Tumorzellen abschießen, kranke Außerirdische versorgen oder ein Motorrad durch enge Gassen steuern: Am Bildschirm ist alles möglich. Computerspiele und Apps sollen großen und kleinen Patienten helfen, ihre Krankheit zu verstehen und sie bei Therapien zu unterstützen. Dafür haben Softwareentwickler viele Ideen, doch bei Finanzierung und Zulassung besteht noch Handlungsbedarf.
Roxxi kennt keine Gnade. Blitzschnell und wendig sprintet sie durch die Blutbahn und schießt mit ihrem Chemoblaster auf alle Gegner, die sich ihr in den Weg stellen. Re-Mission ist ein 3D-Shooter-Spiel für krebskranke Kinder und Jugendliche: Die jungen Patienten jagen als schwerbewaffnete Roboter-Kämpferin Roxxi durch einen Körper und vernichten böse Krebszellen. Das PC-Spiel erinnert an klassische Action-Computerspiele. Die klare Botschaft: Du bist stark. Du kannst kämpfen und mit Hilfe deiner Medikamente die Krankheit besiegen. Mit Re-Mission und Re-Mission 2 stammen zwei der ersten Vertreter von Health Games aus den USA.
Beide Spiele wollen Unterhaltung und gesundheitliche Aufklärung bei den jungen Krebspatienten miteinander verbinden und spielerisch an die Themen Krebserkrankung und -behandlung heranführen. Diese Serious Games sind, insbesondere im Gesundheitsbereich, ein Thema, das mehr und mehr auch in Deutschland Fuß fasst. Durch internationale Treffen wie der Games for Health Europe Conference oder der Serious Play Conference wird die gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion über Gesundheitsthemen in Spielen weiter gefördert.
Der Sinn der so genannten Health Games liegt für die Experten klar auf der Hand: Eine Wirksamkeitsstudie der Stanford University zeigte, dass sich dank Re-Mission Kinder und Jugendliche motivierter an der Chemotherapie beteiligten und es eher akzeptierten, regelmäßig ihre Medikamente zu nehmen. Ebenso verbesserten sich das krankheitsrelevante Wissen, die Selbstwirksamkeitserwartung und in der Folge auch die Lebensqualität.
Aus Sicht von Dr. Kevin Dadaczynski von der Leuphana Universität Lüneburg helfen solche Studienergebnisse die Akzeptanz von Health Games bei Krankenkassen und Medizinern zu steigern. Allerdings wisse man bisher nur wenig über die Dosierung oder eine richtige Auswahl der Spiel-Elemente für bestimmte Krankheiten. Hierzu braucht es noch mehr interdisziplinäre Forschung von Spiele-Experten und Mediziner. Wie eine solche Forschung aussehen könnte, zeigt ein Projekt des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung in Tübingen. Dort werden Patienten mit einer degenerativen Kleinhirn-Ataxie mit Hilfe von Health Games behandelt.
Etwa 5000 Patienten leiden deutschlandweit an einer degenerativen Ataxie. Die unheilbare Erkrankung stört die Koordination und das flüssige Zusammenspiel von Bewegungsabläufen. Die Betroffenen gehen erst wackelig, viele sind später auf einen Rollstuhl angewiesen oder bettlägerig. Häufig sind Gendefekte oder Stoffwechselstörungen die Ursache, und es kommt bereits im Kindesalter zum Absterben von Nervenzellen im Kleinhirn. „Vor diesem Hintergrund hielten die Fachleute es noch vor wenigen Jahren für unwahrscheinlich, dass ein spezifisches Bewegungstraining den Zerfall bremsen könnte“, so Dr. Matthis Synofzik, Forschungsgruppenleiter der Abteilung für Neurodegeneration am Hertie Institut in Tübingen. Bereits im Jahr 2009 konnten der Tübinger Forscher und seine Kollegen erstmals zeigen, dass ein intensives Koordinationstraining mit physiotherapeutischen Übungen den Krankheitsverlauf deutlich mildern kann.
Doch vor allem Kindern und Jugendlichen fehlt oft die Motivation, sich physiotherapeutischen Übungen zu unterziehen. „Um das Motivationsproblem zu lösen, kamen wir auf die Idee mit der Spielekonsole“, so Synofzik. Mit einem handelsüblichen Gerät und speziell ausgewählten Spielen aus dem Standardsortiment sorgen die Forscher heute für Abwechslung. Die Kinder müssen beispielsweise mit schwierigen Körperhaltungen Lecks in einem virtuellen Wassertank abdichten oder mit dynamischen und zielgerichteten Ausfallschritten auf leuchtende Flächen reagieren. Eine Studie belegte, dass das Training per Videospiel bei dieser Erkrankung wirksam ist.
Dabei sind jedoch nicht alle Spiele gleich gut geeignet. Wichtig sei unter anderem, dass die Spiele nicht nur mit den Fingern, sondern mit dem ganzen Körper, Armen und Beinen gesteuert werden, dass die motorisch beeinträchtigten Kinder nicht überfordert werden und dass die von der Spielsoftware automatisch erzeugten Kommentare und Leistungsbewertungen die Kinder nicht demotivieren, so der Experte.
Mit ihren Untersuchungen haben die Neurologen um Synofzik womöglich eine Tür aufgestoßen, um weitere neurologische Erkrankungen per Videospiel zu behandeln. Die bisherigen Erfahrungen sind überaus ermutigend. „Solch ein Training ist einfach, vergleichsweise kosteneffizient, kann im eigenen häuslichen Rahmen durchgeführt werden und macht Spaß. Eine aktiv koordinative Physiotherapie kann man dadurch wohl nicht ersetzen, es ist aber eine vielversprechende Ergänzung (physio-)therapeutischer Ansätze“, so der Experte. Störungen der Koordination, des Gleichgewichts und des Bewegungsablaufs treten außer bei Ataxien zum Beispiel auch bei der Multiplen Sklerose auf sowie bei der Hereditären Spastischen Paraplegie (HSP) und der Infantilen Cerebralparese (ICP), betont der Neurologe. Auch bei diesen Leiden möchte Synofzik deshalb baldmöglichst den Nutzen der neuen Methode erkunden. Schwierig sei es dabei leider immer Geldgeber zu finden, die diese Untersuchungen unterstützen.
Die Entwicklung von Health Games bedarf einer intensiven, wissenschaftlichen Begleitung und kostet viel Zeit und Geld. Das Interesse seitens der Krankenhäuser und Senioreneinrichtungen ist aufgrund der Zurückhaltung vieler Krankenkassen überschaubar. Und da vor allem die therapeutischen Spiele auf ein ganz bestimmtes Krankheitsbild spezialisiert sind, ist das Käuferpotenzial entsprechend begrenzt.
Finanzierung der Entwicklung ist meist schwierig
„Damit Health Games bei den Patienten ankommen und neue Projekte in diesem Bereich vorangetrieben werden können, benötigen wir dringend einen Abbau der derzeit bestehenden Barrieren, die die Entwicklung eines Health-Games-Marktes verhindern“, sagt Maximilian Schenk, Geschäftsführer des Bundesverbandes Interaktive Unterhaltungssoftware. Die Anerkennung von Health Games durch Krankenkassen sei ein erster wichtiger Schritt.
Bisher kommt das Geld vor allem für aufwendige Entwicklungen meist aus öffentlichen Fördertöpfen. So auch für das Projekt Rehab@Home, in dessen Rahmen ein System zum spielerischen Training von motorischen und kognitiven Funktionen nach einem Schlaganfall entwickelt wurde. „Individuell gestaltete Übungen können helfen, verlorengegangene Körperfunktionen wieder zurückzubringen. Patienten verlieren jedoch häufig die Motivation, wenn sie nach dem Reha-Aufenthalt wieder zu Hause sind und das Training selbstverantwortlich durchführen müssen“, erklärt Prof. Michael Lawo von der Universität Bremen. Darüber hinaus fehle den Patienten häufig die fachliche Anleitung. Das System, das ein internationaler Forschungsverbund unter Federführung des Technologie-Zentrums Informatik der Universität Bremen (TZI) entwickelt hat, soll Patienten durch spielerische Übungen zum Fortsetzen der Reha im eigenen Heim animieren. Im Mittelpunkt von Rehab@Home stehen Spiele, die von den behandelnden Therapeuten auf den individuellen Bedarf der Anwender abgestimmt sind. Beispielsweise kann geübt werden, virtuelles Geschirr in ein Regal zu stellen. Sensoren und Kameras verfolgen dabei die Bewegungen des Patienten und ermitteln, ob – und inwieweit – die Aufgabe bewältigt wurde.
Zusammengestellt und miteinander verknüpft wurden die Geräte beim TZI. „Wir setzen dabei Standard-Hardware ein, um die Kosten für Patienten niedrig zu halten“, so Prof. Lawo. Die Universität Genua steuerte ihre Expertise im Bereich der Sensorik bei. Eine Besonderheit besteht darin, dass der Zustand der Patienten überwacht werden kann, beispielsweise durch die Messung des Pulses oder des Hautleitwerts. „Der Trainingseffekt ist bei positiver Stimmung nachweislich größer“, erläutert Lawo. Die Spiele können Rücksicht darauf nehmen und bei Bedarf für bessere Laune sorgen, unter anderem durch schnell erreichte Erfolge. Gefördert wurde Rehab@Home durch die Europäische Union mit 2,4 Mio. Euro.
Auf Crowdfunding zur Finanzierung seiner Idee setzte dagegen der Anbieter der Patchie-App, die Hamburger Birds and Trees UG. Die App soll an Mukoviszidose erkrankten Kindern und Jugendlichen auf spielerische Weise die Therapie näherbringen. Im Mittelpunkt des Spiels steht Patchie, ein Außerirdischer, der ebenfalls an Mukoviszidose erkrankt ist. Marc Kamps, Gründer von Birds and Trees, hat selbst einen Sohn, der an Mukoviszidose erkrankt ist. Er kennt die Probleme und den Wechsel von guten und schlechten Zeiten in der Krankheitsbewältigung und wollte eine App entwickeln, das die Kinder spielerisch bei ihrer Therapie unterstützt.
Bei Patchie übernehmen die Kinder und Jugendlichen Verantwortung für den kleinen Außerirdischen mit den lustigen Hörnchen und drei Augen, der ständig auf der Suche nach neuen Abenteuer ist. Wenn es um Erfahrungspunkte, Highscores, Fortschrittsbalken und virtuelle Geschenke geht, wird die Therapie scheinbar zur Nebensache und die Kinder und Jugendlichen erlernen spielerisch den verantwortungsvollen Umgang mit der Krankheit. Auf altersgerechte Weise vermittelt die App die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten sowie die Durchführung der Therapie. Als Investitionsprojekt für Geldgeber eher uninteressant, weil Birds and Trees die App den Betroffenen kostenfrei zur Verfügung stellen will, ging das Unternehmen über das Crowdfunding-System. Mit Erfolg. Die gewünschte Zielgrenze wurde erreicht, Patchies Abenteuer können beginnen. Im Moment läuft die klinische Studie der Patchie-App. Im Herbst dieses Jahres soll die App verfügbar sein.
Computer- und Videospiele für alle Altersgruppen
Die Hocoma AG aus Volketswil bei Zürich hat ebenfalls die Bedeutung von Spiele-Software für Therapie-Motivation – und damit für die Nutzung ihrer Geräte – erkannt. Der Schweizer Medizintechnikhersteller entwickelt und baut robotische und sensorbasierte Medizingeräte für die funktionelle Bewegungstherapie. Neben modernster Roboter- und Sensortechnik setzt das Unternehmen bei der Behandlung von Patienten mit Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder anderen neurologischen Krankheiten und Verletzungen auf ein umfassendes softwaregestütztes Therapiekonzept. Diese Software bildet die Basis für übergreifende Benutzerverwaltung. Neben Therapieplänen und Analysemöglichkeiten werden spielerische und alltagsbezogene Übungen zur Verfügung gestellt. Die Patienten müssen beispielsweise in einer Unterwasserwelt Münzen einsammeln oder Fische fangen, im virtuellen Supermarkt nach Bananen und Äpfeln greifen oder in einer Fantasiewelt auf Schatzsuche gehen. Die spielerischen Aufgaben motivieren den Patienten und erhöhen damit die Arbeitseffizienz des Therapeuten. Laut Hocoma sprechen die Softwarespiele junge und ältere Patienten gleichermaßen an.
Dass sich Senioren nicht den digitalen Medien verschließen, zeigt das Beispiel Memore-Box, eine Video-Plattform für Senioren: Das 2014 aus einem Studienprojekt verschiedener Universitäten aus ganz Deutschland gegründete Start-up Retrobrain R&D UG hat eine Spiele-Konsole entwickelt, die mit Unterstützung der Barmer GEK für Furore im Seniorenheim sorgt. In einem Modellvorhaben untersuchen Barmer und Retrobrain die präventiven und gesundheitsförderlichen Aspekte der neuen Technologie und lassen sie wissenschaftlich evaluieren. Die Wirksamkeit soll zunächst in der Hamburger Region geprüft werden, bevor eine bundesweite Einführung getestet wird.
Kegeln, Motorradfahren und Fahrradkurierdienste gehören seitdem im Hamburger Pflege- und Seniorenheim Hospital zum Heiligen Geist zum Alltag: Die Videospiele reagieren ausschließlich auf Körperbewegungen. Nach dem Anschluss reicht ein Knopfdruck, und schon gelangt man auf die Kegelbahn, an die Tischtennisplatte oder als Auto- und Radfahrer in den Straßenverkehr. „Die Spiele schulen erwiesenermaßen nicht nur Beweglichkeit und Gleichgewichtssinn. Sie können vielmehr durch weitere eingebaute Komponenten kognitive Fähigkeiten wie planvolles Handeln und die Lernfähigkeit anregen“, erklärt Andrea Jakob-Pannier, Psychologin bei Barmer.
Durch die Unterstützung der digitalen Spieltherapie setzt die Barmer als eine der ersten Krankenkassen die neuen Vorgaben des Präventionsgesetzes in (teil-) stationären Pflegeeinrichtungen um. „Bislang haben wir bei allen Tests eine positive Rückmeldung erhalten“, unterstreicht Retrobrain-Geschäftsführer Manouchehr Shamsrizi und fährt fort: „Uns wird immer bestätigt, dass es in den Alten- und Pflegeheimen viel lebhafter zugeht, wenn die Memore-Box gestartet wird. Wir wollen, dass Senioren von den Fortschritten in Technologie und Wissenschaft profitieren – und wieso sollten wir im Alter aufhören zu spielen?“ ■
Susanne Schwab, susanne.schwab@konradin.de
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