Die moderne Anästhesie begann mit der Sauerstoffflasche. Genauer mit einer Stahlflasche, die so stabil war, dass man Sauerstoff unter hohem Druck darin speichern konnte. In den 1880ern Jahren war es Technikern gelungen, handgeschmiedete Druckflaschen ohne Nähte zu fertigen – ohne Schwachstellen also, an denen die Behälter hätten reißen können. In den neuen Flaschen konnte man gut 1500 l Sauerstoff speichern. Zwar wogen sie gut 35 kg, doch arbeiteten sie mit immerhin 150 bar – etwa der Hälfte des Betriebsdrucks einer modernen Flasche für Hobbytaucher.
Der Weg zum Tropfapparat
Natürlich macht eine Sauerstoffflasche allein noch kein Anästhesiegerät. Es braucht Narkosegase, um den Patienten in den künstlichen Schlaf zu versetzen. Den entscheidenden Schritt in Richtung Anästhesiegerät ging damals der Lübecker Unternehmer Johann Heinrich Dräger, der seinerzeit die ersten Bierzapfanlagen mit Kohlendioxidflaschen fertigte.
Es ärgerte ihn, dass die üblichen Druckminderventile extrem unzuverlässig waren – sie schlugen Leck, und oftmals zischte das Gas unter hohem Druck heraus. Es war lebensgefährlich.
Dräger machte sich daran, ein Druckminderventil zu entwickeln, mit dem er gefahrlos und genau regulierbar Gas entnehmen konnte. Zusammen mit seinem Freund Otto Roth, dem Chirurgie-Oberarzt im Allgemeinen Krankenhaus Lübeck, entwickelte er daraus 1902 die „Tropfapparatur“ – ein Narkosegerät, bei dem man in den ausströmenden Sauerstoff wohl dosiert Äther eintropfen konnte.
Klassisches Prinzip, moderne Technik für die Anästhesie
Das alles ist mehr als 100 Jahre her. Die modernen Anästhesiegeräte haben nur noch wenig mit den Apparaten der Jahrhundertwende gemein, die mit ihren Druckanzeigen eher wie Industrieanlagen anmuteten.
Auch der ungesunde Äther oder das Chloroform sind verschwunden. Doch das Prinzip ist geblieben: Der Atemluft werden fein dosiert Narkosemittel zugeführt, die den künstlichen Schlaf während der Operation aufrechterhalten.
Die Kunst besteht darin, dem Patienten exakt so viel Narkosemittel zuzuführen, dass er schmerzfrei ist und sich die Muskulatur entspannt. Anästhesiespezialisten vergleichen die Narkose mit einer Flugreise: In der Startphase muss die Narkose schnell und sicher eingeleitet werden, amit der Patient problemlos in die Narkose hinübergleitet. Dann folgt die tiefe Narkose, der Reiseflug. Jetzt muss der Anästhesist dafür sorgen, dass alle Daten stimmen, dass die Gase richtig eingestellt sind, dass das Herz ruhig arbeitet, der Atemluft die richtige Menge Sauerstoff zugeführt wird. Dann folgt die Aufwachphase, in der die Narkosegaskonzentration und die Mixtur der Gase noch einmal geändert werden, so wie ein Pilot beim Landeanflug die Turbinen und Leitwerke steuert.
Rundumüberwachung durch das Narkosegerät
Narkosegeräte sind zugleich Atemgeräte, denn bei tiefen Narkosen setzt die Atmung des Patienten meist aus. Das Gerät unterstützt dann die Lunge bei der Arbeit. Heute überwachen Gassensoren permanent die Konzentration der Gase in der ein- und ausgeatmeten Luft, die Konzentration des Sauerstoffs. Parallel wird der Kreislauf des Patienten mit dem EKG überwacht, der Puls, der Blutdruck oder die Sauerstoffsättigung im Blut gemessen. In vielen Fällen leitet man heute eine Narkose ein, indem der Arzt dem Patienten über einen intravenösen Zugang ein Narkosemittel spritzt, zugleich stellt der Anästhesist die Narkosegase ein, damit der Patient nahtlos in die Flugphase der Narkose übergleiten kann.
Die Technologien sind heute ausgereift – und für die nächsten Jahre keine wesentlichen Sprünge zu erwarten. Die Optimierung der Anästhesiegeräte findet eher in kleineren Schritten statt. Insbesondere, was die automatisierte Gabe von Narkosemitteln angeht. Heute ist es vielfach noch so, dass Anästhesisten aufgrund ihrer Erfahrung, der Vitaldaten des Patienten und der Narkosegaskonzentration in der Atemluft die Narkose steuern – und entsprechend die Ventile mit den Narkosegasen öffnen oder schließen.
Inzwischen aber sind Dosierhilfen auf dem Markt, die diesen Vorgang steuern. Der Medizinproduktehersteller Maquet etwa bietet eine solche Automatisierung mit seinem Flow-I-Narkosegerät an. Mit der automatischen Gaskontrolle (AGC) wird zuerst ein Narkosemittel-Zielwert angegeben und dann entsprechend die Gabe der Mittel automatisch gefahren. AGC passt die Verabreichung des Narkosemittels automatisch an den Zustand des Patienten an und verringert damit das Risiko einer Unter- oder Überdosierung.
Livebild aus der Lunge während der Anästhesie
Ein Problem bei der künstlichen Beatmung der Lunge ist auch, dass sich meist nicht sicher beobachten lässt, inwieweit die Lunge tatsächlich belüftet wird. Das aber ist wichtig, um abzuschätzen, wie gut die Lunge mit Sauerstoff versorgt wird beziehungsweise wie gut sie die Narkosegase aufnimmt. Der Medizingerätespezialist Dräger hat deshalb mit dem Pulmovista ein relativ neues Verfahren auf den Markt gebracht, das auf der sogenannten Impedanztomografie beruht. Bei der Impedanzmessung wird das Körperinnere anhand der unterschiedlichen elektrischen Leitfähigkeiten der verschiedenen Gewebe dargestellt. Da die Lunge eine deutlich geringe Leitfähigkeit als umgebende Gewebe hat, lässt sie sich kontrastreich abbilden. Damit liefert die neue Technologie ein Livebild der Lungenbewegung – und auch jener Bereiche, die kaum durchlüftet werden.
Eines der größten Entwicklungspotenziale im Bereich der Anästhesie sieht Prof. Dr. Axel Heller vom Lehrstuhl für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an der Universität Augsburg in der Digitalisierung der Anästhesie: „Es geht hier vor allem darum, Patientendaten zu nutzen, um den Anästhesisten bei der Entscheidung zu unterstützen – weniger Bauchgefühl und mehr Objektivität.“
Axel Heller erinnert sich an seine Zeit als Assistenzarzt. Damals warnte ihn ein erfahrener Kollege vor einem bestimmten Narkosemittel. Es sei zu gefährlich. „Er muss damit schlechte Erfahrungen gemacht haben“, sagt Axel Heller. „Ich habe das Mittel aber über Jahre mit sehr großem Erfolg eingesetzt – vielleicht gerade, weil ich damit vorsichtig umgegangen bin. Aber das Beispiel zeigt, wie stark die Anästhesie doch von der Erfahrung und dem Vorwissen eines Mediziners beeinflusst sein kann.“
Maschinelles Lernen mithilfe pharmakologischer Modelle
Mehr Objektivität in diesem Sinne liefern neue Verfahren des maschinellen Lernens, die inzwischen entwickelt werden, sagt Heller. So gibt es erste Vorhersage-Werkzeuge, die sehr genau errechnen können, wann bei einem Patienten im Blut eine bestimmte Konzentration eines Narkosemittels erreicht sein wird. Grundlage sind mathematische pharmakologische Modelle. Sie ahmen den Transport von Substanzen im Blut und Gewebe nach. Auch dieses Hilfsmittel hilft dem Anästhesisten, die Dosierung der Mittel noch besser zu steuern.
Einen guten Anästhesisten macht aus, dass dieser vor allem dann weiß, was zu tun ist, wenn am Patienten plötzlich unvorhergesehene Veränderungen auftreten, wenn etwa der Blutdruck abfällt oder sich der Puls beschleunigt. „Ein guter Anästhesist antizipiert Probleme und mildert sie schon vorher ab“, sagt Axel Heller. „Dennoch wäre eine stärkere Digitalisierung eine große Hilfe.“
Verknüpfung von Patientendaten für eine sichere Narkose
Was die Anästhesie oder allgemein auch die Intensivmedizin betrifft, reiche das deutlich über die Narkosegeräte oder den Arbeitsplatz des Anästhesisten hinaus, sagt Axel Heller. „Für Anästhesisten sind zum Beispiel die Daten, die bei der Befragung des Patienten, der Anamnese, erhoben werden, extrem wichtig. Diese mit einem Anästhesiegerät zu verknüpfen, wäre geradezu ideal.“ Der Hinweis auf bestimmte Unverträglichkeiten von Wirkstoffen ist hilfreich. Oder das Wissen darüber, ob sich ein Patient während der Narkose leicht übergibt. Manche Narkosemittel können zu einer leichten Erhöhung des Drucks im Hirn führen – für Patienten, die schon einmal einen Schlaganfall hatten, ein Ausschlusskriterium. „Nicht immer erfahren wir vom Patienten während der Anamnese alle wichtigen Details, und in der Regel sind die Daten irgendwo in anderen Krankenhäusern oder bei niedergelassenen Ärzten verstreut. Diese zusammenzuführen und dem Anästhesiearbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, wäre absolut sinnvoll.“
Auszeichnung für ein digitales Frühwarnsystem
Axel Heller ist Anfang Mai von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin mit dem Heinrich-Dräger-Preis 2019 ausgezeichnet worden – für die Entwicklung und den erfolgreichen Einsatz eines digitalen Frühwarnsystems bei Risikopatienten. Hier geht es zwar weniger um Anästhesie, doch der Ansatz ist ähnlich. Die Messwerte des Patienten werden digitalisiert und von einer Software analysiert. Diese kann verdächtige Muster und Veränderungen bereits erkennen, ehe eine lebensbedrohliche Situation eingetreten ist. Auch hier liegt maschinelles Lernen zugrunde. Auch hier geht es um eine bessere Nutzung digitalisierter Daten.
Insofern überrascht es nicht, dass sich Axel Heller für die elektronische Gesundheitsakte und die umfassende Nutzung von Daten stark macht – natürlich bei gleichzeitiger Achtung der Privatheit. „Wäre es möglich, die Fülle von Patientendaten in ein Anästhesiesystem einzuspeisen, dann könnten die Parameter bei der Narkose perfekt an den Patienten und mögliche Risiken angepasst werden.“
Für Axel Heller ist es also keine Frage: Zwar können erfahrene Anästhesisten ihre Patienten heute Dank moderner Geräte sicherer denn je durch die Narkose führen, wie ein Pilot seine Passagiere zum Zielflughafen. Die Digitalisierung aber könnte der Anästhesie noch einmal einen Schub verleihen.