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Entlang dieser Trends entwickelt sich die Medizintechnik

Trends in der Medizintechnik
KI ersetzt keinen Entwickler – aber er muss KI nutzen können

KI ersetzt keinen Entwickler – aber er muss KI nutzen können
Dr. Helmut Scherer ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Erbe Elektromedizin in Tübingen und als CTO zuständig für die Entwicklung und Weiterentwicklung der künftigen Medizinprodukte (Bild: Erbe Elektromedizin)
Es gibt technische Entwicklungen wie Automatisierung, KI und 3D-Druck, die die Medizintechnik deutlich voranbringen, sagt Dr. Helmut Scherer von der Geschäftsleitung bei Erbe Elektromedizin. Doch auch Rahmenbedingungen wie der Mangel an Arbeitskräften bestimmen die Trends. Und das geplante PFAS-Verbot könnte in der Branche einiges auslösen.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Dr. Scherer, welche Technologien tragen bisher die Entwicklung und die Fertigung der Medizinprodukte von Erbe Elektromedizin?

Es gab in den vergangenen fünf bis zehn Jahren eine Reihe technischer Fortschritte, die uns bei der Weiterentwicklung unserer Produkte geholfen haben. Die Miniaturisierung beispielsweise konnten wir umsetzen, weil neue Materialbeschichtungen auf den Markt kamen, wir ein besseres Verständnis für die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen bekommen haben oder auch weil das Metal Injection Moulding, kurz MIM, neue Möglichkeiten schafft. Ähnliches gilt für Simulationstechniken, sei es für die Füllung von Spritzgießwerkzeugen oder für die Kühlung in einem Gerät. Es geht aber auch darum, weiterentwickelte Produkte mit neuen Verfahren besser herzustellen. Was das angeht, denke ich, dass die Digitalisierung in der Fertigung unterschätzt wird.

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Welche Erfahrungen machen Sie mit der Digitalisierung in der Produktion?

Wir kommen von einer Organisationsform, die man als Manufaktur bezeichnen muss, in der Nischenprodukte im niedrigen zweistelligen Bereich gefertigt wurden und wenige Produkte im vierstelligen Bereich pro Jahr. Seit etwa zehn Jahren steigen aber die Stückzahlen. So nutzen wir inzwischen auch Roboter. Das war ein großer Entwicklungsschritt. Es wird erheblich unterschätzt, wie aufwendig es ist, Roboter für so filigrane Teile zu teachen, wie wir sie verwenden. Stellen Sie sich vor, sie haben eine Kiste voller Nähnadeln – so winzig sind die Elektroden für unsere Medizinprodukte. Alles liegt durcheinander. Für einen Menschen ist es kein Problem, Teile zu greifen und an der richtigen Stelle abzulegen. Bis unsere Roboter das konnten, haben wir mit externer Unterstützung zwei Jahre gebraucht – obwohl die Fachleute vorher meinten, das sei alles kein Problem. Aber es gibt in der Praxis eine Menge Parameter, die passen müssen. Sie zu definieren, brauchte viele Lernschritte.

Wie profitieren Sie von den Robotern?

Es ging uns hier nicht primär um die Kosten. Die Roboter machen ihre Sache hinsichtlich der Qualität nicht besser als unsere Mitarbeiter. Wir hatten aber die Kapazität im Blick: Die Roboter arbeiten über Nacht weiter und helfen uns so dabei, die höheren Stückzahlen zu erreichen. Denn, seien wir ehrlich: Jedes Unternehmen hat heute echte Personalsorgen. Nicht nur bei Fachkräften, sondern generell bei Mitarbeitern für egal welchen Bereich. Wir haben auch in der Pandemie Menschen eingestellt. Trotzdem haben wir aktuell rund 150 offene Stellen in Deutschland. Und weil immer neue Projekte hinzukommen, wird die Lücke nicht kleiner. Daher kommen wir ohne Automatisierung und Digitalisierung in allen Bereichen nicht weiter.

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Was erwarten Sie von einer verstärkten Digitalisierung?

Wir haben bisher die Basis geschaffen. Manche Bestellungen laufen zum Beispiel schon automatisch durchs Haus. Der nächste Schritt wird sein, auch digitale Geschäftsmodelle anzugehen. Das ist im Medizintechnik-Umfeld natürlich etwas komplizierter als eine App im Consumer-Bereich an den Start zu bringen. Aber in diese Richtung werden wir gehen. Das hängt auch mit dem Einstieg in das Feld der Endoskopie zusammen. Während bei unseren bisherigen Produkten für die Elektrochirurgie Software ein wichtiger Bestandteil war, ist sie in der Endoskopie ein Schlüsselelement, um Bilder zu erkennen, zu analysieren und Daten zu verwalten. Und natürlich kann man hier auch die Buzzwords nennen, wie Big Data und KI.

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Sind die Menschen solchen Technologien gegenüber offen genug?

Es gibt einige Aspekte, die uns beschäftigen. Der Mangel an Mitarbeitern zwingt uns manchmal zum Umdenken. Das muss nicht schlecht sein. In Deutschland diskutieren wir aber oft viel über Risiken und übersehen die Chancen. Das fällt schon bei den europäischen Nachbarn auf, noch mehr aber, wenn man den globalen Vergleich zieht. Ich denke, da müssen wir am Mindset etwas ändern. Das gilt für die Digitalisierung bis hin zur KI. Sie kann uns beim Auswerten der Daten und sogar beim Entwickeln von Software unterstützen. Da ist der Spruch sehr wahr, dass die KI keine Entwickler ersetzen wird, dass aber Entwickler mit KI-Know-how diejenigen ersetzen werden, die dieses Wissen nicht haben. Anders kommen wir mit den wenigen Mitarbeitern nicht mehr zurecht.

Welche technischen oder sonstigen Entwicklungen können Medizinprodukte in größerem Umfang verändern?

Auf technischer Seite muss man auf jeden Fall den 3D-Druck nennen. Wir haben heute mehrere Geräte im Einsatz und beschleunigen damit unser Prototyping. Aber es wird dahin gehen, dass die additive Fertigung mit neuen Werkstoffen bis in die Serie hinein eingesetzt wird. Unabhängig davon fällt beim Blick auf den weltweiten Markt auf, dass Unternehmen aus anderen Branchen in die Medizintechnik vordringen. Das hätte ich vor einigen Jahren so nicht erwartet. Die Tech-Spezialisten haben vielleicht nicht die besten medizintechnischen Produkte, sind aber wie ein Klasse-1-Produkt gut genug und liefern schon heute medizinisch relevante EKG-Daten, wie man am Beispiel Smartwatch sieht. Das mischt den Markt auf und steigert das Tempo, in dem neue Produkte herauskommen. Da wird nicht jeder mithalten können.

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Was spielt künftig regulatorisch eine wichtige Rolle?

Nehmen wir die Medical Device Regulation. Mit der monolithischen Herangehensweise hängt Europa hinterher, den USA zum Beispiel. Die FDA ist uns mit ihrer modularen Zulassungsform ein Jahrzehnt voraus. Wir bei Erbe planen inzwischen, erstmals in der Firmengeschichte Produkte zuerst in den USA auf den Markt zu bringen. Nicht, weil die FDA-Vorgaben einfacher zu erfüllen wären. Aber der Prozess ist für uns vorhersehbar, wir können uns darauf einstellen. Das ist in Europa anders.

Was wäre Ihr Hauptkritikpunkt mit Blick auf die MDR?

Ganz abgesehen davon, dass die Umsetzung der EU-MDR nicht gut vorankam – was sich zum Beispiel am Mangel an benannten Stellen zeigt –, erreicht die Medical Device Regulation ihre Hauptziele nicht, darunter eine einheitliche Beurteilung von Medizinprodukten ein Europa. Daher wäre ich sehr dafür, die Regeln einer klinischen Studie auch für rechtliche Neuerungen anzuwenden. Die Richtlinie hat ihr Ziel nach fünf Jahren nicht erreicht? Also aussetzen, zurück zur Kommission und dann die Richtlinie verbessern. Ein Aspekt, der erst noch auf uns zukommt, ist das geplante Verbot der PFAS-Stoffgruppe. Das wird für die Branche ein genauso großes Thema wie bisher die MDR.

Was würde ein PFAS-Verbot für Erbe Elektromedizin bedeuten?

Ein Verbot dieser besonders langlebigen und haltbaren Stoffe ist ein Rückschritt ins letzte Jahrhundert. Alle unsere Instrumente wären davon betroffen – und damit rund eine Million Patienten, die damit behandelt werden. Natürlich würde es Übergangsfristen geben. Aber wenn wir keine PFAS mehr verwenden dürften, müssten wir wirklich alle Produkte grundlegend überarbeiten. Wir haben das in einem Projekt sogar schon versucht. Das Ergebnis war ernüchternd. Ohne PFAS war entweder der medizinische Nutzen weg oder die Produkte waren unhandlicher für die Mediziner. Das Feedback der Ärzte dazu war eindeutig: Sie fanden die Produkte inakzeptabel schlecht. Daher haben wir uns zunächst dafür entschieden, PFAS weiter zu verwenden.

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Was würden Ausnahmeregelungen bei PFAS für Medizinprodukte bringen?

Solche Regelungen waren ja schon im Gespräch. Aber man muss sehen, dass PFAS-haltige Teile auch von Zulieferern kommen. Diese sind keine Medizinproduktehersteller und fallen daher nicht unter eine Ausnahmeregelung. Der andere Punkt ist, dass nur rund sieben Prozent der PFAS-haltigen Materialien in der Medizintechnik anfallen. Wird ein Hersteller eine große Produktionsanlage für einen so kleinen Markt weiter betreiben? Und welche Preise wird er verlangen, wenn er es tut? Wenn wir beschließen, dass wir ohne PFAS auskommen wollen, kann das einen erheblichen Einfluss auf die Eigenschaften von Medizinprodukten und die Versorgung haben. Eine Ausnahmeregel könnte die Kosten im Gesundheitswesen steigern. Und ich fürchte, man muss sagen, dass die Medizintechnik-Branche da im Vorfeld einfach schlechte Lobbyarbeit geleistet hat.

Wie wichtig ist bei Erbe das Thema Nachhaltigkeit?

Auf Unternehmensebene haben wir uns damit schon vor dem Green Deal der EU befasst, nutzen Solaranlagen und haben Elektrotankstellen auf dem Gelände. Inzwischen widmet sich eine Stabsstelle diesem Thema. Wir suchen nach abbaubaren oder weniger schädlichen Materialien für die Verpackung. Und wir stehen uns als Branche selbst im Weg, wenn Verpackungen Falltests aus einer Höhe von einem Meter überstehen müssen. Wie oft kommt das in der Praxis vor? Aber um die Tests zu bestehen, brauchen wir mehr und besonders stabiles Verpackungsmaterial. Darüber könnte man nachdenken – genauso wie über die Verpflichtung, eine Gebrauchsanweisung auf Papier mitliefern zu müssen. Was die Produkte selbst angeht, sind viele schon sehr langlebig. Anwender wenden sich zum Teil nach 20 Jahren an uns, um ein Gerät reparieren zu lassen. Intern wird schon länger die Treibhausgasbilanz des Unternehmens am Hauptstandort bestimmt, und auch für ein „Starprodukt“ konnten wir bereits ein Life Cycle Assessment durchführen. Daher sind wir uns der größten Hebel zur Treibhausgasemissionseinsparung bewusst und gehen diese engagiert an.

Wie verbessert man Einmal-Produkte?

Bei Neuentwicklungen wollen wir die Anzahl der Bauteile und damit die Zahl der Werkstoffe reduzieren – mit Blick auf eine mögliche Kreislaufwirtschaft. Davon sind wir rechtlich aber noch weit entfernt, und deshalb tut man sich als Hersteller schwer. Wir haben keine eindeutige Richtung, was wir den Entwicklern vorgeben sollen. Geht es vor allem darum, dass man ein Gerät demontieren können soll und jedes Teil eine Markierung trägt, um den Werkstoff zu erkennen? Kommen wir nur damit zu einer Kreislaufwirtschaft, oder gibt es weitere oder ganz andere Optionen? Derzeit sehen wir einen Flickenteppich von Vorgaben, in Deutschland hat quasi jeder Landkreis andere Regeln. Von der EU gar nicht zu reden. Mit einheitlichen Vorgaben wüssten wir, was zu tun ist, und kämen wesentlich schneller voran.

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Woran werden Sie Ihre Produkte künftig ausrichten?

Wir gehen davon aus, dass minimal-invasive Eingriffe weiterhin eine große Rolle spielen werden. Bisher assistiert Robotik hier vor allem. Aber in fünf bis zehn Jahren könnte man vielleicht von echter Automatisierung sprechen, wenn ein System den Auftrag bekommt, bei einer OP zum Beispiel drei Knoten zwischen zwei Positionen zu machen – und der Roboter das dann autonom tut. In diesem Bereich sprießen gerade Start-ups mit interessanten Ideen. Nicht alle werden sich etablieren, aber das ist auf jeden Fall spannend. Erstaunlich finde ich die Entwicklung bei Telemedizin und Homecare. Technisch ginge da viel, aber im Alltag wirken manche Geräte wie aus der Steinzeit. Warum auch immer kommt dieser Bereich seit zehn Jahren nicht recht voran, so dass ich nicht darauf wetten würde, dass Telemedizin und Homecare in absehbarer Zeit ein wichtige Rolle bekommen. Es wird aber künftig darum gehen, Trends wie minimal-invasive Chirurgie und den Umgang mit großen Datenmengen miteinander vereinbar zu machen und zu profitieren. Und auf eine häufig zitierte Feststellung können wir uns verlassen: Es wird nie mehr so langsam vorangehen wie gerade jetzt.


Demnächst neu im Produktportfolio von Erbe Elektromedizin: das multifunktionale Instrument Trisect rapide. Es eignet sich für das schnelle und präzise laparoskopische Dissezieren
(Bild: Erbe Elektromedizin)

Über Erbe Elektromedizin

Die heutige Erbe Elektromedizin GmbH hat ihre Wurzeln in einer Mechaniker-Werkstatt, die Christian Heinrich Erbe 1851 in Tübingen gründete, und ist seit fünf Generationen im Bereich Medizintechnik tätig. Das inhabergeführte Unternehmen bietet chirurgische Systeme für den Einsatz in unterschiedlichen medizinischen Bereichen. Im Portfolio des Herstellers sind Produkte vertreten für die Elektrochirurgie, die Plasmachirurgie, die Thermofusion, die Hydrochirurgie und die Kryochirurgie. Zusammengefasst ist die Rede von Technologien, die im Dienst der Chirurgen Energie in den menschlichen Körper einbringen.

Seit zwei Jahren bietet Erbe Elektromedizin auch Produkte für die Endoskopie und hat im Zuge dieser strategischen Ausrichtung den Endoskopie-Spezialisten Maxer Endoscopy aus Wurmlingen übernommen.

Weltweit waren im August 2023 über 1700 Mitarbeiter für Erbe tätig, davon mehr als 1000 in Deutschland.

https://de.erbe-med.com

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