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Rezyklate für die Medizintechnik? „Der Druck auf die Medizintechnikhersteller, Rezyklate in ihren Produkten einzusetzen, steigt von Seiten der EU sowie der Kliniken und Pflegeeinrichtungen“, sagt Dr. Julian Lotz, Geschäftsführer des jungen Darmstädter Compoundeurs Biovox GmbH. „Die meisten Kliniken sind in den kommenden Jahren nach der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) zur Berichterstattung von Nachhaltigkeit verpflichtet. Dazu gehören auch die CO2-Unternehmensemissionen. Um diese zu reduzieren, werden sie den Druck zum nachhaltigen Handeln an ihre Zulieferer weitergeben.“
Inhaltsverzeichnis
Medizintechnik: Keine Chance für Rezyklate bei direktem Patientenkontakt
Die Chancen des mechanischen Recyclings für die Medizintechnik
Was lösungsmittelbasiertes Recyling leisten kann
Depolymerisation: Noch ein Weg zu Rezyklaten für die Medizintechnik
Chemische Rezyklate: gedacht für den Einsatz in der Medizintechnik
Hoher CO2-Fußabdruck bei Pyrolyse-Rezyklaten
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Die CSRD gilt indes auch für die Medizintechnikhersteller selbst. „Mit unseren Kunststoffteilen sind wir innerhalb des Konzerns sehr schnell auf dem Radar, wenn es um die Nachhaltigkeitsziele geht, denn wir sind damit einer der Hauptkontributoren für die Scope-3-Emissionen“, bestätigte Dr. Martin Halter, Leiter des Bereichs Consumables Manufacturing Science & Technology bei Roche Diagnostics, im Frühjahr bei einem Medizintechnik-Event beim Maschinenbauer Engel. „Die Reise muss daher ganz klar zur Verarbeitung von Rezyklaten gehen.“ Mit seinen Diagnostikprodukten werde das Schweizer Unternehmen die Rezyklat-Reise allerdings nicht starten. Halter: „Im ersten Schritt bieten sich Verpackungen an, die sind am unkritischsten.“
Forschung kann zu mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen verhelfen
Arno Pfaff, Vice President Business Development & Strategy bei Barnes Molding Solutions, stellt fest, dass sich die Unternehmen in der Kunststoff-Branche strategisch und technisch bereits seit Jahren auf die Verarbeitung von Rezyklaten vorbereiten: „In den vergangenen Jahren war die Umsetzung schwierig, da Rezyklate am Markt nicht in ausreichend großen Mengen verfügbar waren. Derzeit sind deren Preise im Vergleich zu Neuware noch ein Hindernis.“
Medizintechnik: Keine Chance für Rezyklate bei direktem Patientenkontakt
Hinzu komme: „Für alle Produkte mit direktem Patientenkontakt sind Kunststoffe mit Rezyklat-Anteil sehr schwer einzusetzen. Dies gilt in aller Regel auch für Primärverpackungen von Medikamenten“, stellt Pfaff klar. Paulo Cavacas, Business Development Manager Healthcare beim Kunststoffhersteller Borealis, winkt vor allem bei mechanisch rezyklierten Werkstoffen ab, die es auf dem Markt gibt: „Die Abfallströme beim mechanischen Recycling werden nicht immer kontrolliert. Daher können sie nicht für medizinische Anwendungen verwendet werden, da das Risiko einer Kontamination oder einer Beeinträchtigung der Produktqualität und damit der Sicherheit der Patienten besteht. Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen können mechanisch recycelte Materialien im Gesundheitssektor verwendet werden.“
Lucas Pianegonda, Geschäftsführer von Gradical, einem Schweizer Beratungsunternehmen für Kunststoffe in der Medizintechnik, nennt als Beispiele Verschalungen für Beatmungsgeräte oder mechanische Komponenten an Rollstühlen. „Die Qualität von Werkstoffen, die aus mechanischem Recycling stammen, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert: Es gibt praktisch geruchlose Rezyklate, ebenso transparente. Man kann also längst nicht mehr nur Blumentöpfe und Parkbänke damit produzieren“, so Pianegonda. „Außerdem besteht die Möglichkeit, mit Sandwich-Verfahren auf der Spritzgießmaschine Produkte herzustellen, die außen aus Virgin-Ware und im Kern aus Rezyklat bestehen.“ Pfaff sieht bei Transportmitteln in Diagnostik und Drug Delivery noch große Möglichkeiten, ebenso für Pharma-Sekundärverpackungen, die also nicht in Kontakt mit Medikamenten kommen.
Die Chancen des mechanischen Recyclings für die Medizintechnik
Pianegonda und Pfaff beobachten, dass Unternehmen derzeit vor allem nach Möglichkeiten suchen, mechanisch erzeugte Post-Industrial-Rezyklate (PIR) in ihre Kunststofffertigung einzubeziehen – nicht zuletzt, um auch Geld zu sparen. Das heißt, in der Spritzgießfertigung anfallende Teile werden sortenrein getrennt, zerkleinert, gereinigt und vor Ort eingeschmolzen. „Großes Potenzial für diese Art des mechanischen Recyclings vor Ort in der Fabrik sehe ich zum Beispiel bei Zwischenprodukten aus Kunststoff, die man für die Fertigung des Endprodukts herstellt“, so Pfaff. „Das Material wird heute noch großteils an Recycling-Unternehmen verkauft. Wenige Male kann dieses Granulat auf der Spritzgießmaschine problemlos verarbeitet werden, doch bei kontinuierlichen Prozessen benötigen sie aufgrund der großen Materialschwankungen anspruchsvolle Regelungstechnologie.“
Das kann Regelungstechnik der Spritzgießmaschine sein, aber auch Werkzeuginnendrucksensorik, Heißkanalsysteme oder Temperaturkontrollsysteme. Halter von Roche Diagnostics bestätigt diese Einschätzung: „Wir müssen uns schrittweise an Recyclingware herantasten, da es hier noch große Probleme hinsichtlich der Stabilität des Spritzgießprozesses gibt.“
Was lösungsmittelbasiertes Recyling leisten kann
Ebenso wie das mechanische Recycling ist das lösungsmittelbasierte Recycling ein werkstoffliches Recyclingverfahren. Damit ist es möglich, selektiv Polymere in gemischten Kunststoffabfällen zu trennen. Dafür bedarf es allerdings der entsprechenden chemischen Verfahrenstechnik, die in einem mehrstufigen Prozess flüssige und feste Bestandteile von Kunststoffen trennt. „So lassen sich beispielsweise Farbe entfernen oder auch Mehrschichtfolien trennen“, so Pianegonda. „Der Vorteil ist: Die Qualität des Rezyklats ist besser als beim mechanischen Recycling – und der Umwelt-Impact geringer als beim chemischen Recycling. Der Nachteil: Es gibt bislang kaum Unternehmen, die dieses Verfahren im industriellen Maßstab anwenden. Und ich habe auch noch keine Anwendung von diesen Rezyklaten in der Medizintechnik gesehen.“ Das Merseburger Unternehmen APK und Purecycle aus den USA gehören zu den wenigen Playern in diesem Umfeld. Sie gewinnen sortenreine Polyolefine aus Verpackungsabfällen für den Wiedereinsatz in Verpackungen.
Depolymerisation: Noch ein Weg zu Rezyklaten für die Medizintechnik
Neben der werkstofflichen gibt es die chemische Verwertung von Kunststoffen. Und auch hier gibt es mit der Depolymerisation ein Verfahren, das noch in den Kinderschuhen steckt, aber laut Biovox-Chef Lotz „prinzipiell sogar geeignet ist für Produkte am Menschen“. Bei der Depolymerisation werden Kunststoffe enzymatisch, katalytisch oder mit Wasserdampf in ihre Bestandteile zerlegt. Depoly, ein Spin-off der Eidgenössischen Technischem Hochschule Lausanne (ETHL), wendet das sehr energieeffiziente, da bei Raumtemperaturen stattfindende Verfahren für PET an.
Das einzige chemische Recycling-Verfahren, das technisch ausgereift ist, ist derzeit die Pyrolyse. Mit dieser wird bei sehr hohen Temperaturen aus Kunststoffabfällen Pyrolyseöl gewonnen. Dieses Öl speisen Kunststoffhersteller am Anfang der Wertschöpfungskette in ihre Verbundproduktion ein. „Es handelt sich um eine transformative Technologielösung, die polyolefinbasierten Post-Consumer-Abfällen ein neues Leben gibt“, erklärt Cavacas, Borealis. „Damit erhalten wir Materialien in Neuwarequalität und schaffen hohe Sicherheits– und Leistungsqualitäten für anspruchsvolle Anwendungen.“
Chemische Rezyklate: gedacht für den Einsatz in der Medizintechnik
Chemisch recycelte Qualitäten würden sich für neue Polymere eignen, aber das Angebot an chemischen Rezyklaten auf dem Markt sei derzeit sehr begrenzt. Sobald die Verfügbarkeit gegeben ist, will Borealis seine so genannten Borcycle-C-Kunststoffe – wobei C für chemisches Recycling steht – für den Einsatz in der Medizintechnik anbieten. „Dies wird über die Massenbilanzierung geschehen“, so Cavacas.
„Das chemische Recycling ist das einzige, das aktuell die Anforderungen der VDI-Richtlinie Medical Grade Plastics aus dem Jahr 2017 erfüllt“, sagt Pianegonda. Die VDI-Richtlinie wird gerade überarbeitet, doch wird es auch darin keine expliziten Vorgaben hinsichtlich Rezyklaten geben. Für sie gelten vielmehr die gleichen Anforderungen wie für Neuware. Dies gilt auch für die Medical Device Regulation (MDR), die allgemein beschreibt, welche Anforderungen das Risikomanagement bei Werkstoffen erfüllen muss.
Im Rennen um die ersten chemisch recycelten Medical-Grade-Kunststoffe, die nicht massenbilanziert sind, will Biovox die Nase vorn haben. „In absehbarer Zeit“ sollen laut Geschäftsführer Lotz in erster Linie entsprechende Polyester verfügbar sein. Ein Entsorgungsunternehmen werde kontaminierte Produkte aus Kliniken einsammeln und anschließend dekontaminieren. Ein Partner rezykliert diese Produkte anschließend per Depolymerisation für Biovox.
Hoher CO2-Fußabdruck bei Pyrolyse-Rezyklaten
Mit dem chemischen Recycling mittels Pyrolyse werden gleiche Produkteigenschaften wie bei Neuware erzielt, „die Rezyklate können deshalb ohne Neuvalidierung oder Rezertifizierung der Produktionsprozesse eingesetzt werden“, sagt Biovox-Geschäftsführer Lotz. Doch nicht nur die Produkteigenschaften sind die gleichen wie bei Virgin-Werkstoffen – auch der CO2-Fußabdruck. „Das ist eigentlich widersinnig. Rezyklate werden eingesetzt, um die Umwelt zu schonen, aber letztlich gewinnt das Recycling-Verfahren mit der schlechtesten Umweltbilanz, denn der CO2-Fußabdruck von Pyrolyse ist deutlich größer als bei den anderen Verfahren“, schimpft Pianegonda. „Wenn man für das Rezyklieren mehr Energie aufbringen muss als daraus beim Verbrennen in Restmüllheizkraftwerken entsteht, dann muss man klar sagen: Verbrennt den Kunststoffabfall.“
An nachhaltigen Werkstoffen kommt auch die Medizintechnik nicht vorbei
Weitere Informationen
www.biovox.systems
Zum Gerätehersteller Barnes:
www.onebarnes.com
Zum Werkstoffanbieter Borealis:
www.borealisgroup.com
Zum Beratungshaus Gradical:
www.gradical.ch