Vor allem durch den immer größeren Zeitdruck in Krankenhäusern gerät die Patientensicherheit zunehmend unter Druck. Eine große Hilfe wären umfassende, schnelle und mobile elektronische Patientenakten, so Professor Reiner Gradinger.
Prof. Gradinger, Sie haben auf dem gerade in Berlin abgehaltenen 127. Chirurgenkongress das Thema Sicherheit der Patienten durch weiterentwickelte Kommunikation zum Hauptthema gemacht. Welche Risiken bestehen denn derzeit für Patienten in Krankenhäusern?
Das Hauptrisiko in der heutigen Zeit ist die Geschwindigkeit. Wir haben einen sehr hohen Patientendurchsatz sowie wechselnde Ärzte- und Schwesternmannschaften. Da droht oft ein Informationsverlust, den wir mit Hilfsmitteln aus der IT versuchen zu beheben. Die Geschwindigkeit, die wir heute an den Tag legen, zum Beispiel unter Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes, bedeutet, dass wir sehr viele Mitarbeiter an Bord haben, die wir vielleicht noch einmal die Woche sehen. Außer auf der Führungsebene haben wir keine permanente Arztpräsenz mehr. Der Chef kann sich aber selbst in kleineren Kliniken nicht alles selbst erarbeiten und zusammensammeln.
Wie erfolgt die Informationsweitergabe bisher?
Es sind persönliche Übergaben – Wort zu Wort. Dabei geht manchmal etwas verloren. Einen kompletten Patienten darzustellen dauert eine Stunde; bei einer Übergabe hat man aber für eine ganze Station vielleicht eine halbe Stunde Zeit. Wir versuchen, das über Papier auszugleichen, indem Patientenlisten mit den aktuellsten Kurzinformationen zusammengeschrieben werden. Aber je häufiger etwas aufgeschrieben wird und je mehr Menschen das machen, desto mehr Fehler treten auf. Ich überprüfe diese Listen regelmäßig und finde praktisch bei jedem Patienten ein Fragezeichen. Das zeigt die Fehleranfälligkeit.
Wie versuchen Sie, diese Fehleranfälligkeit zu verringern?
Für die direkte Informationsweitergabe haben wir derzeit nichts anderes. Es gibt schon Systeme, mit denen man mit Laptop von Bett zu Bett geht. Doch die leiden daran, dass sie zu langsam sind. Vor allem bräuchten wir auch direkte Bildinformationen auf diesen Laptops. Das haben wir in der nahen Vergangenheit versucht, mit einer Firma zu beheben. Es stellte sich aber als zu komplex heraus. Die elektronische Gesamterfassung eines Patienten haben wir noch nicht erreicht, sprich alle seine Laborwerte, alle Befunde von Röntgenbildern und die Röntgenbilder selbst mit anderen Bildgebungen.
Was kann man jetzt schon tun, um die Patientensicherheit zu verbessern?
Wir können uns so weiter behelfen, wie bisher – oder besser IT-Systeme integrieren. Wir setzen bereits jetzt relativ viel Computer ein, aber Fehler lassen sich so noch nicht vermeiden. Das hat vor allem mit dem eingangs erwähnten Problem zu tun: Geschwindigkeit, Geschwindigkeit, Geschwindigkeit. Wir fahren mit dem VW-Käfer 350, bräuchten dafür aber einen Formel-Eins-Wagen mit allen Informationen, die diese Systeme haben, etwa automatische Warnsysteme. Es ist vor allem eine Geldfrage. Es gibt ja auch Programme für Medikamentenunverträglichkeiten. Auch so etwas müsste man einführen, haben wir aber nicht, weil es noch zu teuer ist.
Haben Sie selbst schon versucht, Lösungen zu erarbeiten?
Wir hatten ein Projekt mit Telekom, aber erstens war es zu teuer, und zweitens ließ sich die Gesamterfassung nicht umsetzen. Forschungsmäßig arbeiten wir mit Informatikern zusammen, um die Präzision zu verbessern. Wir haben eine eigene Forschungsgruppe, die sich virtuelle Medizin nennt. Sie beschäftigt sich mit virtuellen Darstellungen und versucht damit auch, die Operationsplanung zu verbessern. Da sind wir aber noch nicht im Zielgebiet angekommen. Hier im Klinikum haben wir die SAP-gestützte Computervernetzung von Arbeitsplätzen, um am Computer Bilder vom Patienten zu sehen. Aber mobil, für den stationären Einsatz gibt es keine Lösung, und das wäre für die Betreuung am Bett sehr wichtig, und um die Informationen mit dem Patienten in den OP nehmen zu können.
Sie sprachen von einem interdisziplinären Projekt bei Ihnen am Klinikum.
Zusammen mit unserem Rechenzentrum und einigen Firmen haben wir gerade sehr viel Mannzeit investiert, um die Systeme aller Kliniken miteinander zu verknüpfen. Das erleichtert es uns, Entscheidungen über die Behandlung von Patienten zu treffen, die interdisziplinär behandelt werden müssen, etwa bei Knochen-Weichteil-Sarkomen. Das SAP-System aber so anzupassen und umzuarbeiten, dass alle Daten eines Tumorfalls da drin sind, war extrem schwierig, und es ist noch fehleranfällig.
Ist dieses jetzt erarbeitete System denn übertragbar auf andere Kliniken?
Nein. Da wäre sicher ein Routineprogramm sinnvoll. Wir haben ein Vorzeigeprogramm Orthopädie gemacht, das jetzt für die anderen Tumorboards am Klinikum Rechts der Isar umgearbeitet werden muss, wieder mit externer Hilfe. Meiner Kenntnis nach gibt es keinen größeren Hersteller, der allgemein einsetzbare Module anbietet.
Das hört sich so an, als ob da noch viel Arbeit nötig wäre?
Ja. Die Systeme, die es bisher gibt, sind oft noch zu teuer und meist auch nicht komplett erfassend. Die Gespräche im Rahmen des 127. DGCH-Kongresses, etwa mit Professor Peter Haas von der Medizinischen Informatik an der Fachhochschule Dortmund, waren aber sehr vielversprechend.
Wie sieht es mit Trainingslabors für junge Chirurgen aus?
Für einzelne Fächer wie die Viszeralchirurgie gibt es diese — zum Beispiel für endoskopische Operationsverfahren. Sie sind zwar hervorragend einsetzbar, aber nicht so, dass wir sie zu vernünftigen Kosten überall nutzen können. Hier brauchen wir eine Auswertung – deutschlandweit. Andere Operationen müssen noch in diese Richtung weiterentwickelt werden, damit man sie auch naturgerecht üben kann. Den Einbau einer Endoprothese beispielsweise kann man nicht nur virtuell trainieren, die dafür nötigen Dummies gibt es noch nicht.
Ist die Operationsplanung mit derartigen Systemen nicht sehr zeitaufwendig?
Da muss man je nach Fachrichtung unterscheiden. Bei mir in der Orthopädie und Unfallchirurgie planen wir seit vielen Jahren, aber interessanterweise ist das bei weitem nicht überall der Fall. Es gibt sicherlich noch schwarze Flecken, aber die Planungskultur ist besser geworden, auch dank der verfügbaren Planungshilfen, wenn wir auch noch keine hundertprozentige Trefferquote haben. Moderne OP-Planungssysteme würden keinen extra Zeitaufwand bedeuten, sondern dabei helfen, alle Informationen zusammenzuführen.
Wo könnten Ihnen Hersteller von Medizinprodukten entgegenkommen?
Wo wir Unterstützung brauchen, ist besonders die Navigation. Navigierte Operationshilfe ist für mich ein sehr großes Thema – aber nicht für die Einfachoperationen. Wir brauchen ein System für die navigierte Resektion von Tumoren, um den Tumor so herausoperieren zu können, dass man möglichst schonend operiert, also Gewebe oder Nerven erhält, aber trotzdem die Tumorgrenzen einhält. Das ist ein schwieriges Kapitel.
Was müsste ein derartiges Navigations- hilfesystem leisten?
Wir bräuchten etwa einen Lichtstrahl, der einem die Resektionsränder zeigt, wo man hin muss. Man operiert ja Tumoren oft im Körper, wo man die Konturen gar nicht sehen kann. Hier sind wir nach wie vor auf den Tastsinn angewiesen. Daten gibt es genug dazu, die müssten nur superpositioniert und dann bei der OP projiziert werden.
Monika Corban Fachjournalistin in Rheinfelden
Virtuelle Medizin
Mit virtueller Medizin beschäftigt sich auch Peter Deuflhard, Präsident des Zuse-Institut Berlin und Professor an der Freien Universität Berlin. Ging es bei der Betrachtung von Gelenken bisher vorrangig um die Geometrie, „schauen wir uns nun die Dynamik an, bevor das Gelenk eingebaut ist,“ so Deuflhard. „Virtuell lassen wir die Menschen aufstehen, gehen, Treppen steigen. Da kommen Überraschungen raus. Unser Ziel ist eine Medizin für den individuellen Patienten, und dabei ist Mathematik unverzichtbar.“ Für derartige Studien suchen die Berliner übrigens noch Hersteller künstlicher Hüftgelenke zur Kooperation. In einem Projekt mit der Charité waren Mitarbeiter von Deuflhard an der Entwicklung einer Navigationshilfe für Lebertumor-Resektionen beteiligt. Die Methode lässt sich auch für andere Operationen modifizieren.
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