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Wissen, wie das Gewebe reagiert

FEM-Simulation: Patienten-individuelle Daten für den Mediziner
Wissen, wie das Gewebe reagiert

Holz, Metall oder Beton reagieren sicher sehr anders als menschliches Gewebe. Dennoch nützt die ursprünglich für eher starres Material entwickelte Finite-Elemente-Simulation nicht nur Ingenieuren. Sie liefert neuerdings auch Medizinern wichtige Anhaltspunkte für ihre Arbeit.

Den ersten Sprung von den Ingenieurwissenschaften in die Medizin – speziell zu den medizintechnischen Produkten – hat die Simulation mit der Finite-Elemente-Methode (FEM) bereits hinter sich. Die aktuelle Herausforderung für diese Technologie sind allerdings patientenspezifische Anwendungen bei Gelenkprothesen oder in der Zahnmedizin, in der Orthopädietechnik oder gar der plastischen Chirurgie. Der interessanteste Aspekt hierbei ist, das Zusammenspiel von externem Material wie Implantaten oder Stents und menschlichem Gewebe wie Knochen und Gefäßen so realitätsnah und genau wiederzugeben, dass Mediziner sich bei ihren Entscheidungen davon leiten lassen können.

Patienten-individuelle Geometrien für Implantate herzustellen, ist auf der Basis bildgebender Verfahren wie der CT oder der MRT heute schon möglich. Mit FEM-Software lässt sich hier zum Beispiel die Festigkeit des externen Materials berechnen. Experten berücksichtigen sogar die realistischen Kräfte, die im Körper wirken. Das erleichtert eine biomechanisch günstige Planung von Implantaten, obwohl viele Faktoren wie die Position im Körper, die Größe des Implantates und insbesondere die wirkenden Kräfte von Patient zu Patient stark variieren.
Patienten-individuelle Simulationen auf Basis der Finite-Elemente-Methode (FEM) helfen dem Arzt auch, wenn er schon vor der Operation am Computer verschiedene Szenarien durchspielen kann, um die Risiken nach oder während eines Eingriffes zu minimieren. Aber auch weit ab vom OP-Tisch hat die Simulation schon ihre ersten Einsatzfelder. Um zur passenden orthopädischen Prothese für einen bestimmten Amputationsstumpf zu kommen, werden heute negative Abdrücke genommen, aus denen mit viel Handarbeit ein Positivmodell erstellt wird. Wie gut und schnell das gelingt, hängt zum großen Teil von der Erfahrung des Orthopädietechnikers ab. Drei bis vier Probeschäfte, verbunden mit jeweils etwa acht Stunden Arbeit, sind typisch, bis die korrekte Schaftform erreicht ist. Mit einer patienten-individuellen Simulation wäre es möglich, die komplexen Vorgänge der Gewebeveränderung während der Anprobe des Schaftes zu simulieren. Dann könnte man Rückschlüsse auf den Sitz der Prothese ziehen und im Optimalfall sogar auf die zeit- und kostenaufwendige Produktion der Testschäfte verzichten.
Ein weiteres FEM-Anwendungsgebiet im medizinischen Umfeld ist die patienten-individuelle Simulation von abdominalen Aneurysmen. Das abdominale Aorten-Aneurysma (AAA) ist eine gefährliche Ausbuchtung der Hauptschlagader im Bauchraum, bei der sich im Inneren der Ausbuchtung ein Thrombus aus geronnenem Blut bildet. Bricht oder reißt das Gewebe, besteht Lebensgefahr durch innerliches Verbluten. Wie sich die Wandspannungen am Gefäß verändern, kann man allerdings prinzipiell auch mit Hilfe von FEM-Simulationen berechnen und daraus Hinweise über die Rupturwahrscheinlichkeit erhalten. Aus technischer Sicht ist das schon heute möglich. Für einen Einsatz in der klinischen Praxis müssen jedoch noch Details zu den mechanischen Eigenschaften der Gefäßwand geklärt werden.
Dass selbst Zahnärzte ohne spezielle FEM-Kenntnisse die Technologie nutzen können, hat das Forschungsprojekt Serv.biz gezeigt. Den kompliziertesten Teil der Sache – das Erstellen der erforderlichen FEM-Modelle, für das Know-how und verschiedene Software-Tools notwendig sind – haben die Projektpartner hierfür automatisiert. Bei dieser Zusammenarbeit von Mitarbeitern des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO) und der Cadfem GmbH aus Grafing bei München ist eine Simulationsumgebung für den Dentalbereich entstanden, mit der ein Implantologe vor einer Operation am Computer arbeitet. Dort kann er verschiedene Implantate hinsichtlich Durchmesser oder Länge vergleichen und die biomechanisch beste Variante für seinen Patienten auswählen.
Ein weiterer Forschungspartner des bayrischen FEM-Anbieters ist die Forschungsgruppe CAPS (Computer Aided Plastic Surgery) unter der Leitung von PD Dr. med. Laszlo Kovacs an der TU München. Die Wissenschaftler dort suchen gezielt nach medizinischen Fragestellungen, bei denen die FEM-Simulation dem Arzt einen Mehrwert bieten kann. Dazu zählen auch innovative Technologien, mit denen sich menschliche Körperoberflächen und Weichteilgewebe dreidimensional erfassen, digitalisieren und visualisieren lassen.
So werden an der TU München 3D-Rekonstruktionen von anatomischen Volumenmodellen unterschiedlicher Körperregionen erstellt, ausgehend von radiologischen Bilddatensätzen. Zusammen mit biomechanischen Gewebeparametern lassen sich dann Gewebedeformierungen physikalisch präzise simulieren. Mit solchen deformierbaren FEM-Modellen können biomechanische Interaktionen vorab dargestellt werden, die sogar die spezifischen Eigenschaften verschiedener Gewebe berücksichtigen.
Dabei werden physikalische Gewebeparameter wie Elastizitäts- und Elongationswerte erkennbar, die für die numerische Simulation notwendig sind. Das dient beispielsweise in der plastischen Chirurgie dazu, vor einer Operation an der weiblichen Brust abzuschätzen, wie das Resultat sein wird.
Diese Beispiele beschreiben den Stand der Technik, also die Anfänge der patienten-individuellen FEM-Simulation. Die jeweiligen Ergebnisse für den Einzelfall auszuwerten und zu interpretieren, setzt in jedem Fall einen hohen technischen Sachverstand voraus. Wie im Ingenieurwesen, gilt auch für den Einsatz in der Medizin, dass die Ergebnisse der FEM-Simulation letztlich immer nur Hinweise zu bestimmten Sachverhalten liefern. Die Entscheidung über weitere Schritte in der Behandlung und damit auch die Verantwortung dafür verbleiben nach wie vor beim behandelnden Arzt.
Christoph Müller Cadfem, Grafing bei München
Weitere Informationen Mit dem Geschäftsbereich Medical macht Cadfem die Methoden der rechnerischen Simulation für die Medizin nutzbar und kooperiert mit Forschungseinrichtungen. Ein kostenloser Informationstag über patienten-individuelle Simulation auf Basis der Finite-Elemente-Methode (FEM) bei prothetischen Anwendungen findet am 12. Mai in Leinfelden-Echterdingen statt. Mehr unter www.cadfem.de/prothetik
Spezifische Eigenschaften verschiedener Gewebe berücksichtigen

Was ist FEM?
Physikalische Zusammenhänge lassen sich mit Gleichungen beschreiben. Die Zusammenhänge in praktischen Anwendungen sind aber oft so komplex, dass sie sich mathematisch kaum so analysieren lassen, dass man zu nutzbaren Rückschlüssen käme. Die Finite Elemente Methode (FEM) ist eines unter mehreren numerischen Verfahren, die dennoch eine Näherung an die tatsächlichen Bedingungen ermöglichen. FEM funktioniert, indem die relevanten Gleichungen gebietsweise (für einzelne Elemente) gewählt und physikalische Größen an den Verbindungsstellen (Knoten) als freie Parameter genutzt werden. Das können zum Beispiel Verschiebungen, unterschiedliche Temperaturen oder magnetische Potentiale sein. Damit ergibt die FEM-Simulation einen Gesamteindruck, der der Wahrheit möglichst nahe kommt.

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