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Sanfter Zug schützt die Rippen vor Verletzungen

Antriebstechnik: Geschlossener Regelkreis im Rippenspreizer reagiert auf Signale der Knochen
Sanfter Zug schützt die Rippen vor Verletzungen

Ein US-Hochtechnologieunternehmen hat einen automatischen Rippenspreizer entwickelt, der post-operative Schmerzen reduziert und die Regeneration verbessert. Drehmomentstarke Motoren ermöglichen einen ruckfreien Bewegungsablauf.

Auch wenn man es kaum glauben mag: Einige der heute in der invasiven Chirurgie verwendeten Werkzeuge wurden in den 1930er Jahren entwickelt und seither kaum verbessert. In den meisten Fällen sind diese Werkzeuge immer noch für ihre Zwecke tauglich, auch wenn die Genesung langwierig ist. Dies gilt besonders für Eingriffe im Brustkorb, wie Herz- oder Lungenoperationen.

Für solche Operationen gibt es derzeit vor allem zwei Methoden, den Brustkorb so weit zu öffnen, dass ein Arzt darin arbeiten kann: die Thorakotomie, also den Schnitt im Rippenzwischenraum, und die Sternotomie, die Längsdurchtrennung des Brustbeins. Bei einer Thorakotomie erfolgt der Zugang mittels eines Schnitts zwischen zwei Rippen. Bei einer Sternotomie sägt der Chirurg längs durch das Brustbein, um den Brustkorb zu öffnen. In beiden Fällen spreizt der Chirurg die Rippen oder die beiden Teile des Brustbeins mittels Winde mit Handkurbel und Sperrklinke, dem so genannten Spreizer.
Das Spreizen von Rippen erfordert jedoch hohe Kräfte. Das Entwicklungsteam des US-Unternehmens Physcient aus Durham, North Carolina, hat herausgefunden, dass die erforderliche Kraft in etwa dem Gewicht des Patienten entspricht. Dies bedeutet, dass die Anwendung eines Spreizers mit Knochenbrüchen, eingeklemmten Nerven, überdehnten Gelenken und Bänderrissen einhergehen kann. Das wiederum kann zu dauerhaften post-operativen Schäden führen.
Gelegenheit zu solchen unerwünschten Effekten gibt es wegen der antiquierten Konstruktion heutiger Rippenspreizer und der schieren Anzahl der durchgeführten Operationen reichlich: Laut dem „National Heart, Lung, and Blood Institute“ werden allein in den USA jährlich über eine halbe Million Herzoperationen durchgeführt. Wenn man noch hunderttausend Lungeneingriffe hinzurechnet, wird der Bedarf an besseren Instrumenten schnell offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee für ein neues Hilfsmittel, den so genannten Assuage Smart Retractor. Er sollte die beim Spreizen des Thorax entstehenden Schäden erheblich reduzieren. Umgesetzt wurde dieser Ansatz von Chuck Pell und Hugh Crenshaw, zwei Biomechanik-Experten, die das Unternehmen Physcient gegründet haben. „Wir versuchen, unser Wissen über die Bewegungsweise von Lebewesen in Technologie zu übertragen“, sagt Chuck Pell. Seit kurzem beschäftigen sich die beiden Gründer und ihre Mitarbeiter mit chirurgischen Instrumenten, was laut Pell „ein sehr interessantes Feld“ ist. Denn viele der heute verwendeten Werkzeuge seien erfunden worden, bevor die Biomechanik eine ausgereifte Wissenschaft war. Crenshaw und Pell erkannten, dass die von Rippenspreizern aufgebrachten Kräfte kaum erforscht waren und stellten ein Team zusammen, um die Wirkungen zu messen und Technologien zur Reduzierung der Schäden zu entwickeln.
Knochen sind an sich flexibel, und man kann sie ziemlich weit biegen, bevor sie brechen. Ob das gelingt, ist aber von der Geschwindigkeit abhängig, denn die Knochenfasern brauchen Zeit, um sich zu dehnen. Wird eine Rippe ruckartig gebogen – wie es bei einem Spreizer mit Handkurbel häufig vorkommt –, kann sie brechen.
Ob die Knochen ausreichend Gelegenheit zum Dehnen hatten, ist dank eingebauter Sensoren im automatischen Assuage-Rippenspreizer einfacher zu erkennen: Die Sensoren melden, wenn die Fasern instabil werden. Diese Information wird zum Werkzeug zurückgesendet, so dass es sofort auf Vorfälle im Gewebe reagieren kann. Das setzt voraus, dass es einen geschlossenen Feedback-Regelkreis zwischen Sensor und Motor gibt, der sehr genau und absolut zuverlässig arbeitet – sonst könnte er in medizinischen Geräten nicht benutzt werden.
Seinen ersten Prototypen hat Physcient auf Basis eines Motors der Schweizer Maxon Motor AG in Sachseln konstruiert. Eine der wichtigeren Spezifikationen für den Motor war, dass er auch bei niedrigen Drehzahlen frei von Rastmomenten sein musste. Der Rippenspreizer muss sich schließlich sanft und ruckfrei bewegen, um die Belastung des Patienten auf ein Minimum zu reduzieren. Die in dieser Anwendung eingesetzten bürstenlosen Gleichstrommotoren werden einfach mit einer Batterie betrieben. Eine eingebaute Steuerung mit Sensorsystem hilft, den Spreizvorgang genau zu kontrollieren.
Um die hohen Kräfte bewältigen zu können, entschieden sich die Entwickler bei Physcient für drehmomentstarke Motoren. „Die Motoren, die wir von Maxon beziehen, müssen nicht nur die höchsten in der Medizingeschichte jemals gemessenen Spreizkräfte bewältigen, sie müssen dabei auch sehr präzise arbeiten, um die Beschädigung von Bändern und weichem Gewebe zu minimieren“, erklärt Pell. Und es gab zwei wichtige Probleme, die gelöst werden mussten. „Zum einen durfte unser Spreizer nicht grösser als die derzeit in OP-Sälen verwendeten Geräte sein. Zum anderen mussten wir ihn sehr häufig sterilisieren können.“
Das Physcient-Team konstruierte einen Prototypen mit zwei Reihen gekrümmter Metallzinken, die jeweils eine Rippe umschließen. Während der Spreizer die Rippen automatisch auseinanderzieht, wird der Motor mit Hilfe der Sensorsignale so geregelt, dass ein sanfter Öffnungsvorgang gewährleistet ist. Wie gut der Assuage Smart Retractor die Physik von Knochen und Gewebe berücksichtigt, wurde – wie bei den meisten Forschungsprojekten im Bereich der Kardiothorax-Chirurgie – in ersten Versuchen an biologischem Material aus Schweinen getestet. Deren Biomechanik ist der des Menschen recht ähnlich.
In den Experimenten konnte das neue Spreizgerät Gewebetrauma und Schmerzen erheblich reduzieren. Die Atmung wurde ebenfalls erleichtert, und die Genesung verlief auch schneller. Die Markteinführung des Assuage Smart Retractor ist für 2013 geplant. Sobald die Produktion angelaufen ist, wird sich das Entwicklungsteam weitere medizinische Geräte vornehmen, die seit Langem nicht verbessert worden sind: Geplant ist, die gesamten OP-Tools der Chirurgen zu automatisieren und zu verbessern.
  • Debora Setters Maxon Precision Motors, Sachseln
  • Anja Schütz Maxon Motor, Sachseln
Stark, präzise, klein – und dann auch noch sterlisierbar

Über den Motor- Hersteller
Maxon Motor produziert eine große Bandbreite von Motoren mit Durchmessern von 6 mm bis 90 mm für verschiedenste Anwendungen. Durch elektronische Kommutierung werden elektromagnetische Störungen minimiert. Die bürstenlosen Gleichstrommotoren haben keine mechanischen Bürsten, die verschleißen könnten, wodurch eine sehr hohe Lebensdauer gewährleistet ist. Darüber hinaus wird durch hochwertige, vorgespannte Kugellager die Lebensdauer der Motoren noch weiter erhöht. www.maxonmotor.ch

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