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Zwei Fliegen mit einer Klappe

Kunststoffe: Bestrahlung optimiert die Materialeigenschaften und sterilisiert die Teile
Zwei Fliegen mit einer Klappe

Für die Hersteller von Medizinprodukten ist es ein glücklicher Umstand: Energiereiche Bestrahlung optimiert nicht nur die Werkstoffeigenschaften von Kunststoffen, sondern wirkt zugleich sterilisierend, zum Beispiel bei Hüftprothesen oder Wundauflagen.

Das Sterilisieren mit Strahlen hat sich als umweltfreundliche Alternative zu anderen Verfahren etabliert: Es erlaubt das zuverlässige Entkeimen von Teilen auch mit komplizierten geometrischen Strukturen in ihrer Endverpackung. Sowohl Gamma- als auch Betastrahlen eignen sich zur Sterilisation. Der hauptsächliche Unterschied beider Strahlenarten besteht in ihrer Durchdringungsfähigkeit und in der Dosisleistung. Anlagen mit Elektronenbeschleunigern arbeiten mit hohen Dosisleistungen, aber dennoch mit einer beschränkten, energieabhängigen Eindringtiefe. Gammastrahlen hingegen besitzen eine hohe Durchdringungsfähigkeit bei einer relativ geringen Dosisleistung.

Bereits seit Jahrzehnten werden Kunststoffe durch Strahlenvernetzung in ihren Materialeigenschaften optimiert. Diesen Vernetzungsvorgang steuern energiereiche Elektronen- oder Gammastrahlen sehr präzise. Das Material absorbiert die zugeführte Energie. Die dabei entstehenden Radikale reagieren in einer weiteren chemischen Reaktion miteinander und stellen zusätzliche Verbindungen her – die „links“. Auf diese Weise werden zahlreiche Materialeigenschaften des Kunststoffes verbessert, vor allem aber die thermische Belastbarkeit. In vielen Fällen können strahlenvernetzte technische Kunststoffe teure und aufwändig zu verarbeitende Hochleistungskunststoffe ersetzen. Allerdings sind für diesen Prozess meist höhere Strahlungsdosen notwendig als bei der Sterilisation.
Für Hersteller von Medizinprodukten ist es ein willkommener Umstand, dass die Strahlendosen zur Material-Optimierung zugleich eine gesetzeskonforme und den internationalen Normen entsprechende Sterilisierung der Produkte bewirken. Werden Kunststoffteile in der Medizintechnik verwendet, können diese somit nicht nur gezielt in ihren Materialeigenschaften optimiert, sondern im selben Arbeitsgang auch sterilisiert werden. Strahlenbehandelte Produkte erhalten gemäß DIN EN 980 das Kennzeichen „Sterile R“.
EVA-Copolymerisate beispielsweise lassen sich hervorragend strahlenvernetzen: Ein klassisches Anwendungsbeispiel aus der Industrie sind Faltenbalgverschlüsse für Flaschen und Kanister. Gespritzte Formteile für medizinische Anwendungen werden in umfangreicherem Maße durch Bestrahlung gleichzeitig vernetzt und sterilisiert. Schläuche aus EVA für medizintechnische Apparate beispielsweise erhalten eine Bestrahlung, damit sie den Sterilisationsverfahren mit Heißdampf standhalten, die sich an den Geräteeinsatz anschließen.
Auch bei der Herstellung von Hydrogel-Wundauflagen spielt Bestrahlung eine wesentliche Rolle und verbessert entscheidend die Wasseraufnahmefähigkeit. Hydrogele auf der Basis von Vinylpolymeren sind die wirksame Substanz in einer Fülle unterschiedlicher Produkte zur Wundversorgung. Sie halten das Wundmilieu feucht, nehmen im Austausch Wundexsudat auf und beschleunigen so die Wundreinigung.
Dr. Christian Mohrschladt ist für die Forschung und Entwicklung sowie die Produktion von Wundauflagen bei der Medi-Globe GmbH in Achenmühle bei Schweinfurt verantwortlich. „Die Bestrahlung mit Elektronen ist für uns die Sterilisationsmethode der Wahl“, sagt der Betriebsleiter. „Denn unser Produkt GLYCOcell eignet sich aufgrund der Materialeigenschaften und der gasdichten Sterilverpackung nicht für andere Verfahren wie EO-Gas.“ Zudem sei die Methode sehr schnell. „Man kann das fertig eingepackte Produkt direkt nach der Sterilisation verwenden“, erläutert Mohrschladt die Vorteile.
Hüftgelenk-Prothesen werden meist in einer Werkstoffkombination aus Edelstahl und UHMW PE (ultrahochmolekulares Polyethylen) gefertigt. Oft zeigt die Gelenkpfanne aus Kunststoff einen unerwünscht hohen Verschleiß. In manchen Fällen macht er eine zweite Operation mit allen Kosten und Nebenwirkungen zum Implantieren einer neuen Prothese notwendig.
Weil Hüftprothesen mit energiereichen Strahlen sterilisiert werden, entdeckten die Fachleute bald, dass die Strahlenenergie auch die Materialeigenschaften des Kunststoffes verändert. Sehr erwünscht ist dabei die erhöhte Abriebfestigkeit, unerwünscht hingegen ist die Verschlechterung anderer Materialeigenschaften wie E-Modul, Streckgrenze, Bruchfestigkeit und Härte. Beide Effekte hängen stark von der Intensität der Bestrahlung ab und sind leider gegenläufig.
Doch der Bestrahlungsdienstleister Beta-Gamma-Service GmbH & Co. KG in Wiehl hat eine Lösung gefunden. „Wir arbeiten mit Elektronenstrahlen, bei denen wir im Gegensatz zu den Gammastrahlen die Eindringtiefe sehr präzise steuern können“, erklärt Joachim Gehring, Leiter der Anwendungstechnik bei BGS. „Es liegt also nahe, im Falle der Prothesen die Oberfläche einer Bestrahlung mit geringer Eindringtiefe auszusetzen und sie damit sehr abriebfest zu machen.“ Das Material darunter behalte seine ursprünglichen Eigenschaften bei. „Auch hier werden die Kunststoffteile mit der Vernetzung gleichzeitig sterilisiert.“
Bestrahlung prägt die Eigenschaften moderner Werkstoffe
Kein Wunder also, dass in der Rezeptur moderner Werkstoffe immer öfter eine entscheidende Komponente auftaucht, die bei nur wenigen Spezialisten erhältlich ist – die Komponente Energie, zugeführt durch Strahlung. In der Industrie kommen Beta- und Gammastrahlen und in Zukunft auch X-Rays (Röntgenbremsstrahlung) zum Einsatz. Da die entsprechenden Anlagen einen hohen Investitions- und Erhaltungsaufwand erfordern, decken viele Industriebetriebe ihren Bedarf bei unabhängigen Dienstleistern.
BGS Beta-Gamma-Service agiert europaweit und ist an drei Standorten in Deutschland vertreten. Derzeit sind eine Gamma-Anlage und sieben Elektronenbeschleuniger in Betrieb. Ein weiterer Elektronenbeschleuniger befindet sich in Bau.
Mit den Bestrahlungsdiensten übernimmt das Unternehmen die Verantwortung für die letzten Prozessschritte der Herstellung und Lieferung: Haben die Produkte den Herstellbetrieb verlassen, sorgt BGS dafür, dass sie bestrahlt und zertifiziert in der geeigneten Form den Endabnehmer erreichen. Die Bestrahlung erfolgt quasi auf dem Weg zum Auftraggeber.
Joachim Tatje Fachjournalist in Bruchsal

Ihr Stichwort
  • Beta- und Gammastrahlen, X-Rays
  • Strahlenvernetzung
  • Wasseraufnahmefähigkeit
  • Temperaturbeständigkeit
  • Abriebfestigkeit

  • Sterilisation

    547270

    Die Strahlendosis, die zum Optimieren von Kunststoffmaterialien nötig ist, bewirkt zugleich eine gesetzeskonforme und den internationalen Normen entsprechende Sterilisierung der Produkte. Kunststoffteile in der Medizintechnik können somit nicht nur in ihren Materialeigenschaften gezielt optimiert, sondern im selben Arbeitsgang auch sterilisiert werden. Strahlenbehandelte Produkte erhalten gemäß DIN EN 980 die Kennzeichnung „Sterile R“.
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