und Abstandsberechnung soll der Roboter den Menschen in seinem Arbeitsbereich erst gar nicht berühren, sondern vorher bis zum Stillstand stoppen. „Beides ist mit Leichtbaurobotern viel einfacher zu erreichen als mit einem schweren Industrieroboter“, sagt Hanses. Die Magdeburger Ingenieure nutzen für ihr OP-Projekt den Leichtbauroboter LBR der Augsburger Kuka AG, der für industrielle Anwendungen entwickelt wurde. Seine Gelenke sind zusätzlich mit Drehmomentsensoren ausgestattet. Sie liefern die Messwerte dafür, dass der Roboter feinfühlig vorgeht.
Kuka Innovation Award für Endoskopie mit dem Roboter LBR Med
Für die weiteren Arbeiten ist aber ein Wechsel geplant. „Wir werden den LBR-Med einsetzen, der die Dokumentation für die Zertifizierung gemäß MDR mitbringt und zusätzliche Voraussetzungen für den Einsatz in der Medizin erfüllt.“
Roboter für die Medizintechnik: Am besten vieles mitbringen
Für dieses System haben sich – aus dem gleichen Grund – auch die Automatisierungsexperten von BEC entschieden. „Wenn ich ein geeignetes System kaufen kann“, sagt Rothfuss, „spare ich mir viel Kosten und Nerven.“
Weitere Projekte mit Medizinprodukteherstellern sind bei BEC willkommen. Dabei könne es sowohl um die Roboterintegration in Medizinprodukte selbst gehen als auch um den Einsatz von Robotern in der Produktion derselben. „BEC bringt mit seinen Geschäftsfeldern für beides die erforderlichen Kompetenzen mit.“
Ganz besonders interessant wären Projekte, sagt Rothfuss, die direkt auf dem von BEC entwickelten Exacure-System
für die Patientenpositionierung oder dem Internventionsnadel-Positioniersystem Guidoo aufbauen. „Da ließe sich durch Anpassung viel herausholen – und besonders für die Technik hinter Guidoo gibt es ein breites Feld möglicher weiterer Anwendungen.“
Rüssel? Tentakel? Da wird es komplex
A propos Weiterentwicklung: Könnten neue, bionisch inspirierte Roboterformen, die Rüsseln oder Tentakeln ähneln, die Robotik in der Medizin voranbringen? Bei dieser Frage sind beide Experten skeptisch. „Solche Konzepte sind spannend“, sagt Rothfuss, „wenn es darum geht, auf engem Raum bestimmte Positionen erreichen zu können. Aber so etwas zu steuern, ist unglaublich komplex. Das umzusetzen und auch noch einen Vorteil gegenüber einem stabilen herkömmlichen System erzielen, kann ich mir kaum vorstellen.“ Auch Hanses glaubt, dass die vom Roboter erwartete Präzision damit schwer zu erreichen wäre. „Aber im Umfeld von Menschen haben solche Systeme einen wichtigen Vorteil: Es gibt keine Stelle, an der man sich klemmen oder Quetschungen zuziehen könnte.“
Damit Roboter im medizinischen Einsatz Vorteile bringen, ist auch das Zusammenspiel mit anderen Geräten unabdingbar. Denkbar ist das mittels Kabel oder über Mobilfunkstandards wie 5G. „Für unsere Positioniersysteme in der Medizin setzen wir auf kabelgebundene Lösungen: Sie sind einfacher, laufen stabiler und sind problemlos in der Zulassung“, sagt BEC-Mitarbeiter Rothfuss. Allerdings gebe es derzeit viele Projekte, die sich auf den Einsatz von 5G in der Medizin beziehen. „Wenn es zum Beispiel um die Steuerung von Robotern im OP geht, die ein Mediziner aus der Ferne bedient, wird 5G interessant – oder vielleicht auch andere Standards.“
Mobilfunkstandards für Roboter im OP – wenn die Latenzzeit stimmt
„Ob 5G die erforderlichen extrem niedrigen Latenzzeiten dafür bietet, müssen IT-Spezialisten beantworten“, ergänzt IFF-Mitarbeiter Magnus Hanses. „Für mobile Roboter ist der kabellose Datentransfer auf jeden Fall interessant, denn sie nutzen Akkus. Damit steht ihnen nur eine begrenzte Energiemenge zur Verfügung.“ Wolle man keine schwere Rechentechnik integrieren, seien Berechnungen in der Cloud eine elegante Alternative – auch für Teleoperationen.
Doch aktuell geht es in Magdeburg vor allem darum, wie der Mediziner direkt neben dem OP-Tisch das Assistenzsystem steuert. Derzeit arbeiten die Magdeburger mit einem Fußboden, der mit Sensoren das Gewicht eines Menschen erfasst. Damit lässt sich nicht nur die Position des Arztes feststellen, sondern auch, wohin er mit der Fußspitze tippt – so dass zum Beispiel eine Schaltfläche auf den Boden projiziert werden kann, um eine sterile Bedienmöglichkeit zu schaffen.
Für industrielle Partner sind solche Ansätze auf jeden Fall interessant, sagt der Gruppenleiter. Hanses hofft, dass die Messe Automatica weitere Kontakte dieser Art bringt: Das OP-System jedenfalls wird dort am Stand des Fraunhofer IFF zu sehen sein.
Weitere Informationen
Über BEC: www.b-e-c.de
Auf der Messe Automatica: A4.329
Zur Medizinrobotik am Fraunhofer IFF: http://hier.pro/yCq1I
Auf der Messe Automatica: A4.224
(Bild: Sarah Holmlund/stock.adobe.com)
Und die Social Robots?
Was macht aus einem Roboter einen Social Robot? Dazu gibt es mehr als eine Definition. Die Gemeinsamkeit: Es geht nicht um die mechanische Interaktion mit Menschen, sondern um etwas, das mit Ansprache und Verstehen zu tun hat.
Dementsprechend sehen Roboter, die soziale Interaktionen ausführen sollen, oft weniger nach Roboter aus. Sie können „Augen“ haben oder sogar ein ausgeformtes oder projiziertes Gesicht. Sie sollen Sprache und Stimmungen erkennen und angemessen darauf reagieren.
Das schwedische Unternehmen Furhat Robotics mit Sitz in Stockholm beispielsweise hat vor rund zehn Jahren begonnen, solche Roboter zu entwickeln. Zu den Anwendungsmöglichkeiten gehören Bewerbungsgespräche, neue Ansätze für die Psychotherapie oder auch „Petra“ – ein Roboter, der zusammen mit der Darmstädter Merck AG entwickelt wurde und die Anzeichen von Diabetes, Alkoholabhängigkeit und Schilddrüsenunterfunktion in Gesprächen erkennen soll.
Magnus Hanses, Gruppenleiter für den Bereich Kognitive Robotik am Magdeburger Fraunhofer IFF, findet solche Ansätze „spannend, aber vielleicht anders, als man im ersten Moment denkt“.
Wie Social Robots in der Pflege unterstützen könnten
Seiner Erfahrung nach wünschen sich zum Beispiel Pflegekräfte durchaus technische Unterstützung. „Aber sie wollen die Entlastung in Bereichen, die sie nicht als ihr Kerngebiet empfinden.“ Der Umgang mit den Pflegebedürftigen zählt jedoch dazu. „Wenn der Roboter das Glas Wasser reicht, wäre das vielleicht keine Verbesserung – denn es entgeht den Pflegern eine Gelegenheit, mit den Menschen zu sprechen.“
Was ein technisches System aber übernehmen könnte, wäre zum Beispiel die Auszahlung kleiner Geldbeträge an Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, einen öffentlichen Geldautomaten zu bedienen. Einen Service dieser Art bieten viele Pflegeeinrichtungen an. „Und es kann vorkommen, dass eine Kraft den ganzen Tag vor allem mit dieser Aufgabe beschäftigt ist“, berichtet Hanses.
In so einem Bereich könne ein Social Robot nützlich sein, der eine menschliche Anmutung hat, der die pflegebedürftige Person erkennt und mit Namen anspricht, deren Anweisungen versteht und ausführt – also quasi die Funktion eines menschlichen Geldautomaten übernimmt.
Mehr über den schwedischen Hersteller:
www.furhatrobotics.com/