Wie lang ist der Weg zu einem Medizinprodukt, das vollständig aus biobasierten Werkstoffen besteht und sogar einen negativen CO2-Fußabdruck aufweist? Unter Umständen recht kurz, wie ein Beispiel zeigt. Im Januar 2024 nahm der Geschäftsführer eines Start-ups Kontakt mit einer Münchner Forschergruppe auf – und konnte im Mai zur Fachmesse OT World bereits einen Demonstrator als Ergebnis präsentieren: eine Fußheber-Orthese, die aus Carbonfasern auf der Basis von Algenöl hergestellt wird. In ihren physikalischen und mechanischen Eigenschaften unterscheidet sie sich nicht von den im Markt befindlichen Orthesen auf Basis von Rohöl.
Premiere für die algenöl-basierte Orthese auf der OT World
Auf der Messe präsentiert hat das Projekt der Forschungspartner, Prof. Thomas Brück. Er leitet an der TU München (TUM) den Werner Siemens-Lehrstuhl für Synthetische Biotechnologie. Zu diesem gehört auch das 2015 gegründete Algentechnikum, in dem die Ausgangsstoffe für das Orthesenmaterial heranwuchsen.
Dass so ein Ansatz in der Branche noch ungewöhnlich ist, zeigte sich laut Brück an zahlreichen kritischen Fragen, die ihm auf der Messe gestellt wurden. Sie ließen sich aber fachlich fundiert beantworten, berichtet er. Und im Nachgang hätten sich eine Reihe von Interessenten gemeldet und denkbare Kooperationen ausgelotet.
Biobasierte Carbonfasern erfüllen Anforderungen gemäß Medical Grade Plastics
Was Brück und sein Team bieten, hat tatsächlich Potenzial für weitere Anwendungen aus der Medizintechnik. Die Anforderungen, die für Medical Grade Plastics gelten, ließen sich mit den biobasierten Carbonfasern bereits jetzt erfüllen, sagt er – auch wenn das Material sich noch im Prototypenstadium befindet.
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Der Prozess, der von der Alge zu den biobasierten Fasern führt, umfasst mehrere Schritte. Im Algentechnikum kultivieren die Wissenschaftler einzellige Grünalgen. Ist genug Biomasse herangewachsen, werden die Zellen durch Zentrifugation geerntet und mit Enzymen aufgeschlossen. Damit haben die Forscher Zugang zu Algenölen, die die Zellen unter den richtigen Kulturbedingungen produzieren – und aus diesen Ölen lassen sich Polymere herstellen.
Eine thermochemische Spaltung zerlegt das Öl zunächst in Glyzerin und freie Fettsäuren. Die Fettsäuren sind interessant als Kraftstoffe oder für die Verwendung in der Kosmetikindustrie. Das Glyzerin wiederum kann die Basis sein, um über Standardprozesse zum Monomer Acrylnitril zu kommen. Dessen Polymer Polyacrylnitril lässt sich, zu Fasern versponnen, im Bereich der Bekleidung nutzen. Durch Pyrolyse wiederum gelangt man vom Glyzerin zu biobasierten Carbonfasern.
Mit natürlichen Harzen zu Carbonfaser-Kompositen
Die Entwicklung der biobasierten Carbonfaser basiert auf dem Vorläufer-Projekt Green Carbon, das vom BMBF unterstützt wurde. Die SGL Carbon AG hatte hierbei die Aufgabe übernommen, das algenbasierte Acrylnitril zu Polyacrynitril und dann zur Carbonfaser umzuwandeln. „Wir haben bereits nachgewiesen, dass diese so genannten Algenöl-Carbonfasern in ihren Eigenschaften gleichwertig sind mit denen, die man bisher aus Rohöl herstellt“, berichtet Brück.
Kombiniert man die Algenöl-Carbonfasern mit natürlichen Harzen, kommt man zu – ebenfalls vollständig biobasierten – Carbonfaser-Kompositen, die auch für die Orthese im Einsatz waren.
Biobasierte Carbonfasern in der Medizintechnik: Spezialist für Exoskelette und Orthesen steigt ein
Was die Algenzellen an Rohmaterial herstellen, hat sich in industriellen Projekten bereits bewährt. Die Rede ist von Autositzen oder Bauteilen für Helikopter, die auf dieser Basis gefertigt wurden. Der erste Einsatz in der Medizintechnik-Branche kam nun auf Anregung von Prof. Heiko Seif zu Stande, CEO des auf Exoskelette und Orthesen spezialisierten Münchner Start-ups Elysium Industries GmbH. Das Unternehmen nutzte bereits Carbonfaser-Komposite für seine Produkte. „Das Ziel war hier nicht, etwas herzustellen, was in seinen Materialeigenschaften anders oder besser ist als herkömmliche Carbonfasern“, berichtet Brück. Der Antrieb für den Wechsel sei von Anfang an der geringere CO2-Fußabdruck gewesen.
Bis aber aus der biobasierten Carbonfaser der Orthesen-Demonstrator wurde, haben mehrere Partner ihr Wissen beigetragen. Die Gewebefertigung, das Gelege und das Curing der Orthese, die Elysium für technische Tests verwendete, erfolgten am SGL Lehrstuhl für Carbon Composite der TUM unter Leitung von Prof. Klaus Drechsler.
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Für die Medizintechnik generell geeignet
„Nun haben wir ein CO2-negatives Hochleistungsmaterial, das wir für Anwendungen in der Medizintechnik anbieten können“, fasst Brück zusammen. Interessenten aus der Branche können zum Konsortium hinzustoßen. „Nur für Anwendungen bei Orthesen muss klar sein, dass Elysium diesen Bereich vollständig abdeckt.“ Anwendungen über diese Thematik hinaus seien aber denkbar.
Um das Material auf den Markt zu bringen, müssen Industriepartner mit unterschiedlichen Kompetenzen gefunden werden. Landwirtschaftliches Know-how und geeignete Produktionsstätten mit hoher Lichteinstrahlung werden gebraucht, um die Algenmasse zu gewinnen. Das Wissen aus der Mineralölverarbeitung oder der Chemieindustrie ist erforderlich, um die Extraktion des Algenöls in großem Maßstab umzusetzen. Der Projekt-Partner SGL Carbon hat die richtigen Kompetenzen, um bei der industriellen Umsetzung eine tragende Rolle zu spielen. „Realistischerweise würde ich mit etwa drei Jahren rechnen, um das Projekt vom jetzigen Maßstab auf die Herstellung industriell nutzbarer Mengen hochzuskalieren“, schätzt Brück.
MDR: Materialwechsel zu biobasierten Carbonfasern sollte kein Problem sein
Die Werkstoffe seien grundsätzlich recycelbar. Ein Komposit sei zwar kein Monomaterial – aber das Schmelzen des Harzes erlaube eine Trennung in die Bestandteile Faser und Harz. Zu „schaltbaren“ Materialien, die eine Trennung auf einfacherem Weg ermöglichen könnten, laufen aktuell Forschungsarbeiten.
Für den Materialwechsel bei einem Medizinprodukt, das bereits mit Rohöl-basierten Carbonfasern zugelassen ist, sieht Brück mit Blick auf die Vorgaben der MDR keine Schwierigkeiten. Es lasse sich nachweisen, dass die biobasierten Carbonfasern äquivalent oder besser seien, sodass eine erneute Zertifizierung nicht erforderlich sei.
www.ch.nat.tum.de/wssb/team/
prof-dr-thomas-brueck/
www.sglcarbon.com
https://elysium-industries.com
(Bild: Prof. Dr. Thomas Brück/ Technische Universität München)
Wie man vom Pond zum Algenöl kommt
Im Algentechnikum der TUM kultivieren die Forscher eine einzellige Grünalge. Diese wächst in Salzwasser – was mehrere Vorteile hat. Zum einen treten die Vermehrungsanlagen damit nicht in Konkurrenz zum Wasserbedarf von Mensch und Landwirtschaft. Zum anderen sind offene Wasserflächen kein Problem. Denn: Vom Wind eingetragene Bakterien wachsen darin nicht. Das hält die Kosten für die Kultur niedrig.
Auch ist der höhere pH-Wer von Salzwasser günstig, da hier mehr CO2 als Bicarbonat im Wasser gelöst vorkommt. Dieses können Algen einfacher für die Photosynthese verwenden, so dass sie bis zu 97 % des Kohlendioxids binden.
Wie viel Öl die einzelligen Algen bilden,, hängt von den Kulturbedingungen ab. Bei Stickstoffmangel setzen die Zellen ihre Photosyntheseprodukte hauptsächlich zu Öl um, das weit mehr als 50 % ihrer Biomasse ausmachen kann.
Algenkulturen: Schneller zum Öl als bei Raps – und mit höherer Ausbeute
Das Öl von Algen erzeugen zu lassen, ist interessant: Im Vergleich zu terrestrischen Pflanzen wie Raps wachsen die Algen etwa zehn Mal schneller. Auch bei der Ölerzeugung schneiden sie besser ab. Rechnet man die geerntete Menge auf einen Hektar um, so ist der Ertrag um den Faktor 13 größer als beim Raps. Zur Ausbeute: Um am Ende 1 kg Carbonfasern zu erhalten, sind etwa 50 kg Algen-Trockenmasse erforderlich.
Selbst wenn in einzelnen Kulturen nicht immer die gleichen Wachstumsraten oder Ausbeuten zu erzielen sind, beeinflusst das nicht die Qualität der erzeugten Materialien. Deren Ausgangsstoff ist immer das Algenöl, dessen Eigenschaften gleich bleiben.
Die derzeit größte Anlage im Algentechnikum ist ein Kaskaden-Pond mit 500 l Fassungsvermögen. Die Algen wachsen darin in wenige Zentimeter hohen Becken. Damit lassen sich laut Brück bereits technisch relevante Daten erheben, die für eine Hochskalierung nützlich sind.
Dort werden zum Beispiel verschiedene Kulturbedingungen getestet. Derzeit entsprechen die verwendeten Temperaturen, Lichteinstrahlung und Luftfeuchte den Werten, die man im spanischen Almeria findet. Eine Algenvermehrung in südlicheren Gegenden als München wäre, so Institutsleiter Brück, in jedem Fall sinnvoll. Fruchtbares Land müsste dafür nicht vorhanden sein: Die Anlagen lassen sich auch auf sonst nicht nutzbaren Flächen errichten.