Herr Professor Woiczinski, ein Implantat ersetzt ein geschädigtes oder zerstörtes Gelenk. Wie nah kommt man mit heutigen Implantaten an die Funktion des gesunden Gelenks?
Wenn man das an der Zufriedenheit der Patienten festmachen möchte, würde ich sagen, es sieht schon ziemlich gut aus – und in den vergangenen Jahren haben die Hersteller viele Details an den Implantaten verbessert. Bei Hüftprothesen zum Beispiel sehen wir in 95 Prozent der Fälle Standzeiten von 15 Jahren und mehr. Betrachten wir als Beispiel aber auch das Kniegelenk: Rund 80 Prozent der Patienten sind nach der Operation zufrieden. Was aber nicht etwa heißt, dass ein Fünftel der Implantate wieder entfernt werden müssten. Die Standzeiten sind auch hier sehr gut, so dass wir uns fragen müssen, warum Patienten unzufrieden sind. Naheliegend ist, dass die veränderte Weichteilsituation nach der Implantatversorgung irritiert. Es ist tatsächlich so, dass die Bewegung mit Implantat im Vergleich zu dem Zustand vor einer Arthroseerkrankung etwas anders abläuft. Das Implantat –vor allem bei einer Vollendoprothese, wenn auch die Bänder ersetzt werden – führt die Bewegung etwas anders, als man das von früher gewohnt war.
Was lässt sich daran verbessern?
Je besser die Endoprothese zum Individuum passt, desto zufriedener wird der Patient nach dem Eingriff sein. Damit meine ich noch nicht, dass für jeden Patienten ein auf ihn abgestimmtes Implantat eigens angefertigt wird. Das ist zwar technisch möglich, aber sehr aufwendig und natürlich auch teuer. Was wir jedoch tun können, ist, den Auswahlprozess zu optimieren. Es gibt ja eine Reihe von Implantatvariationen von verschiedenen Herstellern. Je mehr ich vor der OP über den Patienten weiß, desto besser lässt sich entscheiden, welche Endoprothese passt.
Welche Informationen zum Patienten werden für die Auswahl gebraucht?
Eine Bewegungsanalyse vor der OP liefert wichtige Erkenntnisse für die Implantatauswahl. Allerdings sind unsere Möglichkeiten dafür bisher eingeschränkt. Systeme mit Kameras zum Beispiel erfordern eine Untersuchung von rund 45 Minuten. Das ist mehr, als eine Klinik für jeden einzelnen Patienten leisten könnte. Wünschenswert wäre eine Dauer von höchstens einer Viertelstunde. Ein weiterer Punkt ist, dass die Kamera Messpunktmarkierungen auf der Haut erfasst. Eigentlich wollen wir aber etwas über den knöchernen Bewegungsablauf wissen. Hier könnten uns ultraschallbasierte Verfahren eventuell weiterhelfen – und an so etwas arbeiten wir aktuell auch schon.
Wie könnte so ein System aussehen?
Naheliegend ist der Einsatz mobiler Geräte. Bei diesen wird der Ultraschall-Kopf normalerweise von Hand geführt. Für eine Untersuchung der Bewegung am Knie müssten wir den Kopf aber so am Gelenk fixieren, dass er nicht verrutscht und wir für die Messung auch wissen, aus welcher Richtung der Ultraschall auf die Knochen trifft. Es gibt schon Veröffentlichungen zu pflasterähnlichen Lösungen, also Ultraschall-Patches. Da sich das Material an das Knie schmiegt, ist das Richtungsproblem damit noch nicht gelöst. Aber der Ansatz ist vielversprechend und könnte uns bis zum Smart Gate Lab bringen – also einer Einrichtung, die in 15 Minuten den Patienten scannt und die Daten für die Auswahl eines passenden Implantates liefert. Wir sprechen da von Phänotypisierung. Und für die Zukunft werden uns vermutlich Machine Learning und KI bei dieser Auswahl unterstützen können.
Gibt es denn theoretisch so etwas wie das perfekte Implantat?
Woran würden wir die Perfektion messen wollen? Ich kann natürlich 1000 Patienten untersuchen und dann ein Implantat entwickeln, das genau dem Mittelwert entspricht. Für die Mehrzahl der Patienten bringt das aber nichts, denn jeder einzelne weicht mit seinen individuellen Werten vom Mittelwert ab. Sinnvoller ist daher die möglichst individuelle Auswahl anhand von Messdaten – und ich denke, dass sich damit die Zufriedenheit der Patienten bereits deutlich steigern ließe. Und in manchen Fällen kann man sogar über eine teilindividuelle Prothese nachdenken.
Welcher Teil einer Prothese ließe sich individuell anpassen?
Das lässt sich am Beispiel des Kniegelenks gut erklären. In Deutschland ist es üblich, die Kniescheibe des Patienten zu belassen und den dortigen Knorpel nicht mit einem PE-Inlay zu ersetzen. Wenn man das Knie bewegt, braucht die Kniescheibe aber ausreichend Platz, weshalb in den Knochen in Ober- und Unterschenkel eine Gleitrinne für die Kniescheibe ausgeformt ist, die Trochlea. Wird ein Implantat gebraucht, könnte es sinnvoll sein, Standardlösungen zu verwenden, aber ein Detail – die Trochlea in der Endoprothese – an die individuelle Kniescheibe anzupassen. Damit wollen wir experimentieren und haben dafür in einen 3D-Drucker investiert, der aus Metallpulver die entsprechenden Bauteile fertigen kann.
Welchen Einfluss haben die Mediziner und der Gesundheitszustand des Patienten auf das Ergebnis nach der OP?
Wie die Daten aus dem Endoprothesenregister Deutschland zeigen, sind die Ergebnisse in den Kliniken besser, wenn Gelenk-Operationen dort häufig durchgeführt werden und die Mediziner auf viel Erfahrung zurückgreifen können. Die Gesundheit des Patienten spielt ebenfalls eine Rolle, genauso wie sein Verhalten nach der OP. Schulungen vor dem Eingriff und das Begleiten und Beobachten danach sind wichtig.
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Was können die Implantathersteller zu besseren Ergebnissen beitragen?
Probleme der Vergangenheit wie Materialverschleiß bei bestimmten Werkstoff-Kombinationen sind inzwischen gelöst, das trägt zur heute guten Gesamtsituation bei. Es gibt aber noch Ansatzpunkte für Verbesserungen. Denkbar wären zum Beispiel ergänzende Apps, die Patienten über ihr Implantat und den Umgang damit informieren. Oder Sensoren in Einlegesohlen, die den Gang des Patienten nach der OP erfassen und auch nach der stationären Reha über eine App medizinische oder physiotherapeutische Tipps geben, welche Übungen bei dem aktuell vorhandenen Gangbild sinnvoll wären.
Wie sieht es mit Biomaterialien aus?
In unserer Abteilung beschäftigen wir uns nicht mit reinem Tissue Engineering von Knorpelzellen, sondern eher mit der technischen Seite des Gelenkersatzes. Aber auch da sind biologische Aspekte interessant. Ich denke da an Beschichtungen von Implantaten oder innovative Materialien, die im Falle einer Infektion aktiviert werden können und Bakterien zurückdrängen – oder an die biologische Reaktion individueller Patienten auf Polyethylenverschleiß.
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Was wünschen sich Mediziner von Endoprothesen oder Instrumenten?
Für die Mediziner ist es wichtig, dass Fortschritt dazu führt, dass Patienten auf Jahre hinaus gut versorgt werden können. Dafür darf unsere Forschung nicht auf das Labor beschränkt bleiben, sondern soll in der Klinik anwendbar sein. Daher sind bei unseren Besprechungen immer sowohl Ingenieure als auch Ärzte anwesend. Ein Punkt, der auffällt, ist der Wunsch nach Lösungen, die einen möglichst einfachen Operationsablauf ermöglichen. Das Implantat und die zugehörigen Instrumente müssen also im OP gut anzuwenden sein. Um das zu erreichen, müssen Mediziner und Ingenieure auf Augenhöhe miteinander sprechen.
Welche Perspektiven sehen Sie für die nächsten Jahre für den Bereich der Endoprothetik?
Derzeit ist mein Eindruck, dass die Vorgaben der europäischen Medical Device Regulation vor allem bei den großen Implantatherstellern dazu führen, dass die Entwicklungsaktivitäten aus Europa abwandern. Bei kleineren Unternehmen, die stärker hier verwurzelt sind, ist das noch nicht der Fall. Damit das so bleibt, würde ich mir wünschen, dass es für die Projekte für Forschung und Entwicklung im muskuloskelettalen Bereich mehr öffentliche Mittel gäbe, die in Gemeinschaftsprojekten eine Teilförderung für Unternehmen ermöglichen. Was an Projekten in Kooperation mit Unternehmen alles machbar ist, habe ich in der kurzen Zeit hier in Jena schon gesehen – und das sollten wir unbedingt fortsetzen.
Weitere Informationen
Der Forschungsbereich Experimentelle Orthopädie gehört zur Medizinischen Fakultät der Universität Jena und ist an den Waldkliniken in Eisenberg angesiedelt. Die Waldkliniken Eisenberg und die Orthopädische Rehaklinik sind Teil des Deutschen Zentrums für Orthopädie.