Noch ist Medizin 4.0 eine Vision. Manche erhoffen sich davon eine bessere Versorgung der Patienten, andere fürchten den Verlust menschlicher Ansprache. Prof. Dr. med. Gernot Marx erläutert, warum er digitale Lösungen für unverzichtbar hält und wie sie entwickelt werden sollten.
Herr Professor Marx, im Gesundheitsbereich fallen derzeit häufig Begriffe wie Telemedizin, e-Health, Big Data und Medizin 4.0. Wie differenzieren Sie diese Schlagworte im medizinischen Umfeld?
Telemedizin, e-Health und Big Data sind Themen, die wir heute diskutieren und die zum Teil schon in die Praxis umgesetzt werden. Medizin 4.0 schließt all das ein, geht aber noch viel weiter. Denn wenn wir davon reden, die Kommunikationstechnik für die Medizin stärker zu nutzen, werden wir dafür auch Technologien einbinden, die heute vielleicht gerade im Entstehen sind oder sogar erst in Zukunft entwickelt werden.
Der Begriff Medizin 4.0 betont Parallelen zwischen dem Gesundheitswesen und der stärkeren IT-Vernetzung in der Produktion. Wie gut lassen sich die industriellen Überlegungen übertragen?
Sie lassen sich übertragen, müssen aber angepasst werden. Es geht ganz sicher nicht darum, sich als Ziel eine menschenleere Station oder einen menschenleeren OP vorzustellen. Abgesehen davon, dass sich das niemand wünscht, sind die Menschen, die wir behandeln, alle so individuell, dass eine Automatisierung im industriellen Sinn gar nicht praktikabel wäre. Aber wir können umgekehrt moderne digitale Techniken nutzen, um unsere Behandlung so weit wie möglich zu individualisieren. Zum Beispiel existieren in Deutschland sehr umfangreiche und gut struktuierte Patientendatenbanken, aus denen wir mit Hilfe der Big-Data-Analyse Erkenntnisse gewinnen können. Und das, was wir unter Medizin 4.0 zusammenfassen, sollte es uns auch ermöglichen, den hohen Versorgungsstandard, den wir derzeit haben, trotz des demographischen Wandels in Zukunft aufrechtzuerhalten – oder die Behandlung an vielen Stellen sogar noch zu verbessern. Das schließt unter anderem die Robotik ein, aber eben nicht als Ersatz, sondern als Assistenz für medizinisches Personal. Das gesamte Materialtransportwesen im Krankenhaus oder die Versorgung mit Sterilgut sind aber Bereiche, in denen wir von der klassischen Automatisierung mehr profitieren könnten.
Wo tauchen heute schon Anklänge an Medizin 4.0 in Ihrem Umfeld auf?
Ein gutes Beispiel, das auch zeigt, dass wir es immer mit einer fließenden Entwicklung zu tun haben, sind vielleicht die Röntgenbilder. Als junger Arzt habe ich Mappen durchs Krankenhaus getragen und Bilder zusammengesucht. Vor etwa zehn Jahren hatten wir nur einen Rechner auf der Station, dessen Kapazität ausreichte, um die digitalen Bilder zu betrachten. Heute stehen die Daten praktisch an jedem Bett zur Verfügung, und die Qualität der Darstellung wird immer besser. In weiteren zehn Jahren habe ich vielleicht funktionelle Bildgebung, die heute noch ein Forschungsthema ist, bei mir auf der Station – oder sogar noch mehr.
Welche Vorteile bietet die zunehmende Vernetzung für Patienten und Mediziner?
Ein Vorteil ist, dass alle Daten überall zur Verfügung stehen. Der Patient sammelt seine eigenen Daten, hat sie bei jeder Behandlung dabei und kann alles anschauen. Das wird üblicherweise mit dem Begriff ‚patient empowerment‘ umschrieben. Ein weiteres Beispiel ist die Telemedizin. Damit können wir universitäre Spitzenmedizin auch in ländlichen Gegenden bieten, ohne den Patienten von der Intensivstation in ein anderes Haus zu verlegen.
Was müsste sich IT-technisch oder auch im Klinikumfeld tun?
Um in Zukunft wirklich von Medizin 4.0 sprechen zu können, werden wir ein technisch weiterentwickeltes Umfeld brauchen. Wir haben zum Beispiel heute im OP, wo auch Bluetooth eingesetzt werden könnte, noch zu viele Kabel. Wir müssen das Schnittstellenproblem lösen und mehr Interoperabilität erreichen. Im OP, innerhalb der Station und erst recht zwischen den Krankenhäusern und Arztpraxen. Wobei das technisch sicher schon möglich wäre – aber die Technik noch nicht im medizinischen Bereich angekommen ist. Mindestens genauso wichtig ist eine standardisierte elektronische Patientenakte. Hierzu gibt es Bemühungen, aber die Idee ist bisher noch nicht ausreichend akzeptiert.
Was wäre für mehr Akzeptanz erforderlich?
Wenn wir diesen Weg weiter gehen wollen, dürfen wir uns nicht allein von der Technik leiten lassen. Wir sollten nur umsetzen, was tatsächlich einen – das möchte ich betonen– zusätzlichen Nutzen für die Behandlung bringt. Und wir brauchen die Sozialwissenschaften, um zu erfahren, wie Menschen die zur Verfügung stehende Technik nutzen oder gern nutzen würden. Dabei sollten mögliche Probleme diskutiert werden, denn nur so kommen wir zu Akzeptanz. Dieser Aspekt wird bisher allerdings oft noch zu wenig berücksichtigt.
Womit müssen sich die Hersteller von Medizingeräten befassen?
Mit der Gebrauchstauglichkeit ihrer Geräte, die einfach und intuitiv zu nutzen sein sollten, aber vor allem mit der Interoperabilität. Für die Medizintechnik ist das der entscheidende Punkt – und es gibt ja schon einige Projekte, in denen das auch thematisiert wird.
Wer treibt die Entwicklung derzeit am stärksten voran?
Es gibt eine ganze Reihe von Stakeholdern. In der Politik zeigen zum Beispiel IT-Gipfel und e-Health-Gesetz, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass wir aktiv werden müssen. Als Verbände gehen vor allem der Bitkom und der BVITG voran, und in der Industrie gibt es einige große Unternehmen, die sich intensiv um das Thema kümmern. Unter den Ärzten stehen Einige der Sache eher konservativ gegenüber. Es gibt aber genügend Aufgeschlossene, die die medizinischen Belange in die Diskussion mit einbringen. Letztlich müssen aber alle Beteiligten zusammen an einen Tisch, wenn wir Erfolg haben wollen – die Technik darf nicht Selbstzweck sein.
Sie haben 2015 ein Expertengespräch mit Fachleuten aus Medizin, Kommunikationswissenschaften und Politik initiiert, um Zukunftsvisionen zu formulieren und bestehende Ansätze zu diskutieren. Wo besteht der größte Diskussionsbedarf?
Wir müssen festlegen, was gebraucht wird, was davon gewollt ist und was sich umsetzen lässt. So soll eine Roadmap entwickelt werden, die festhält, was an Forschung oder auch Aus- und Weiterbildung erforderlich ist, wie wir die Akzeptanz verbessern können und wie wir Telemedizin und Big Data nutzen können, um tatsächlich zu Innovationen für die Medizin zu kommen. An den letztgenannten Themen arbeiten wir in Aachen gerade und bauen Kooperationen auf. Für 2016 ist ein weiteres Treffen geplant.
In der Industrie zeigt eine Studie, dass einzelne Länder sowohl technisch als auch von der Einstellung der handelnden Personen her unterschiedlich gut positioniert sind, um stärker vernetzt zu arbeiten. Wie ist die Situation im Gesundheitswesen?
In den Vereinigten Staaten gibt es Hot Spots, die in einigen Bereichen schon sehr viel weiter sind als wir zum Beispiel hier in Deutschland. Das lässt sich aber nicht verallgemeinern, denn in anderen Dingen sind wir schon in einer sehr guten Position oder sogar weiter als die Amerikaner. Japan und Korea wiederum sind sowohl von der Einstellung der Menschen als auch technologisch sehr weit gekommen. Da bieten sich Gelegenheiten, um sich im Rahmen von Kooperationen für die weiteren Entwicklungen inspirieren zu lassen.
Welche Perspektiven sehen Sie für das Thema Medizin 4.0 für die nächsten fünf bis zehn Jahre?
Wir werden sicher sehr viel mehr Telemedizin nutzen als heute, und die digitale Medizin wird dazu beitragen, Patienten ambulant wie auch stationär besser behandeln zu können. Wie schnell die Entwicklung voranschreitet, ist heute noch nicht zu sagen. Aber ich bin mir sicher, dass Medizin 4.0 kommen wird und für die Patienten mehr Nutzen bringt.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über die Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care: www.operative-intensivmedizin.de Über das Telemedizinzentrum Aachen: http://telemed.ac
Lösung der Schnittstellenproblematik muss der nächste Schritt sein
Studie zur Digital-Strategie in Kliniken
Nur 28 % der deutschen Krankenhäuser besitzen bereits eine umfassende Strategie, wie sie den Herausforderungen der digitalen Transformation in der Gesundheitswirtschaft begegnen wollen. Weitere 46 % der Kliniken haben sich immerhin mit Einzelprojekten auf den Weg zur Medizin 4.0 gemacht. Das sind Ergebnisse der Studie „Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft“, die im September 2015 auf dem 11. Gesundheitswirtschaftskongress in Hamburg vorgestellt wurde.
Von der elektronischen Patientenakte bis hin zum OP-Roboter – die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft erreicht auch die Medizin. „Wie unsere Untersuchung zeigt, wird das Thema Digitalisierung in den Kliniken zwar vor allem durch die Geschäftsführung vorangetrieben“, sagt Dr. Peter Windeck, Studienleiter und Geschäftsführer von Rochus Mummert Healthcare Consulting. „Aber auch die medizinischen Führungskräfte agieren schon häufig als digitale Treiber“, erläutert der Studienleiter, „meist sogar stärker als ihre Kollegen aus der IT-Abteilung.“ In privaten Kliniken mache sich die Ärzteschaft dabei überdurchschnittlich für die Medizin 4.0 stark.
Das Engagement der kaufmännischen und medizinischen Führungskräfte bleibt nicht ohne Wirkung. So wird sich laut Studie die Quote der Kliniken mit einer unternehmensübergreifenden Digital-Strategie innerhalb der nächsten fünf Jahre auf 56 % verdoppeln. „Dennoch ist die Digitalisierung der Kliniken kein Selbstläufer“, so Krankenhaus-Experte Windeck. „Die von uns befragten Klinik-Manager verweisen hier vor allem auf fehlende finanzielle Ressourcen sowie eine immer noch in vielen Kliniken anzutreffende allgemeine Angst vor Veränderungen. Die Digitalisierung der Medizin ist also nicht nur eine technologische, sondern auch eine Führungs-Herausforderung.“
„Medizin 4.0 steckt noch in den Kinderschuhen“, sagt Prof. Heinz Lohmann, Präsident des Gesundheitswirtschaftskongresses und wissenschaftlicher Begleiter der Studie. Die Kliniken müssten jetzt mit „Siebenmeilenstiefeln“ den Vorsprung anderer Wirtschaftsbereiche bei der Nutzung moderner Informationstechnologien aufholen. Häufig seien es bisher nicht die tradierten Gesundheitsanbieter, die die Digitalisierung vorantrieben, sondern vor allem Branchenfremde auf den Gesundheitsmärkten – und diese könnten die Krankenhäuser „links und rechts überholen“. Der 11. Gesundheitswirtschaftskongress habe viele Ideen und Konzepte diskutiert, die es gelte, zügig in den Alltag der Kliniken zu integrieren.
Für die Rochus-Mummert-Studie „Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft“ wurden im August/September 2015 mittels einer Online-Umfrage 310 Führungskräfte an deutschen Krankenhäusern befragt. Die Teilnehmer der Studie haben vor allem Positionen in der Geschäftsführung oder andere leitende Funktionen. Zu den befragten Krankenhäusern gehören Kliniken in öffentlicher, frei-gemeinnütziger sowie in privater Trägerschaft.
Die Studie wurde in Kooperation mit dem 11. Gesundheitswirtschaftskongress durchgeführt, der im September in Hamburg stattfand.
Ihr Stichwort
- Ziele der Digitalisierung
- Patientennutzen
- Sozialwissenschaften einbeziehen
- Inspirationen aus Japan und Korea
- Interoperabilität von Medizingeräten
Unsere Webinar-Empfehlung
Erfahren Sie, was sich in der Medizintechnik-Branche derzeit im Bereich 3D-Druck, Digitalisierung & Automatisierung sowie beim Thema Nachhaltigkeit tut.
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