Herr Professor Pohlemann, Sie forschen in einem aktuellen Projekt an smarten und aktiven Implantaten. Welches Ziel haben Sie und Ihre Mitstreiter aus verschiedenen Fachrichtungen sich gesetzt?
Die Idee, Sensoren in Implantate zu integrieren, gibt es schon seit über 20 Jahren, und auch die Industrie arbeitet daran. Wir wollen aber gleich einen Schritt weitergehen und eine Vision umsetzen: Im Implantat sollen nicht nur Messdaten gesammelt werden. Vielmehr sollen diese gleich dazu dienen, den gebrochenen Knochen zu dem gewünschten Wachstum zu stimulieren. Ein mehr oder weniger steifes, also variables Implantat könnte die Belastungen so steuern, wie sie das Wachstum des Knochens am besten voranbringen. Das Implantat verändert sich also so, wie es der Patient braucht.
Welche Art Implantate entwickeln Sie im Projekt?
Wir haben uns zunächst Implantate vorgenommen, die nach Unterschenkelbrüchen eingesetzt werden. Das sind im wesentlichen Knochenschrauben, Osteosyntheseplatten und Marknägel, die bisher aus Titan oder dem Implantatestahl V4A hergestellt werden.
Wie bewerten Sie die heute schon verfügbaren Therapien für Knochenbrüche?
Bei der Behandlung von Knochenbrüchen haben wir sehr große Fortschritte gemacht. Ursprünglich ließ man solche Verletzungen ruhiggestellt ausheilen. Damit wurden aber auch mögliche Fehlstellungen fixiert. Mit der in den 50er-Jahren eingeführten operativen Behandlung ließen sich diese Probleme lösen, und auch der Einsatz standardisierter Implantate hat den Anteil folgenloser Heilungen erhöht. In den Fällen, in denen der Knochen großflächig freigelegt werden muss, gab es dann immer wieder Infektionen. Verbesserte Implantate, die minimal-invasiv eingesetzt werden können, haben auch hier geholfen. Heute verbleiben noch drei bis zehn Prozent der Patienten, bei denen es Heilungsstörungen gibt, die auf Infektionen zurückzuführen sind oder bei denen der Bruch im Knochen nicht ausreichend heilt. Hier gibt es noch Verbesserungspotenzial.
Was ließe sich mit smarten aktiven Implantaten erreichen?
Heute behandeln wir den Bruch und sehen den Patienten in festem Turnus nach einigen Wochen wieder. Wenn er keine Schmerzen hat und das Röntgenbild keine katastrophalen Veränderungen zeigt, geht er wieder nach Hause und lässt den Bruch weiter heilen. Wir haben keine Möglichkeit zu sehen, wie gut die Heilung vor allem in der ersten Zeit fortschreitet. Auf dem Röntgenbild wären die Veränderungen am Anfang noch gar nicht erkennbar. Genau da wäre aber ein guter Zeitpunkt, um eine zu langsame Heilung zu stimulieren. Zum Beispiel mit einem aktiven Implantat.
Wie soll das vonstattengehen?
Die Verbesserungen, die wir mit unseren Entwicklungen erreichen wollen, muss man sich als dreistufigen Prozess vorstellen. Der erste Schritt ist, einen Zusammenhang zwischen Heilung und dem Ausmaß an Belastung herzustellen. Solche Daten erheben wir derzeit mit sensorbestückten Sohlen, die die Patienten tragen. Daraus kann man im zweiten Schritt Modelle entwickeln, um einen Patienten anhand der Ergebnisse zu beraten und die optimalen Empfehlungen für die Belastung zu geben. Der letzte Schritt wäre dann ein Implantat, dass die Belastung misst und die eigenen Eigenschaften anhand von Modellen so verändert, dass für die Heilung ideale Bedingungen entstehen.
Welche aktive Rolle würden solche Implantate im Knochen übernehmen?
Wir planen, Implantate ganz oder teilweise aus Nickel-Titan-Legierungen herzustellen. Diese hätten die Möglichkeit, nicht nur Messwerte zu liefern, sondern auch ihre mechanische Eigenschaften zu verändern. Sie könnten weicher werden, um die Belastung des Knochens zu erhöhen – und umgekehrt härter, um die Frakturstelle zu entlasten. Wenn ein Patient den Knochen nicht ausreichend belastet, könnte sich ein Implantat auch unabhängig von den Bewegungen des Patienten im Millimeterbereich ausdehnen oder zusammenziehen, um den Knochen zu belasten und damit zum Wachstum anzuregen.
Würde der Patient etwas von den Bewegungen des Implantats bemerken?
Es geht dabei wirklich um winzige Veränderungen, denn es darf den Zellen im umgebenden Gewebe ja kein Schaden zugefügt werden. Der Patient würde von diesen Veränderungen vermutlich nichts merken – oder nicht mehr als das, was man beim Aufstehen fühlt, wenn sich Knochen gegeneinander bewegen. Wenn sich ein Patient nicht ausreichend oder auch zu viel bewegt hat, könnte er über eine App auch eine entsprechende Meldung bekommen.
Wie lange würden solche Implantate nach der Heilung im Körper bleiben?
Herkömmliche Implantate verbleiben heute zumeist im Körper, wenn sie den Patienten nicht einschränken. Eine Ausnahme sind Kinder. Damit sie uneingeschränkt wachsen können, werden hier Knochenplatten oder Marknägel wieder entfernt, sobald die Heilung abgeschlossen ist. Smarte Implantate, die wir entwickeln, enthalten aber zusätzliche elektronische Bauteile. Daher würde man sie wohl wieder entfernen – zumindest so lange, bis es genug Erfahrungen mit diesem neuen Typus gibt.
Wann könnten solche Implantate eventuell einsatzbereit sein?
Wir haben Fördermittel für sechs Jahre bewilligt bekommen. Bis dahin wollen wir einen Demonstrator vorliegen haben, der die Voraussetzungen für ein Großtierexperiment erfüllt. Wir wollen die Entwicklungen in der Folge natürlich bis zur Marktreife bringen und denken, dass ein noch zu gründendes Start-up die klinischen Studien begleiten kann. Bis ein Produkt am Markt verfügbar wäre, vergehen nach Projektende aber sicher mindestens zehn Jahre.
Wie teuer wären die Implantate, verglichen mit heute üblichen Therapien?
In der Entwicklungsphase sind die Kosten jenseits aller Größenordnungen, die für eine Regelversorgung in Frage kämen. Für ein Serienprodukt sähe das schon anders aus. Und man muss bedenken, dass ein normal heilender Bruch das Gesundheitssystem mit einigen tausend Euro belastet, bei einem Fall mit Heilungsstörungen die Aufwendungen aber leicht in die Hunderttausende gehen können. Dann wird ein Implantat, das die Heilung verbessert, für das Gesundheitssystem interessant.
Für welche Patienten wäre so eine Versorgung sinnvoll?
Im Falle schwerer Verletzungen würden sich Anwendungen ergeben. Bei uns geht die Zahl der schweren Verletzungen im Straßenverkehr, die einen hohen Anteil an den in der Unfallchirurgie behandelten Fällen ausmachen, immer weiter zurück. In anderen Ländern hingegen, vor allem in Schwellenländern, steigt diese Zahl aufgrund des zunehmenden Verkehrs stark, und hier wären aktive Implantate hilfreich.
Welche Rolle übernehmen Implantathersteller derzeit in dem Projekt?
In unserem interdisziplinär angelegten Projekt sind nur Partner aus der Forschung beteiligt. Wir verfolgen einen sehr visionären Ansatz. Aus Sicht eines Investors wäre er mit hohen finanziellen Risiken verbunden – und in solchen Fällen ist die Industrie meist sehr zurückhaltend. Daher sind wir sehr froh, in der Werner-Siemens-Stiftung einen Geldgeber gefunden zu haben, der unsere Hoffnung teilt, dass die Arbeiten zu smarten Implantaten zu einem sinnvollen Ergebnis führen werden. Auf alle Fälle hat der intensive Austausch zwischen Medizinern und Technik-Fachleuten schon viele neue Anstöße gebracht.
Könnten auch herkömmliche Implantate quasi „nachträglich“ smart werden?
Mit dieser Frage beschäftigen wir uns derzeit sehr intensiv. Die Anatomie des Knochens gibt den Rahmen vor, in dem wir uns bewegen können – und der ist für die herkömmlichen wie für die von uns bearbeiteten Implantate der gleiche. Wir sehen aber eventuell auch medizinische Gründe, die dafür sprechen könnten, es mit neuen Formen von Implantaten zu versuchen.
Mit dem Gesetz zur Errichtung eines deutschen Implantatregisters EIRD sind die Weichen für eine strukturierte Erfassung der Daten zu implantierten Medizinprodukten gestellt. Was könnten smarte Implantate eines Tages an Informationen für so ein Register liefern?
Register sind ein sehr guter Ansatz, um die Versorgung zu verbessern. Wenn wir Messreihen mit Heilungsdaten zusammen zur Verfügung stellen, werden uns die Methoden des Machine Learning ermöglichen, Patienten individuell angepasst zu versorgen und die Ursachen für Heilungsstörungen besser zu erkennen.
(Bild: stockdevil/stock.adobe.com)
Verbundprojekt für neuartige Implantate
Mediziner, Materialforscher, Ingenieure und Informatiker der Universität des Saarlandes forschen daran, patientenindividuelle Implantate auf den Knochen maßzuschneidern. Neuartige Materialien sollen komplizierte Brüche schneller und besser heilen lassen. Das Team um
- Prof. Tim Pohlemann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie des Universitätsklinikums des Saarlandes, arbeitet auf dem Gebiet der
- Technischen Mechanik eng zusammen mit dem Ingenieur Prof. Stefan Diebels und dessen Arbeitsgruppe,
- mit dem Informatiker Prof. Philipp Slusallek und seinem Team an der Uni und am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) sowie mit den
- Spezialisten für intelligente Materialsysteme um Prof. Stefan Seelecke an der Uni und am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema).
Die Werner-Siemens-Stiftung investiert acht Millionen Euro in das Verbundprojekt. Die Stiftung finanziert die Startphase innovativer Projekte, aus denen industriell nutzbare Ergebnisse entstehen können.
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Universität des Saarlandes
Campus
66123 Saarbrücken
Unfallchirurgie/Prof. Pohlemann