Humanoide Roboter, E-Health oder Telemedizin sind die großen Themen, wenn es um Technik und Digitalisierung in der Pflege geht. Sie müssen diskutiert werden, sagt Pflegeexperte Prof. Steve Strupeit. Doch sieht er viel Potenzial in kleinen Dingen.
Herr Professor Strupeit, was sind die größten Herausforderungen in der Pflege?
Die aktuellen Szenarien zur demographischen Entwicklung sagen: Wir werden in den kommenden Jahren mehr Pflegebedürftige haben und immer weniger Kräfte, die sich um diese kümmern. Die Zahl der Menschen mit chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, Diabetes, Herz-Kreislauf-Problemen oder auch Tumoren steigt, und die Patienten werden länger als heute auf Hilfe angewiesen sein. Und viele von ihnen werden im ländlichen Raum zu versorgen sein. Für diese Gesamtsituation müssen wir Versorgungskonzepte mit Hilfe der Technik bereitstellen, die wir ethisch für vertretbar halten.
Welche Rolle sollten oder könnten Digitalisierung und Technik vor diesem Hintergrund in der Pflege spielen?
Wenn wir an Technik im größeren Rahmen denken – an humanoide Roboter oder automatisierte Hilfsmittel in der Umgebung des Pflegebedürftigen – hängt deren mögliche Rolle vor allem von der Akzeptanz ab. Und zwar sowohl bei den Pflegebedürftigen selbst als auch beim Pflegepersonal oder den pflegenden Angehörigen im Umfeld. Im europäischen Kulturkreis wird sicherlich am ehesten akzeptiert, wenn der Technik Aufgaben wie die Reinigung oder der Transport von Gegenständen übertragen werden. Bei körpernahen Tätigkeiten herrscht ganz deutlich Skepsis vor. Doch die Diskussion über diese Themen läuft ja noch.
Welche Chancen bietet die Technik, über die es sich nachzudenken lohnt?
Es gibt Projekte mit humanoiden Robotern, die in Asien erfolgreich sind. Ich denke da an die Roboter-Robbe Paro, die auf Berührungen und Ansprache reagiert, also einen Teil der Gefühlsarbeit übernimmt. Das kann bei bestimmten Pflegebedürftigen helfen, das Fühlen und Tasten oder die Sinne im Allgemeinen zu stimulieren. Auch wenn das für hiesige Verhältnisse sehr gewöhnungsbedürftig klingt, bieten sich hier Chancen. Vielleicht müsste man die Idee für Europa auch etwas anpassen, indem man zum Beispiel statt einer Robbe eine Teddy-Figur entwickelt – die den Menschen vertrauter ist.
Welche Ansätze sind über Roboter hinaus interessant?
An vielen Stellen wären technische Details für die Arbeit der Pflegenden eine große Hilfe. Ein Beispiel dafür ist eine Inhalationsmaske für Kleinkinder, in die der Hersteller einen Schnuller integriert hat. Da steht nicht mal die Technik im Vordergrund, sondern die gute Idee – und in der Praxis wurde diese Maske zum Teil als das beste neu eingeführte Produkt seit Jahrzehnten gelobt. Nützlich wäre auch so etwas wie eine Schnabeltasse mit integriertem Thermometer, die erkennen lässt, wann der Inhalt die richtige Temperatur zum Trinken erreicht hat. Wobei das übergeordnete Thema lautet: Welche Technik hilft, den menschlichen Arbeitsprozess so zu verbessern, dass das Pflegepersonal mehr Zeit bekommt, um die Pflegebedürftigen persönlich anzusprechen.
Wie kommen wir am ehesten zu Produkten, die diesen Bedürfnissen entsprechen?
Ich würde mir wünschen, dass die Produkte passender zu den tatsächlichen Anforderungen des Pflegealltags entwickelt würden. Anwendungsorientierte Studien könnten den Herstellern helfen, diese Lücken zu erkennen und gut zu füllen. In der Praxis wünschenswert wäre zum Beispiel auch ein Anti-Dekubitus-System, das den lokalen Druck anzeigt. Über die Entstehung des Dekubitus und die wirksamsten Gegenmaßnahmen wissen wir immer noch zu wenig. Aber vielleicht ist es einfacher, Roboter zu bauen, als solche Ansätze zu verfolgen.
Welche Möglichkeiten bietet die Digitalisierung?
Sie sollte dafür sorgen, in der Pflege möglichst wenig Zeit für Organisatorisches zu verwenden, in dem sie zum Beispiel die Dokumentation vereinfacht. Natürlich geht es hier im größeren Kontext um Telemedizin und E-Health. Verbesserungen sind aber auch durch weiterentwickelte Hilfsmittel zu erzielen. Denken Sie an den Hausnotruf, den wir heute schon haben. Vielleicht ließe sich dieser durch eine Kamera ergänzen, die im Notfall sofort ein Bild mitliefert, ohne dass erst jemand in die Wohnung kommen muss, um nachzuschauen, welche Art von Hilfe gerade erforderlich ist. Und in den kommenden Jahren werden wir sicherlich auch von den Entwicklungen in Richtung Smart Home profitieren.
Werden denn für die Pflege spezielle Produkte gebraucht?
Nicht unbedingt. Es gibt heute, um nur ein Beispiel zu nennen, schon Lösungen mit CO2-Sensoren, die bei Bedarf automatisch das Fenster zum Lüften öffnen. So etwas können wir in Zukunft viel stärker im Pflegebereich nutzen. Zum einen deshalb, weil sich Menschen, die heute im mittleren Alter sind, allmählich daran gewöhnen und die technische Unterstützung dann auch im höheren Alter nutzen. Zum anderen werden solche technischen Raffinessen in vielleicht 20 Jahren viel weiter verbreitet sein als heute, wo wir die Lösungen zwar in Show-Rooms bestaunen, aber nicht einmal Einrichtungen zur stationären Pflege auf dem aktuellen technischen Stand sind.
In wieweit wird der Mensch in diesem Umfeld zu einem verwalteten Objekt?
Die Diskussion darüber muss geführt werden und wird auch geführt. Nur müssen wir uns auch fragen, wie wir bei extremem Personalmangel mit Pflegebedürftigen umgehen können und wollen. Wir sollten eine Antwort darauf haben, was zu tun ist, wenn es zwar wünschenswert ist, manche körpernahe Tätigkeit von Menschen ausführen zu lassen, aber kein Mensch zu finden ist, der sie übernimmt. Wobei es nicht soweit gehen wird, dass die Technik den Menschen ersetzt und der Pflegebedürftige damit allein bleibt – es wird immer jemanden geben müssen, der sie bedient.
Was kann sich in der Pflege in den nächsten fünf, was in den nächsten 25 Jahren ändern?
Für die nächsten fünf Jahre erwarte ich keine Meilensteine. Bis in 25 Jahren werden sich aber viele Dinge verändert haben: Dann werden wir mehr Roboter und technische Geräte in der Pflege finden. Wir werden auch Computer und mobile Geräte weiter nutzen, um das Pflegepersonal zu entlasten und weiterzubilden und auch die Pflegebedürftigen mit Angeboten aus dem Bereich des Smart Home anzusprechen. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass Zuwanderungsphänomene alle bisherigen demographischen Prognosen aushebeln könnten und die Zukunft vielleicht ganz anders aussieht.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen An der TU München hat der Arbeitskreis Medizintechnik & Life Science Electronic eine Vortragsreihe zu Digitalisierung und Technik in der Pflege ins Leben gerufen, die bis in den November 2016 läuft. http://bit.ly/21DlC48
Ihr Stichwort
- Rolle humanoider Roboter
- Inhalationsmaske mit Schnuller
- Temperaturmessung in der Tasse
- Druckmessung bei Anti-Dekubitus-Therapie
- Entlastung des Pflegepersonals
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