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Auf einen Blick im Bilde

Virtuelle Realität: Simulationsergebnisse schnell erfasst
Auf einen Blick im Bilde

Wer Stents oder Anti-Dekubitus-Systeme biomechanisch optimieren will, sollte deren Verhalten unter Belastung kennen und simulieren können – einschließlich des umliegenden Weichgewebes. Mit der Virtuellen Realität (VR) lassen sich die Simulationsergebnisse schneller und intuitiver verstehen.

„Viele Forscher beschäftigen sich mit Knochen, aber nur wenige mit Weichgeweben“, berichtet Prof. Gerhard Silber vom Institut für Materialwissenschaften (IfM) der Fachhochschule Frankfurt am Main. Schwierig sei es, die Materialeigenschaften zu erfassen, denn die müsse man überwiegend an lebenden Menschen bestimmen. „Ohne aber etwa die Elastizität von Weichgewebe zu kennen, macht es keinen Sinn, eine Simulationsrechnung anzustoßen.“ Genau aber das wollen die Wissenschaftler, die sich im CBME, dem Center of Biomedical Engineering zusammengeschlossen haben, dessen Stellvertretender geschäftsführender Leiter Silber ist. „Ursprünglich ging es uns darum, zu berechnen, wann ein Aneurysma operiert werden muss und wann nicht.“ Denn die bis heute gängige Methode, dies vor allem aufgrund dessen Durchmessers zu entscheiden, sei einfach zu ungenau. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Auslegung von Liegen und Sitzen, mit denen sich ein Wundliegegeschwür (Dekubitus) vermeiden lässt. „Wenn wir die auftretenden Spannungen sowohl im Weichgewebe des Menschen an der Kontaktfläche als auch im Sitz- oder Liegesystem berechnen und berücksichtigen, können wir diese besser biomechanisch optimieren.“

Um die Ergebnisse solcher Simulationsrechnungen in dem interdisziplinären Team leichter und schneller beurteilen zu können, nutzen die hessischen Forscher das Know-how der Stuttgarter Visenso GmbH, die sich mit der Technologie der Virtuellen Realität (VR) beschäftigt. Kräfte und Spannungen, die üblicherweise zweidimensional über verschiedene Farben visualisiert werden, lassen sich so in einem dreidimensionalen digitalen Modell betrachten. „Vor allem aber können Sie in die Struktur hineinblicken und beispielsweise ein Gefäß von innen betrachten und analysieren“, erläutert Martin Zimmermann, Geschäftsführer und Gründer von Visenso.
Interaktiv in ein Modell hineinwandern zu können, überzeugt auch das Team um Gerhard Silber. „Nun sehen wir im Dreidimensionalen im Handumdrehen, an welchen Stellen besonders hohe Spannungen auftreten – und wir können entsprechend reagieren.“ Will heißen: Jetzt lässt sich eine Liege so auslegen, dass möglichst keine Druckspitzen auftreten – das Risiko eines Dekubitus minimal bleibt. Über die Simulation des Verhaltens des menschlichen Weichgewebes erhalten also die Konstrukteure von Krankenhausbetten oder Rollstühlen die Chance, ihre Produkte zu verbessern. Und mittels der Virtuellen Realität können sie die Ergebnisse nicht nur intuitiver interpretieren, sondern auch zusammen mit Nichttechnikern leichter diskutieren.
Die CBME-Spezialisten wollen so auch künftig eine Antwort auf die Frage finden, warum Stents in der Beinarterie durch das Beugen des Oberschenkels nach einiger Zeit brechen. „Niemand kann bislang genau erklären, warum das so ist“, fährt Silber fort. Deswegen simuliere man nun die Bewegung des kompletten Oberschenkels einschließlich des Stents.
Ein Problem sei dabei vor allem die Datenmenge: „Allein der Stent selbst besteht in der FE-Simulation schon aus 500 000 bis eine Million Elementen, dazu kommt dann der Oberschenkel – und schon platzt der Rechner.“ Vom Aufwand her lässt sich das durchaus mit Crash-Simulationen im Automobilbau vergleichen, wozu meist Hochleistungsrechner genutzt werden. „Schwierig ist es zudem, Stent und Arterie anschließend mit ausreichender Auflösung darzustellen“, so Silber weiter.
Dennoch haben die Forscher das Ziel vor Augen: Sie wollen die Rechnungen verfeinern und so zu besseren Stents kommen, die den hohen Belastungen in der Beinarterie gewachsen sind. „Besonders hilfreich ist uns bei der Diskussion mit anderen Disziplinen wiederum die Virtuelle Realität, da sie uns anschaulich zeigt, wie sich der Stent unter Belastung verhält“, so der Forscher.
Die Biomediziner und -techniker wollen zukünftig eine Reihe weiterer Fragestellungen in ähnlicher Weise bearbeiten. Immerhin können sie sich Hoffnung machen, in Hessen Mittel aus der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz – kurz Loewe – zu bekommen. Deren Ziel ist es, Wissenschaft, außeruniversitäre Forschung und Wirtschaft intensiver zu vernetzen. „Denkbar ist, dass sich auch Fragen der Zellmechanik, von Gefäß- oder Knieprothesen bis hin zu Zahnersatz in ähnlicher Weise behandeln lassen, was im Ergebnis zu konstruktiv besseren Produkten führt“, sagt Gerhard Silber. Und mit dem auf diese Weise immer detaillierteren digitalen Menschmodell lasse sich dann vielleicht ein virtueller Operationssaal abbilden. Auch dann werden sich die Wissenschaftler wieder an die Stuttgarter VR-Spezialisten wenden, zu deren Dienstleistungsportfolio auch die Integration in Gesamtprozesse und die Anbindung an vorhandene Systemlandschaften gehört – bis hin zur Online-Ankopplung von Simulationscode. „Angehende Chirurgen können dann in der Virtuellen Realität erste Erfahrungen sammeln“, so Silber abschließend. Denn neben den visuellen Eindrücken kann die VR-Technologie mit entsprechender Ausrüstung zunehmend auch haptische Eigenschaften vermitteln.
Michael Corban Fachjournalist in Nufringen
Weitere Informationen www.cbme-hessen.de ; www.visenso.de
Dekubitus bereits im Ansatz verhindern
Aufwendig wie eine Crash-Simulation

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