In Deutschland nutzen 69,5 % der Bevölkerung das Internet als Informationsquelle. Viele Menschen, die so genannten Gesundheitssurfer, suchen im Netz auch nach Informationen rund um das Thema Gesundheit. Sie wollen den am besten bewerteten Arzt finden oder sich unter Gleichgesinnten austauschen – auch zu Problemen mit Medizinprodukten.
So findet jedes Thema, das für eine bestimmte Anzahl an Menschen von Interesse ist, seine Entsprechung im Internet in Form einer Online-Community. Neben zahlreichen Automobil-, Kosmetik-, Koch- oder Reise-Foren gibt es eine Vielzahl an Medizin-Foren, die sich beispielsweise an Prothesenträger, Schlafapnoe-Patienten oder Diabetiker richten. Innerhalb eines Forums tauschen sich die Mitglieder über alle Themen aus, die aus ihrer Sicht diskussionswürdig sind.
Für die Community gedacht, aber für Unternehmen nutzbar
Im Zuge dieses gegenseitigen Austausches entsteht in kürzester Zeit eine beachtliche Menge an Text, der so genannte user-generated content (UGC). Die von den Mitgliedern eines Forums generierten Inhalte richten sich in erster Linie an andere Mitglieder der Online-Community. Sie sind jedoch auch für Unternehmen zugänglich und von wachsender Bedeutung.
UGC aus Social Media ist als Informationsquelle zu verstehen, die Unternehmen nutzen können, um sich einen Eindruck drüber zu verschaffen, welche Qualität eine von ihnen auf den Markt gebrachte Leistung hat. Oder zu sehen, wie deren Funktionstauglichkeit bewertet wird und ob sie dem intendierten Verwendungszweck entspricht. Daneben enthält UGC aus Social Media Informationen über die Person des Verfassers, seine Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Interessen. Wussten Sie zum Beispiel, dass ein Großteil der Diabetes-Patienten Segelsport betreibt?
Kritik, Wünsche und Impulse für die Medizintechnik
Diese und ähnliche Informationen können in den unterschiedlichsten Unternehmensbereichen nützlich sein. Explizit geäußerte Kritik, beiläufig artikulierte Wünsche oder Verbesserungsvorschläge liefern Impulse für die Produktentwicklung und das Innovationsmanagement. Häufig genannte Defekte und Ausfälle können in das Beschwerde- und Qualitätsmanagement integriert werden. Insbesondere in der Rolle eines Frühwarnsystems kommt dem UGC aus Social Media dabei eine wichtige Rolle zu.
Auf der Suche nach einer schnellen und unkomplizierten Problemlösung schildern Anwender ihre Probleme zunächst online. Je nach Schweregrad und Dringlichkeit des Problems richten sich die Betroffenen in einem zweiten Schritt – später oder auch erst sehr viel später – an das Unternehmen. Die Verzögerung zwischen informellem Post und offiziellem Beschwerdeeingang beträgt unter Umständen mehrere Monate, was negative Folgen sowohl für die betroffenen Anwender als auch für das Unternehmen haben kann.
Qualitätsmanagement anhand von UGC ist noch die Ausnahme
Ungeachtet der Vorteile nutzen bisher aber nur wenige Unternehmen UGC aus Social Media als Informationsquelle für das Produktmanagement und die Qualitätssicherung. Insbesondere im Bereich der Medizintechnik werden, wie eine Umfrage des BVMed ergab, Social Media vor allem als Kanal zur Unternehmenskommunikation und Imagepflege sowie als Recruiting Instrument eingesetzt. Gründe dafür, dass Social Media vor allem als zusätzliche Werbeplattform genutzt wird, sind unter anderem der Mangel an Ressourcen, aber auch fehlendes Know-How im Bereich Social Media Analyse. Darüber hinaus existieren nach wie vor Zweifel in Bezug auf die Repräsentativität der Zielgruppe im Netz.
Gesundheitssurfer liefern Infos für das Qualitätsmanagement
Dabei sind die eingangs genannten Gesundheitssurfer im Internet besonders aktiv. Die als Stichprobe in ein Analysetool eingegebene Suchanfrage „insulinpumpe + erfahrungen“ lieferte am 27.09.2017 84 200 Ergebnisse, einen Tag später lag die Anzahl der Treffer bereits bei 84 300. Die Suchanfrage „insulinpumpe + problem“ lieferte zum gleichen Zeitpunkt 231 000 Ergebnisse. Diese können durch die Eingrenzung des Sprach- oder Zeitraums konkretisiert werden, aber auch durch das Hinzufügen weiterer Suchbegriffe – zum Beispiel den Namen des eigenen Produkts oder dem des Wettbewerbers.
Um aus der Menge an UGC aus Social Media relevante Informationen abzuleiten, existieren verschiedene Analyseverfahren, die entweder durch das Unternehmen selbst oder externe Dienstleister genutzt werden können. Die Extraktion und Analyse von UGC aus Social Media ist nicht trivial. Dem klassischen Six-Sigma-Ansatz folgend, sollte in einem damit betrauten Projektteam sowohl methodische Kompetenz als auch produktspezifisches Wissen vertreten sein.
Welches Analyseverfahren verwendet wird, richtet sich nach der zu beantwortenden Frage. Mithilfe einer Häufigkeitsanalyse kann beispielsweise ein erster Eindruck über die meist diskutierten Themen im Netz gewonnen werden. Fällt dabei auf, dass die Worte „Glucosesensor“ und „Katheterschlauch“ wiederholt auftreten, kann in einem nächsten Schritt anhand der Verteilung der Begriffe analysiert werden, was es damit auf sich hat. Denn mit der Verteilungsanalyse wird der Kontext ermittelt, innerhalb dessen bestimmte Worte miteinander auftreten. Typische Kombinationen sind dann vielleicht Wortpaare wie „Glucosesensor defekt“ und „Katheterschlauch Luftblase“. Aus der Übereinstimmung der Verteilungen, also dem gleichzeitigen Auftreten beider Begriffe innerhalb eines Textes, lässt sich schlussfolgern, das der Glucosesensor defekt ist und es im Katheterschlauch zur Luftblasenbildung kommt.
Erstens Wissen sammeln,
zweitens Wissen anwenden
Diese und weitere auf Basis von UGC aus Social Media generierten Ergebnisse liefern Unternehmen erste Anhaltspunkte dafür, wie der Anwender die Qualität eines im Markt erhältlichen Produktes oder einer Leistung wahrnimmt. Doch es ist nicht genug, das zu wissen, man muss das Wissen auch anwenden.
Im Rahmen der Qualitätssicherung können im Falle von auftretenden Problemen Sofortmaßnahmen eingeleitet werden. Diese sollen den Anwendern helfen und das Risiko senken, den guten Ruf zu verlieren. Anhand des UGC aus Social Media identifizierte Defekte und Ausfälle können auch verwendet werden, um Regelkarten zu erstellen, die bei der Durchführung einer FMEA oder im Rahmen eines Design of Experiment (DoE) genutzt werden.
Informationen, die Rückschlüsse auf die Person des Verfassers zulassen, können im Rahmen des kundenorientierten Produktmanagements verwendet werden – mit dem Ziel, im Rahmen eines Quality-Function-Deployment (QFD) Produkten zu entwickeln, die den Kundenanforderungen möglichst genau entsprechen. Auch lassen sich anhand der Daten so genannte Personas erstellen, Prototypen für eine Gruppe von Nutzern, die bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben und das Internet in ähnlicher Weise nutzen. Auch Rückschlüsse auf die Informationen und Quellen, die die Anwender nutzen, bevor sie sich für ein Produkt entscheiden, können gesammelt werden, so dass sich daraus ein der Customer Journey bis zum möglichen Kauf des Produktes ergibt. Auch in Hinblick auf Fragen der Produktsicherheit ist UGC aus Social Media nützlich: Daraus lassen sich Informationen ableiten, wie der vernünftigerweise vorhersehbare Produktgebrauch in der Realität aussieht, was wiederum als Input für konstruktive Gegenmaßnahmen zu nutzen ist.
Aktuelle Hinweise für das Qualitätsmanagement
Was aber bringt Unternehmen dazu, die UCG aus Social Media als zusätzliche Informationsquelle für das Produktmanagement und die Qualitätssicherung zu nutzen? Das sind vor allem die Aktualität, Authentizität und Bandbreite der Informationen und die Einsatzszenarien, die sich daraus ergeben. Neben der zeitlichen Komponente spielt aus Unternehmenssicht vor allem der unmittelbare Zugang zum Kunden eine große Rolle. Anders als kostspielige Fragebögen, langwierige Interviews oder aufwendige Produktkliniken spiegelt UGC aus Social Media genau die Inhalte wider, die aus der Sicht des Kunden wichtig sind. Was wann warum Thema wird, entscheidet der Kunde im Netz selbst. Der Glucosesensor ist defekt. Jetzt.